F. Heinzer u.a. (Hrsg.): Hermann der Lahme

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Titel
Hermann der Lahme. Reichenauer Mönch und Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts


Autor(en)
Heinzer, Felix; Zotz, Thomas; Schmit, Hans-Peter
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B 208
Erschienen
Stuttgart 2016: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Ulrich Büttner, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bremen

Unter den Gelehrten des Mittelalters nimmt Hermann von Reichenau eine besondere Stellung ein. Sie gründet sich einerseits auf die große Breite seines Schaffens und andererseits auf seine persönliche Situation. Aufgrund der biographischen Würdigung, mit der sein Schüler Berthold die Fortsetzung seiner Chronik beginnt, wird die Wahrnehmung Hermanns vor allem seit dem 19. Jahrhundert durch jenes contractus bestimmt. So haftet vielen Darstellungen zu Leben und Werk des Reichenauer Mönches ein „dennoch“ oder „trotzdem“ an, doch dazu später.

Der vorliegende Band versammelt 15 Untersuchungen, die im Kern auf die Vorträge einer Weingartner Tagung zur 1000jährigen Wiederkehr von Hermanns Geburt 2013 zurückgehen und um einzelne Beiträge ergänzt wurden. In vier Sektionen versucht die Sammlung, das Leben und das vielgestaltige Werk Hermanns zur Geschichtsschreibung, der Musik, der geistlichen Dichtung und Komposition, den Rechenkünsten und der Kalenderberechnung auf einen neuen Stand der Forschung zu bringen. Dabei wurden Vertreter unterschiedlicher Disziplinen eingeladen, so, wie die Werke Hermanns es erfordern: darunter Historiker, Mittellateiner, Kunst-, Musik- und Mathematikhistoriker. Wer sich zunächst einen Überblick über die Person, ihr Wirken und diesen Band verschaffen möchte, der beginne mit dem abschließenden Versuch einer Bilanz. Hier fasst Steffen Patzold konzise und treffsicher die Erträge der Forschung zusammen und benennt die noch offenen Punkte oder unsicheren Erkenntnisse als Ausgangspunkt für die zukünftige Beschäftigung. Deren Grundlagen müssen teilweise erst noch gelegt werden. Mehrere Werke warten auf ihre Edition oder Neuedition, nicht zuletzt Hermanns Chronik von den sechs Weltaltern.

Über Hermanns Leben gibt es kaum Neues zu berichten, die Quellen sind bekannt (Sektion I). Thomas Zotz und Helmut Maurer beleuchten in umfangreichem Quellenstudium sein familiäres und monastisches Umfeld. Immerhin waren sowohl für die Familie Hermanns wie für die Reichenau die erste Hälfte des 11. Jahrhunderts eine sehr bewegte Zeit. Walter Berschin allerdings beschäftigt sich in einem knappen Einwurf von gerade fünf Seiten (ohne Fußnoten nur die Hälfte!) zur bisherigen Forschung mit drei wichtigen biographischen Fragen: ab wann war Hermann „behindert“, wo ging er zu Schule, und: wurde er zum Priester geweiht? Trocken fegt er vielfach umgewälzte Annahmen beiseite: Über Hermanns körperlichen Zustand ist im Grunde nichts Valides zu sagen, so beredt die Quellen scheinen (die beiden Viten seiner Schüler Berthold von Reichenau und Heinrich von Weißenburg), so wenig sagen sie aus. Es ist nicht einmal möglich zu bestimmen, wann Hermanns Krankheit begann (das ab ineunte aetate, mit dem Berthold seine Vita einleitet, kann von Geburt, von Kindheit oder von Jugend an bedeuten). Dann bezweifelt Berschin die Ausbildung auf der Reichenau (S. 22) wegen des Konfliktes der Familie mit dem Kloster (worin ihm Patzold widerspricht, S. 327) und macht schließlich aus der Priesterweihe mit guten Argumenten eine einfache Mönchsweihe.

Nicht mit der „Behinderung“ Hermanns, sondern mit der Frage nach einem möglichen „gemeinsamen Grundmuster für das Konzept einer mit Körperdefizienz verbundenen Autorschaft“ (S. 57) beschäftigt sich Felix Heinzer. Ausgangspunkt ist das „elaborierte Spiel mit Oppositionen“ in Bertholds biographischen Notizen, wo er vor allem den homo exterior (den kranken und körperlich eingeschränkten) vom homo interior (dem über große geistige Fähigkeiten verfügenden) scheidet. Neben Hermann untersucht Heinzer Walafried Strabo und Notker Balbulus, beide aus dem 9. Jahrhundert. Die Überlegungen, so erhellend sie im Einzelnen sind, runden sich nicht ganz, denn während Walafried und Notker eine durchaus bejahende Einstellung zu ihren körperlichen Einschränkungen in ihren Texten erkennen lassen (und selbst damit spielen), findet sich in den Texten Hermanns kein einziger Hinweis auf seine Krankheit, obwohl sein umfangreiches Werk genügend Möglichkeiten geboten hätte. Viel eher findet sich bei ihm nur eine postume Zuschreibungstradition, wie es sie später auch bei Notker gegeben hat. Hermanns Nachleben im Bild verfolgt Wolfgang Augustyn (mit gutem Tafeln) und auch hier wird das contractus erst in der Neuzeit zu einem Attribut, allerdings nicht als Illustration der Beschreibung durch Berthold, sondern lediglich durch einen beigestellten Krückstock. Hermann wurde im Bild zu einer Projektionsfläche, die seine Biographie zwar voraussetzte (oder vielmehr seine Werke), aber mit seinem Leben nichts zu tun hatten. Zusammenfassen ließe sich die biographische Sektion vielleicht dahingehend, dass Hermann vor allem nachträglich in den Beschreibungen seiner Schüler Berthold und Heinrich zum „Behinderten“ wird und sehr viel später durch die Forschung. Ihm selbst war es wichtig, seine Familie und Verwandtschaft in die Geschichte einzuschreiben, wie Thomas Zotz herausarbeitet, ihre Frömmigkeit hervorzukehren (auch wenige eigene Daten wie Geburtstag und Schuleintritt), nicht aber seinen eigenen körperlichen Zustand.

In den zehn Aufsätzen, die sich mit den Werken Hermanns auseinandersetzen (Sektion II–IV) wird immer wieder deutlich, wie sehr er auf fremde Vorlagen aufgebaut hat, dabei seine Vorliebe für Zahlen und Rhythmik aber immer zu erkennen ist. Und dies nicht nur in seinen explizit komputistischen oder mathematischen Schriften. Akribisch arbeitet Hans-Werner Goetz aus der Chronik heraus, wie wichtig Hermann die Chronologie und Zeitrechnung bei der Darstellung der Vergangenheit ist. Egal ob Regierungsantritt, Todesfälle, Naturerscheinungen oder Katastrophen, wenn irgend möglich, werden sie genau datiert und der Geschichte ein solides chronologisches Gerüst verliehen. Dass Hermann nicht nur ein gewandter Verseschmied war, der in seiner Morallehre immerhin 20 verschiedene klassische Metren verwandte, zeigt Bernhard Hollinck in der Analyse des Gedichts „Über die acht Hauptlaster“ (eigentlich: Opusculum Herimanni). Hermann wollte mit den Inhalten seiner Vorlagen (in Prosa) umgesetzt in Reimform nicht nur als Dichter glänzen, sondern hatte genaue theologische Vorstellungen, hier ausgehend vom Verhältnis von Körper, Seele und Gott, die er in ein virtuoses Gewand kleidete. Er konstruierte ein Abhängigkeitsverhältnis von Körper und Seele, das von innen nach außen verläuft, und war dabei weit weniger körperfeindlich eingestellt als manche Vorgänger oder Zeitgenossen. Der Körper (der homo exterior) könne unter den Lastern wie Wollust und Völlerei leiden und damit auch die Seele (homo interior) beschädigen (S. 212). Es sei aber vor allem die superbia, die Hoffahrt, das Hauptlaster, das die Seele verletze, die anderen Laster nach sich ziehe und den Verfall des Körpers bewirke (S. 211). Seiner eigenen, diesem Werk zugrunde gelegten Anthropologie zufolge, dürfte Hermann sich sicher nicht als „behindert“ (eine Vorstellung, die es im Mittelalter nicht gab) oder körperlich beeinträchtigt begriffen haben.

Mit dem Musiker Hermann beschäftigt sich Michael Klaper. Anders als noch ältere Darstellungen meinen, ist Hermann ein Neuerer unter mehreren, wenn er seine Offizientexte vertonte. Aber er hat ein sehr eigenes Profil, denn er verlangt größere Tonumfänge als üblich, liebt große Sprünge in der Melodieführung sowohl nach oben und wie nach unten und nimmt damit einen Stil vorweg, der sich erst im 12. Jahrhundert durchsetzen wird (S. 236). Größeren Ruhm dürfte Hermann durch seine komputistischen, astronomischen und mathematischen Schriften erlangt haben. Diese untersuchen Menso Folkerts (über das Zahlenkampfspiel – Rithmomachie), Martin Hellmann (über den Abakus und die Rechenlehre), David Juste (über den Astrolab) und Immo Warntjes (über die Komputistik). Zusammenfassend zeigt sich auch hier, wie originell und schöpferisch Hermann mit den Vorarbeiten anderer umgegangen ist. Seine Tabellen für die Berechnung von Brüchen, die mit römischen Zahlen kaum zu bewerkstelligen war, haben die Rechnerei immerhin graduell erleichtert und seinen Ruhm als Abazisten im Mittelalter begründet (S. 271). Selbst wenn Hermann nur schnell hingeworfene Notizen zurückgelassen hat, wie in seinem Text zur Rithmomachie, sind seine Ausführungen klarer, vollständiger und weiterführender als es seine Vorlage war (S. 254f).

Insgesamt zeigen die Beiträge dieses Bandes, wie sehr Hermann ein Gelehrter des Mittelalters war, der Vorgefundenes strukturiert, präzisiert, verbessert und gelegentlich weitergeführt, aber nicht vollständig Neues geschaffen hat. Er war, wie Immo Warntjes es formuliert, ein „Eckstein zwischen der alten und der neuen Gelehrsamkeit“, zwischen den traditionellen, aus der Antike stammenden Disziplinen und den neuen, arabisch geprägten angewandten Wissenschaften (S. 287). Der vorliegende Band bietet einen beeindruckenden neuen Forschungsstand besonders zu den Arbeiten Hermanns von Reichenau, illustriert mit hochwertigen Tafeln, ergänzt mit Tabellen, Notenbeispielen und Schaubildern; und ganz nebenbei liefert er auch etliche Argumente dafür, in Zukunft auf den altbackenen Beinamen „der Lahme“ zu verzichten. Der homo interior, der innere Mensch, um auf Felix Heinzer und damit auf Berthold und schließlich auf Hermann selbst zurückzukommen, war alles andere als „lahm“. Dies zeigt dieser Band überdeutlich. Und über den homo exterior, den äußeren Menschen, können wir nicht viel sagen, brauchen es vielleicht auch gar nicht.

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