Cover
Titel
Die Royal Air Force und der Luftkrieg 1922–1945. Personelle, kognitive und konzeptionelle Kontinuitäten und Entwicklungen


Autor(en)
Böhm, Martin
Reihe
Krieg in der Geschichte 91
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
391 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Hoffmann, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz / Haus der Geschichte Österreich

Der strategische Bombenkrieg der Westalliierten gegen das nationalsozialistische Deutsche Reich zählt zu jenen Themenbereichen des Zweiten Weltkrieges, die bis heute kontrovers und emotional diskutiert werden. Wie stark dabei vor allem im deutschsprachigen Raum opferzentrierte Betrachtungen sowie moralisch-ethische Fragestellungen dominieren, verdeutlicht nicht zuletzt die Anfang der 2000er-Jahre einsetzende Debatte rund um die umstrittene, von Jörg Friedrich verfasste Publikation „Der Brand“1. In der sofort einsetzenden Kritik wurde das vorhandene Bild des Bombenkrieges reflektiert und problematisiert, basierend auch auf der Erkenntnis, dass die Luftkriegsforschung bislang nahezu ausschließlich national geprägt war. So fächerte sich ein Wissenschaftsfeld auf, in das erste sozial- und kulturhistorische aber auch transnationale Ansätze mit neuen Frage- und Themenstellungen integriert wurden.2

In dieses Feld – gleichsam ein Konglomerat aus gesellschaftlichen Erinnerungskonflikten, national dominierten Opferbetrachtungen und neuen wissenschaftlichen Ansätzen – stößt nun die Publikation von Martin Böhm vor, die 2014 an der Universität Potsdam als Dissertation eingereicht wurde. Der Autor bringt dabei einen sehr interessanten Ansatz ein, der zwar in der englischsprachigen Scientific Community schon länger ausführlich diskutiert wird,3 in der deutschen Forschungslandschaft jedoch durchweg als neu erscheint. Unter dem Titel „Die Royal Air Force und der Luftkrieg 1922 bis 1945“ bespricht Böhm die ideelle und konzeptionelle Entwicklung der Luftkriegsführung Großbritanniens vom Ende des Ersten Weltkrieges bis hin zum strategischen Bombenkrieg gegen das Deutsche Reich. Dies geschieht vor dem Hintergrund der Ausformung spezifischer Kriegsvorstellungen und -legitimierungen sowie deren Transport anhand personeller Kontinuitäten innerhalb der Royal Air Force (RAF). Inhaltlich spannt Böhm dabei einen weiten Bogen, indem er das militärische Engagement Großbritanniens im Irak ab 1922 als Ausgangspunkt heranzieht, dieses mit dem Aufbau und der Ausrichtung der RAF verknüpft, und die daraus entstehenden Luftkriegskonzepte als entscheidende Basis des strategischen Luftkrieges im Zweiten Weltkrieg definiert. Die Kampferfahrung britischer Piloten gegen kurdische und irakische Stämme formte spezifische Vorstellungen aus, die das junge Offizierskorps der RAF nachhaltig prägten. Böhm stellt dabei die These auf, dass diese Erfahrungen und Vorstellungen wie auch das Konzept des „Moral Bombings“ unkritisch, unreflektiert und positiv konnotiert weitergegeben und schließlich gefestigt wurden und so die entscheidende Basis für die spätere britische Luftkriegsführung bildeten (S. 12). In der konkreten Fragestellung, wie die Erfahrungen des Irakkrieges den strategischen Bombenkrieg prägten (S. 10), spiegelt sich eine komparative Herangehensweise, da Böhm zwei weit auseinanderliegende Phasen zusammenbringt und über personelle Kontinuitäten vergleichbar macht. Dieser Ansatz hat durchaus seinen Reiz, wenngleich der Autor diesen Aspekt etwas zu dominant in den Vordergrund stellt.

Die Publikation selbst ist, neben Einleitung (1. Kapitel) und Schluss (5. Kapitel), in drei große Hauptkapitel gegliedert, die unterschiedliche Themenbereiche beleuchten. Die „Ausgangslage“ (S. 31) stellt dabei eine Hinführung zum eigentlichen Thema dar. Böhm diskutiert hier die Entwicklung der RAF, ihrer Doktrin, ihrer Rolle als militärische Kraft in den britischen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg, ihren Überlebenskampf innerhalb der britischen Streitkräfte bis hin zum Aufbau des Bomber Commands als Träger des strategischen Luftkrieges vor allem auf Basis der reichhaltig vorhandenen englischsprachigen Literatur. Dieser mit 126 Seiten, auch im Vergleich zu den anderen Kapiteln, sehr starke Abschnitt stellt einen sehr guten Überblick dar, liefert jedoch wenig Neues. Böhm geht dabei konform mit zahlreichen Autorinnen und Autoren, die in der Ausrichtung der frühen RAF die Spiegelung der Krise des britischen Empire nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sehen. Gerade die Ausformung einer „Air Control“ sowie der Methode des „Air Policing“ zur Ausübung und gewaltsamen Durchsetzung von Herrschaft in kolonialen Kontexten entsprach damaligen Vorstellungen und erzeugte nachhaltige Wahrnehmungen – jedoch keineswegs nur in Großbritannien.

Das dritte Kapitel widmet sich „Kognitionen“ (S. 158) und untersucht die Generierung derselben im Rahmen der Luftangriffe im Irak, der Konsolidierung und Tradierung nach 1933 und der unmittelbaren Umsetzung im Zweiten Weltkrieg. Kernpunkt der Betrachtungen ist dabei der „Moral Effect“ von Bombenangriffen, der sich in der intendierten Demoralisierung der Bevölkerung niederschlug; ein Konzept, das – so der Autor – vom Irak direkt auf das Deutsche Reich umgelegt wurde (S. 270ff.). Böhm leitet die Entstehung und Festigung von Kognitionen dabei einerseits aus einer Auswahl von Ego-Dokumenten der Protagonisten und andererseits aus Nieder- und Vorschriften ab, die als Basis der Ausbildung innerhalb der RAF eine Festigung erfuhren. Diese Erkenntnis ist zweifelsohne spannend, wenngleich die Quellenbasis gerade mit Blick auf Ego-Dokumente hier vielschichtiger sein müsste, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass die Auswahl der Quellen der These angepasst wurde.

Das vierte Kapitel weißt sodann, unter dem Titel „personelle und kognitive Verbindungen“ (S. 264), eine kollektivbiografische Herangehensweise auf, indem Personen ausgewählt wurden, die die Entstehung der britischen Bombenkriegsführung entscheidend mitformten – allen voran Arthur Harris. Böhm zeichnet dabei nach, in welchem Ausmaß die ehemaligen „Irakkämpfer“ in den wichtigsten Schlüsselpositionen des Air Ministry, der RAF respektive des Bomber Command vertreten waren, und wie sie deren Ausrichtung mitprägten. Der Autor analysiert dabei, wie sich aus den Vorstellungen des „Air Policing“ im Irak das „Moral Bombing“ über dem Deutschen Reich entwickelte – und argumentiert dies über kognitive Dissonanzen, Shared Illusions/Groupthink, die eine Kritik von außen nicht zuließen, und letztlich einem ausgeprägten britischen Elitedenken (S. 317ff.). Böhm greift dabei mit der sogenannten Charlton-Affäre (S. 211ff.) auch den äußerst spannenden Aspekt einer internen Kritik über die Art und Weise der Luftkriegsführung (im Irak) auf. Hier wäre mehr Tiefe durchaus wünschenswert gewesen, verweist doch diese in den Kommunikationskanälen der RAF belassene Kritik auf Diskussions- und Aushandlungsprozesse. Ein Abgehen vom kollektivbiografischen Ansatz und die Betrachtung persönlicher Erinnerungen und Wahrnehmungen hätte hier sicherlich interessante Ergebnisse zutage gefördert.

Böhm zeichnet in seiner Publikation einen direkten Zusammenhang zwischen den Erfahrungen des Irakkrieges ab 1922 und der Ausführung des britischen Bombenkrieges im Zweiten Weltkrieg nach. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse, dass die „Terrorisierung“ einer als „halb-zivilisiert“ angesehenen Bevölkerung nahtlos auf das Deutsche Reich umgelegt wurde, und der strategische Bombenkrieg eine Fortsetzung des „Air Policing“ im größeren Maßstab sei (S. 352f.), überzeugen nicht gänzlich. Der Autor betont dabei die Erfahrungen des Irakkrieges oftmals zu stark und erweckt damit den Eindruck, dies sei die alleinige Basis der Vorstellungen von der Wirkungsweise von Bombenangriffen, der Entwicklung der britischen Luftkriegsdoktrin sowie der inneren Ausrichtung der RAF. Zwar war die frühe Prägung des Offizierskorps für die RAF wohl ein wichtiger Punkt bei der Ausformung des Bombenkrieges, jedoch bei Weitem nicht der einzige. Hier wären ebenfalls Entwicklungen zu thematisieren, die parallel zu den britischen Erfahrungen verliefen, und dazu führten, dass sich in der Zwischenkriegszeit Horrorszenarien eines kommenden Luftkrieges ausformten, und infolge dessen etwa der zivile Luftschutz in Europa große Bedeutung erhielt. Vergleiche mit anderen Ländern bzw. ein transnationaler Ansatz, den Böhm zwar postuliert (S. 9), mit der großteils alleinigen Betrachtung der britischen Entwicklungen allerdings nicht umsetzt, hätten hier weitergeführt. An einzelnen Stellen wäre auch ein kritischerer Umgang mit Begrifflichkeiten wünschenswert gewesen. So verweist schon Dietmar Süß auf die Gefährlichkeit des Begriffs „Moral“, der zeitgenössischen Vorstellungen entsprach.4 Dass also der „Wille der Bevölkerung“ (S. 63) unter den Bombenangriffen nicht brach, ist nicht nur eine verallgemeinernde Behauptung, sondern auch wissenschaftlich infrage zu stellen. Auch die Erörterung, dass die US-amerikanischen „Präzisionsbombardements“ unter anderem auf Grundeinstellungen zurückzuführen seien, die schon Trapper zutage legten, die aus „hundert Meter Entfernung ein Eichhörnchen aus dem Baum“ (S. 155) schossen, ist eher befremdlich. Insgesamt ist das Buch ein gutes Grundlagenwerk, das vieles über die Entstehung von Kriegsvorstellungen offenlegt, die der Autor deutlich herausarbeitet. Es ist sehr gut zu lesen, ist klar gegliedert, in einer analytischen Form geschrieben und basiert auf einem breiten Quellenkorpus aus britischen Archiven, schlägt bisweilen jedoch inhaltlich etwas über die Stränge.

Anmerkungen:
1 Siehe: Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, Berlin 2002.
2 Dazu u.a.: Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und England, München 2011.
3 Als Beispiele: David E. Omissi, Air Power and Colonial Control. The Royal Air Force, 1919–1939, New York 1990; Yuki Tanaka, British “Humane Bombing” in Iraq During the Interwar Era, in: Yuki Tanaka / Marilyn B. Young (Hrsg.), Bombing Civilians. A Twentieth-Century History, New York 2009, S. 8–30.
4 Dazu ausführlich: Süß, Tod, S. 55ff.