H. Cymorek: von Below & die dt. Geschichtswissenschaft

Titel
Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900.


Autor(en)
Cymorek, Hans
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Beihefte 142
Erschienen
Stuttgart 1998: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus-Peter Sommer, Institut für Wissenschaftsgeschichte der Georg-August Universität

Keine Wissenschaftsgeschichte ohne Philosophie

Zu Cymoreks Biographie des Historikers Georg von Below

Unter den früheren deutschen Historikern gibt es viele, die einem heute beträchtlich unsympathisch sind: Flotten-, kolonien- und militärbegeisterte, unbedingte Bismarck- und Preußenfans, Siegfriedens- und Dolchstoß-Propagandisten, xenophobe Chauvinisten, Hasser von Sozialisten, Liberalen, Juden und Frauen. All das traf auf Georg von Below (1858-1927) zu. Mit seiner Autobiographie in den beiden 1925/26 von Sigfrid Steinberg herausgegebenen Sammelbänden "Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen" fügte er den vielen schlechten Diensten, die er sich mit seinen Publikationen erwiesen hatte, noch einen weiteren hinzu: Nicht nur ist es selbstverliebt die zweitlängste der 14, sondern mit seinen kaum kaschierten Ressentiments die mit Abstand unsympathischste - seine Ansichten über die Verwaltung der Universitäten seit der Revolution von 1918 seien so radikal, daß ihm das nach dem Mord an Rathenau erlassene sog. "Republik-Schutzgesetz" verbiete, "darüber heute ein ganz freies Wort zu sagen" (S. 44).

Diesem 'Ekelpaket' eine Biographie zu widmen, mag daher verwundern - daß jemand in der Lage war, sich mit ihm so lange und intensiv zu beschäftigen und dann seine Arbeit sogar abzuschliessen, ist allerdings bewundernswert. Doch gibt es auch Gründe, Below zu portraitieren. Einerseits inhaltliche: "In meiner gesamten wissenschaftlichen Praxis [hatte ich] ein Hauptaugenmerk auf die Stellung des Staates gerichtet" (Below, Selbstdarstellung, S. 44). Private Initiative von Einzelnen, Adeligen, Städten, Zünften, Gilden etc. galten ihm nichts, immer suchte er nach dem "Staat", nach staatlichem Anteil, Einfluß, Auftrag, mithin Legitimation von oben - selbst das Mittelalter nach den Staufern meinte er "gegen den Vorwurf, keine staatliche Verfassung gehabt zu haben", verteidigen zu müssen (ebd.). Kaum ein Historiker war so regelrecht besessen vom "Staat" wie er, der ihm idée fixe war, Fetisch wurde. Ob dieser Extremismus Belows, dieser extreme Etatismus, der die Vergangenheit zu einer Zeit vergewaltigte, als andere, z.B. Otto von Gierke mit seiner Theorie der Genossenschaften, schon klare Alternativen aufgezeigt hatten, mehr als bloß ein privater Tick war und welche Folgen er in der deutschen Geschichtswissenschaft hatte, würde man gerne wissen.

Und dann gibt es noch mehr äußerliche Gründe, sich für Below zu interessieren: Suchte man immer nur Lichtgestalten, müßte man sehr viele der deutschen Historiker unberücksichtigt lassen. Da man dann aber gewiß nicht verstehen wird, wie der Betrieb funktionierte und aussah, wäre damit niemandem auf die Dauer gedient. Einen Haifisch unter vielen Hechten und wenigen Karpfen zu portraitieren, könnte hier manches aufklären. Doch leider ist das nicht das wirkliche Anliegen dieser bei Rüdiger vom Bruch entstandenen Dissertation. Dann hätte z.B. das merkwürdige Phänomen, daß sich wohl kaum ein deutscher Historiker so viel selbst besprochen hat und so viele andere mit seinen Rezensionen regelrecht zu 'vernichten' bestrebt war, dann hätten seine Gutachten in Berufungsverfahren etc. gewiß eine weit größere Berücksichtigung erfahren, als es hier geschieht.

Der Chance, aus seinem Gegenstand Kapital für die Erkenntnis zu schlagen, wie die deutsche Geschichtswissenschaft um die Jahrhundertwende tatsächlich funktionierte, wie sie "verfaßt" war, beraubt sich Cymorek aber auch ein wenig durch eine etwas altertümliche Konzeption. Das Grundproblem biographischer Arbeit ist ihm, den richtigen Weg zwischen den Polen "Individualität" und "Repräsentanz" zu finden: "Isoliert der Biograph seinen 'Helden' allzu entschieden", so wird er leicht, wie Cymorek sehr zu recht bemerkt, zum Hagiographen, zum Verfasser einer Heiligen-Vita, "integriert er ihn dagegen in ein vielfiguriges Tableau von Mitspielern [...], dann droht der Gegenstand des Interesses verloren zu gehen" (S. 313).

Das wäre richtig, wenn es wirklich nur darum ginge, ob jemand etwas Individuelles an sich hat oder bloß Repräsentant für anderes ist. Will man aber wissen, wie ein Verein, ein Betrieb funktioniert, dann kann man die Mitspieler des Spiels gar nicht klar genug zeichnen. Und um so plastischer sie hervortreten, um so unverkennbarer sind sie, um so interessanter auch jeder, ob er nun sympathisch oder unsympathisch ist. Wäre es Cymorek um derartiges gegangen, hätte er sich m.E. seine Befürchtungen ersparen können. Im übrigen kann man in einer biographischen Arbeit die Frage nach "Individualität" oder "Repräsentanz" gar nicht so ohne weiteres klären. Hier führt kaum ein Weg an einer Erhebung jener Gesamtheit und an Auszählungen vorbei, verglichen zu der sich ein Individuum als mehr oder weniger repräsentativ erweisen soll - wie sie z.B. Ursula Wolf in "Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie" (Stuttgart 1996) für Historiker der NS-Zeit leistete.

Dennoch ist Cymorek ein fulminantes Buch gelungen. Zu dem Thema mag er u.a. dadurch gekommen sein, daß er auch Rechtsgeschichte studierte und in Göttingen bei Hartmut Boockmann seinen Magister erwarb. Als Schüler Hermann Heimpels war Boockmann Enkelschüler Georg von Belows - und Boockmann mag sich als eher konservativer Ostpreuße und Spätmittelalter-, Stadt- und Verfassungshistoriker in manchem bei Below wiedergefunden haben. Ein weiterer Reiz mag darin bestanden haben, daß dieser, wie Werner Sombart sagte, "erbärmliche Wicht" Georg von Below (Cymorek S. 312)außerhalb konservativer Kreise eine so unbekannte Größe war, daß O. G. Oexle ihn fast 'wiederentdeckte' (in dem von Notker Hammerstein 1988 herausgegebenen Band "Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900", S. 283-312). Oexle brachte das Bild, das 1961 auch schon Ernst Wolfgang Böckenförde gezeichnet hatte, auf einen klaren Nenner: "Below, der vollendete Repräsentant [der] 'Sklerose' in der deutschen Geschichtswissenschaft der ersten Hälfte" des 20. Jahrhunderts (Cymorek S. 17, zu Böckenförde ebd. S. 14). So ausgewogen auch Oexles Darstellung war, Cymorek muß gemeint haben, Below habe eine eingehendere Würdigung verdient.

Gänzlich uninteressant ist Below ja auch wirklich nicht. So ist es spannend, daß dieser Konservative sich anders als viele seiner Historiker-Kollegen intensiv mit "Nachbardisziplinen" wie der Nationalökonomie und der Soziologie befaßte. Boockmann erschien er gar als (deutscher) "Großvater der Annales" (Boockmann, Der Historiker Hermann Heimpel, Göttingen 1990, S. 13 bzw. Cymorek S. 17). Damit scheint er in hervorragender Weise zu dem Streit zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften um die Jahrhundertwende beizutragen, scheint man bei ihm manchen Aufschluß über den Stand und die 'Verfassung' der 'Kulturwissenschaften' dieser Zeit erhalten zu können. "In einer auf Below konzentrierten Fallstudie" sieht Cymorek auch gerade deswegen "Chancen" für "ein möglichst adäquates Erfassen der nach wie vor unübersichtlichen, facettenreichen Situation der Kulturwissenschaften - und eben auch der Geschichtswissenschaft - um 1900" (S. 18). Doch auch wenn er zu diesem Thema und den anderen von Oexle angesprochenen Themen beitragen will, so will er doch primär den "Bannkreis schablonenhafter Bewertungen ein wenig auf[]brechen" (S. 17).

Doch das Konzept, besonders Aufschlußreiches, Aussagekräftiges im Rahmen eines Jahrhundert-Disputs zu finden, "Repräsentatives und Unkonventionelles in Person und Forschungsleistung zu orten, [...] die Beharrungskraft des 'Alten' und das Einsickern des 'Neuen' zu beobachten" (S. 19), erscheint dem Rezensenten zu vage, wenn es darum geht, herauszukriegen, was gespielt wurde und welche Rolle der einzelne dabei besetzte. Es verleitet Cymorek auch zu einer fast postmodernen Dezenz des Urteils. Da jede Wahrheitsgewissheit in den historischen Wissenschaften eitel sei, da ja doch alles und mithin auch die gegenwärtige Urteilsbasis überholt werden würde, ist es Cymorek fast beliebig, was jemand vertritt, enthält er sich fast vollständig des Urteils über die sachlichen Thesen, die seine Protagonisten vertreten. Nur der "Vergänglichkeit" der "gegenwärtige[n] Interessen und Vorlieben der Forschung" wegen (S. 20) zu meinen, sich des Urteils enthalten zu dürfen, ja sogar zu müssen, heißt, das Vergehen der Forschung vorwegzunehmen, das Kind mit dem Bade auszuschütten, statt sich der Verantwortung zu stellen, die nach heutiger Kenntnis beste Ansicht zu ermitteln und beherzt zu urteilen.

Cymorek meint, jedes Urteil sei Ideologiekritik, Ausdruck der "Arroganz der Nachgeborenen", der Selbstüberheblichkeit der Gegenwart (S. 315 und 11). Doch hier irrt er. Daß man der Gegenwart nicht entrinnen kann, ist doch eigentlich selbstverständlich. Daß man daher immer von der Warte der Gegenwart aus urteilt, ist es ebenfalls. Doch man kann dies in verschiedenster Weise tun - z.B. in besser und in weniger gut begründeter Form. Und mehr als gute, als die gegenwärtig bestmögliche Begründung zu verlangen, ist unmöglich. Für Urteile über historische Gegenstände heißt das: Man hat nach Kriterien zu urteilen, die nach heutigem besten Wissen den historischen Sachverhalten im höchsten Maße gerecht werden. Aber zu verlangen, wie Cymorek es tut, Urteile müßten frei von der Gegenwart sein, da sie nur so ihrem Vergehen nicht ausgesetzt und keine selbstüberhebliche, 'gönnerhafte' (S. 11) Ideologiekritik seien, heißt, auf sachbezogenes Urteilen ganz zu verzichten - und damit übers Ziel hinauszuschießen. Denn daraus, daß man vielleicht nie erfährt, was wahr ist, und sich die Ansichten immer wieder wandeln mögen, folgt weder, daß es keine Wahrheit gibt, noch daß man zu einer gegebenen Zeit nicht sagen kann, welche Ansichten zu dieser Zeit die besseren oder schlechteren sind: Sollte man auch nicht wissen können, was wahr ist, so kann man doch wissen, was besser oder schlechter begründet ist.

Um weder Sachurteile zu fällen noch Ideologiekritik zu üben, hat sich Cymorek eine "Philosophie" zurechtgelegt, die es ihm erlaubt, beides mit der selben Begründung abzulehnen: beide seien "Rückzugsgebiete hochgemuter Fortschrittsgläubigkeit", Ausdruck der "Attitüde des Anklägers" mit einem "vermeintlichen Recht zur Notengebung", der "die Schärfe retrospektiver Kritik mit dem Verzicht auf die Reflexion eigener Standortgebundenheit erkauft" etc. (S. 11, 14). Doch liest man Cymoreks Buch, gewinnt man den Eindruck, daß er nicht dieser vorgeblichen "Philosophie" wegen Sachurteile ablehne, sondern deswegen, weil er meint, die Wiedereröffnung der Sachdebatte über die Thesen Belows lohne sich nicht mehr - nach dem Motto: Es ist eh alles Schnee von gestern. Doch das ist selbst ein Sachurteil über Belows Thesen. Cymorek fällt also durchaus Sachurteile; trotz seiner "Philosophie" gelingt es ihm nicht, ganz auf Sachurteile zu verzichten.

Cymoreks Praxis widerspricht so seiner Theorie. Wäre er sich bewußt geworden, daß er selbst eine Widerlegung seiner "Philosophie" liefert, dann hätte er erkennen können, daß er auch seine Abneigung gegenüber der Ideologiekritik so nicht mehr rationalisieren kann. Denn sind die Thesen Belows auch alle Schnee von gestern, so kann man dann doch wenigstens noch nach den politischen Interessen fragen, die sie bedingten.

Ein Projekt wie das von Cymorek hängt, wie man sieht, von "philosophischen" Grundannahmen ab. Darüber, daß der Rezensent sie und ihre konzeptionellen und methodischen Folgen nicht teilen kann, soll doch nicht vergessen werden, daß es sich bei dem Buch von Cymorek um eine ausgezeichnete Arbeit handelt. Den in den letzten Jahren erschienenen größeren Studien über Karl Lamprecht, Gerhard Ritter, Friedrich Meinecke, Franz Schnabel und Heinrich von Treitschke reiht sie sich nicht nur würdig an, sondern sticht durch ihre Eloquenz in der Regel sogar von ihnen ab. Auf bald jeder Seite finden sich ungewöhnlich gelungene, treffende Formulierungen. So liest man das Buch mit Genuß und großem Interesse, vermag es trotz all des Abstoßenden seines Protagonisten - wobei Cymorek aber auch dazu neigt, die Phobien seines 'Helden' nicht in ihrer ganzen Drastik vor Augen zu führen - regelrecht zu fesseln.

Daß Belows Nachlaß nicht erhalten ist, ist kein wirklicher Nachteil. Zwar gibt es - wenn es sie überhaupt gab - deswegen auch keine Zeugnisse, die z.B. einen direkten Schluß auf psychische Gründe für Belows eigenartiges Verhalten erlaubten - anders als im Fall von Lamprecht z.B., wovon Roger Chickering dann so erhellend Gebrauch machen konnte. Doch dafür hat Cymorek in ungewöhnlicher Intensität die Nachlässe anderer Historiker, Juristen und Nationalökonomen durchforstet, um auf Spuren seines Helden zu stoßen - mit entsprechendem Erfolg. Daß ihm bei allen Kennzeichen der Perfektion dabei das ein oder andere entgangen oder wieder entfallen ist, ist tröstlich (z.B. Belows Briefe an Karl Menzel).

Irritierender ist da schon, daß man in dem "Lebensbild" Minnie von Belows über ihren Mann (Stuttgart 1930) von einem "regen Briefwechsel" zwischen ihm und Otto Hartwig liest (S. 78), sie auch mehrfach aus dieser Korrespondenz zitiert, Cymorek zwar den Nachlass Hartwigs aufführt, aber dann doch alle seine Zitate aus dieser offenbar aufschlußreichen Korrespondenz dem Buch von Belows Witwe entnimmt. Noch zu so manchem in ihrem Buch hätte man sich in einer Below-Biographie Aufklärung gewünscht.

Das, was Cymorek an Einschätzungen anderer über Below und Briefen Belows in deren Nachlässen hat zusammentragen können, ist dennoch sehr beeindruckend. Und ebenso, daß er bei dieser Quellen- und Materialfülle seine Arbeit überhaupt hat bewältigen können. Sie ist zuerst auf Microfiches 1996 und 1998 als Buch erschienen. Den Text hat er dabei um ca. 9 % gekürzt, während er den "Anmerkungsapparat buchstäblich skelettiert" und das "Literaturverzeichnis von über 1500 Titeln befreit" hat (S. 9 - da Cymorek nicht sagt, wieviele Titel es ursprünglich waren oder übrig blieben, ist diese Angabe nutzlos). Die Kürzung des Textes ist aber bedauerlich: Leider ließ er neben den Kapiteln zur Agrar- und Rechtsgeschichte auch das über Belows Kampf gegen C. H. Beckers Plan der Etablierung der Soziologie und (republikanischen) Staatsbürgerkunde an den Universitäten nach 1918 fortfallen (zu Below und die Rechtswissenschaft seiner Zeit veröffentlichte Cymorek aber jüngst eine 'Miszelle' in der ZRG Germ. Abt., Bd. 116, 1999, S. 504-513).

Die eigenen methodischen Maximen auf sich selbst anzuwenden, ist für viele ein Problem. Doch wie man so blind wie Below sein kann, ist sehr irritierend: Wie ist diese "Blindheit des Verbohrten" zu erklären, "der die Maske des Fanatikers stets nur im Gesicht des Gegners zu erkennen vermag"? (S. 311) Zwar haßt er die argumentative, richterliche Aufklärungs-Historie, macht aber, wie schon vor Cymorek Karl Brandi 1925 (GGA, Nr. 11-12, S. 321-335, hier S. 323) sehr zu recht betonte, nichts anderes, als unentwegt "durch und durch rationalistisch" zu argumentieren, zwar predigt er die "Ehrfurcht" vor der Vergangenheit, bezeichnet Ranke als sein Idol, preist er die Romantik, doch zerrt er alles "so ganz und gar unromantisch" vor den "Richterstuhl des Verfassers" (Brandi ebd., Cymorek S. 286), nimmt er für sich das "Recht zu tadeln" nach dem Maßstab dessen, was ihm "wünschenswert erscheint", so skrupellos für sich in Anspruch, wie er es allen anderen im selben Atemzug abspricht (Cymorek S. 304) oder als zu verurteilende Aufklärungshistorie vorwirft.

Cymorek spricht hier von einer "habituelle[n] Unfähigkeit zu kritischer Selbstreflexion" (S. 291). Doch diese Auskunft hilft nicht viel weiter. Diese phänomenale "Verbohrtheit" (S. 266, 311), diese souveräne Mißachtung aller methodischen Maximen, die Below selbst unentwegt verkündet, wenn es um sein eigenes historiographisches Schaffen geht (vgl. S. 276), ist zu frappant, als daß man sich mit einer eher nichtssagenden Formulierung wie der von der "doppelte[n] Spannung zwischen Theorie und Praxis" (S. 314) zufrieden geben könnte.

Eine auch nur eine Spur tiefer eindringende Erklärung gibt der m.E. zu taktvolle Autor nicht. Ob sie nicht doch trotz des fehlenden Nachlasses möglich wäre, bleibt unklar. Belows erstaunliche Unfähigkeit zur Selbstanwendung seiner Maximen ist aber darüber hinaus auch von allgemeinem Interesse. Sie ist ein krasses Beispiel dafür, wie unnütz selbst forcierte methodische Reflexionen sein können - denn im Fall des eigenen Tuns ist bei Below auf jeden Fall sofort fast alles vergessen. Die Lehre, die man hieraus ziehen kann, ist eine, die man auch sonst häufig machen kann: Mehr als auf die lautstarken Deklamationen sollte man auf das faktische Handeln seiner Protagonisten achten. Und Historiker unterscheiden sich da in nichts von anderen. Doch genauso wie sich Cymorek vor Sachurteilen scheut, scheut er sich, das Handeln Belows als akademischer Lehrer zu beleuchten, der Nachwuchs fördert oder bekämpft, der anstehende Reformen in der Universität nach Kräften behindert oder auch nicht (das Studium und die Habilitation von Frauen, das Studium von Realgymnasiasten ohne Latein- und Griechischkenntnisse etc.), der in Berufungskommissionen Einfluß nimmt etc.

Daß es Cymorek gelungen ist, in ansprechender und fast schon etwas zu ausgewogener, das eigentliche Agieren Belows zu sehr ausblendender Form dessen Leben zu skizzieren und die wichtigsten seiner Hauptwerke und Tätigkeitsfelder darzustellen, nötigt zu Respekt. Aber es gibt dann doch auch immer wieder Überraschendes. So wunderte es mich, daß Cymorek bei der Schilderung von Belows Vita und seiner Besonderheit, daß ein ostpreußischer Junkerssohn in die Wissenschaft drängte, keinen Gebrauch von der Parallele in der Vita Ulrich von Wilamowitz Möllendorffs machte, der sich anders als Below - und von Cymorek zu recht beklagt - auch ausführliche Gedanken über diesen "Wechsel der Lebenswelten" machte, der Cymorek so wichtig ist (S. 28). Denn wie auch Wilamowitz ein Etatist hohen Grades war und vielleicht auf Grund dieses Wechsels eine verschärfte, dabei aber zur Distanz fähige Beobachtungsgabe für staatliches Wirken und die Bemühungen seiner Kollegen, staatliche Anerkennung zu erhalten, entwickelt hatte, so mag Belows exzessive Staats-Idiolatrie wesentlich durch diesen Wechsel bedingt sein.

Trotz seiner beeindruckenden Kenntnis entlegenster Korrespondenzen entgeht Cymorek nicht ganz der von ihm selbst gesehenen Gefahr, seinen 'Helden' "allzu entschieden" zu isolieren (S. 313). Nur die wenigsten der Gegner Belows gewinnen Kontur und Plastizität - und sollen es ja auch nicht, da Cymorek leider irrtümlicherweise meint, in einem plastisch gezeichneten 'vielfigurigen Tableau von Mitspielern' drohe "der Gegenstand des Interesses verloren zu gehen" (ebd.). Da Cymorek das Handeln Belows und so auch viele der Schachzüge seiner Kabalen häufig nicht genügend erhellt, bleibt immer wieder unklar, was die Gegner eigentlich unternommen haben. Unter Werner Sombart und Gustav Schmoller kann man sich natürlich etwas vorstellen. Geht es aber um Gegner wie Robert Höniger, Ignaz Jastrow, Carl Köhne oder Erich Liesegang, so versinken sie vollends ins Nebulöse.

Cymorek sollte man gewiß keinen generellen Vorwurf daraus machen, daß er häufig des Lesers Neugier mehr zu erregen vermochte, als ihm die Ökonomie der wohlproportionierten Darstellung zu befriedigen erlaubte. Doch leider ist nicht immer die Ökonomie schuld. Wenn man liest, daß Below Schmoller u.a. "'angemasste' Kompetenz und mangelndes Urteilsvermögen" vorwarf (S. 161), dann hätte man schon einmal gerne einen solchen Fall en détail vor Augen geführt bekommen. Zu gerne hätte man gesehen, wie es ausschaut, wenn ein Ordinarius einem Großordinarius so etwas vorzuwerfen wagt. Wie machte er das? Wie begründete er es? Und war es berechtigt? Kann es noch heute überzeugen? Cymorek verzichtet nicht deswegen darauf, diesen spannenden Fragen nachzugehen, weil kein Platz dafür da war, sondern seines bedauerlichen Grundsatzes wegen, sich des Urteilens in Sachfragen zu enthalten.

Cymoreks Belesenheit ist staunenerregend. Und doch ist er, was die politischen Konnotationen und Subtexte der Belowschen Texte betrifft, mitunter erstaunlich blind. Below stimmte in den Ruf ein: "Gebt uns glückliche Vorbilder" - dann wolle er auch an die "Notwendigkeit verfassungs- und wirtschaftsgeschichtlicher Studien" glauben (S. 145). Cymorek bemerkt nicht, daß dies das klassische Argument derjenigen Hochschullehrer der Zeit Belows ist, die das Frauenstudium und erst recht die Habilitation von Frauen ablehnten. (s. z.B. Cordula Tollmien über die mehrfach verhinderte Habilitation der Mathematikern Emmy Noether, Göttinger JB, Bd. 38, 1990, S. 153-219).

Bei soviel unzweifelhafter Gelehrtheit Cymoreks ist ein Fall dann aber doch verblüffend. S. 296 zitiert er eine Passage Belows, in der er über die "Elemente der nationalen Dekomposition" spricht und damit Juden meint. Daß Below damit eine bekannte Wendung zitierte und deswegen damit die Juden meinen konnte, scheint Cymorek unbekannt zu sein, während er sonst dankenswerterweise immer wieder gerne und erfolgreich Formulierungen zurückverfolgt und als Zitate - insbesondere der Bibel - 'demaskiert'. Auf S. 300 zitiert Cymorek eine Stelle Belows, in der er der originalen Wendung Theodor Mommsens in seiner Römischen Geschichte (Bd. 3, S. 550) sogar noch näher kommt: "das Judentum [...] als 'fermentum decompositionis'". Doch Cymorek wird von diesem "catch-word" eines vergangenen 'Historikerstreites', des 'Berliner Antisemitismusstreits' von 1879/80 nicht gepackt, widmet ihm keinen Kommentar (wie im übrigen auch Oexle nicht, der es aber S. 288 Anm. 36 klar als antisemitisch bezeichnet). Treitschke hatte damit unmittelbar vor einer zweitägigen Debatte über die 'Judenfrage' im Preußischen Abgeordnetenhaus sehr geschickt Mommsen als Anhänger eines viel unerbittlicheren - quasi "naturgesetzlichen" - Antisemitismus' hingestellt als es der sei, dem er und Stoecker anhingen und hatte damit erfolgreich die erst kurz zuvor von Mommsen inaugurierte "Notablenerklärung" gegen ihn gekontert.

Was lernt man nun? Man lernt, daß Georg von Below nicht so einfach als schlichtweg konservativ qualifiziert werden kann, wie man es gewohnt war. Er ist modern, wo er konservativ sein will und konservativ, wo er modern sein will. Bei Below lassen sich also politische und fachwissenschaftliche "Borniertheit" nicht gleichsetzen (S. 314, vgl. auch S. 14 u. 18). Doch damit hat Cymorek bis auf zwei Autoren der ehemaligen DDR kaum irgendjemandem widersprochen (S. 15 Anm. 29), denn schon Brandi - und sicher so mancher Rezensent Belows vor ihm - und auch Belows Witwe behaupteten Ähnliches. Denn da Below wegen eines steifen Arms sich nicht duellieren konnte, "erkannte" er das Duellwesen als eine nicht-staatliche, "'undeutsche', nämlich romanische 'Erfindung'" und mithin illegitime Institution: "gerade der Duellgegner beweise wahre germanisch-deutsche Staats- und Rechtsgesinnung" (Cymorek S. 46, vgl. auch Below, Selbstdarstellung S. 27). Belows Witwe: "Seine Beurteilung des Duells brachte ihm den rauschenden Applaus der Linkspresse ein, ein Erfolg, der von dieser Seite her der einzige seines Lebens blieb" (dies. S. 60).

Hat sich für dieses Wackeln an gewohnten Begriffen und eingeschliffenen 'schablonenhaften Bewertungen' der immense Aufwand gelohnt? Gewiß, wir kennen Below jetzt besser, auch in seiner schon von Brandi betonten verblüffenden Widersprüchlichkeit. Aber daß Cymorek sein reiches Material nicht ausnutzte zu einigen allgemeineren Reflexionen - z.B. über die Leere methodischer Maximen -, zu detaillierteren Vertiefungen - z.B. wie man eigentlich jemandem tatsächlich und erfolgreich "'angemasste' Kompetenz" nachweist - oder zu plastischeren Schilderungen der Belowschen 'Wissenschaftsschlachten' und seines eigentlichen Handelns als einflußreicher Zeitschrifteneditor und Hochschullehrer, bedauert der von Cymorek neugierig gemachte Rezensent denn doch. Und wenn Cymorek als Positivum seiner Arbeit geltend macht, "im Werk" Belows "neben Gegenwarts-Ressentiment und Vergangenheitsverklärung Elemente einer 'Modernisierung wider Willen', gleichsam aus dem Geist des Anti-Modernismus", eine "polare Spannung zwischen Modernisierungsschüben und Modernisierungsverweigerung", die "wissenschaftsgeschichtliche Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen", "die Brüche, die Ambivalenzen und Verwerfungen einer Zeit" kenntlich gemacht zu haben, dann fühlt man sich durch diese feuilletonistischen Leerformeln nicht gerade belehrt und aufgeklärt über die "unübersichtliche[], facettenreiche[] Situation der Kulturwissenschaften [...] um 1900" (S. 313f., 20 und 18).

Dem bewundernswerten Buch Cymoreks eignet ein beträchtlicher Wille zur Perfektion. (Mir fielen nur zwei Tippfehler auf: S. 125 und S. 151, Anm. 446). Vorzüglich ist auch das Register und das Quellen- und Literaturverzeichnis. (Nur in drei Fällen fand ich in Anmerkungen Bücher mit Kurztiteln zitiert, die ich in der Bibliographie nicht finden konnte: S. 250, 309 und 314). Das Literaturverzeichnis ist fünfgeteilt: 1. die Schriften Belows, 2. Autobiographien, 3. Protokolle (z.B. Landtags-), 4. zeitgenössische Literatur bis zum Todesjahr Belows und zuletzt 5. Literatur ab 1930.

Zur Verzahnung der Anmerkungen mit dem fünffach unterteilten Literaturverzeichnis noch eine generelle Bemerkung:

In den Anmerkungen nur Kurztitel ohne Jahreszahlen zu verwenden, während die Bibliographie i.w. zeitlich gegliedert ist, ist nicht glücklich. Ist man sich nicht gleich ganz sicher über die Art und das ungefähre Alter einer Publikation, sucht man mitunter mehrere dieser fünf Abschnitte der Bibliographie durch. Es wäre, wenn denn Historiker immer noch nicht bereit sind, so wie es in den Naturwissenschaften schon längst und lange üblich ist, bloß außer dem Autor nur noch das Erscheinungsjahr zu nennen, nützlich gewesen, wenn Cymorek neben die häufig nichtssagenden Kurztitel auch das Jahr gesetzt hätte. Da er von manchen Autoren eine ganze Reihe von Publikationen zitiert, hätte einem das auch das Auffinden der zitierten Titel unter all den von ihnen aufgeführten erleichtert. So ist man immer wieder genötigt, die nicht nach dem ersten Nomen des Titels alphabetisch, sondern hier nun paradoxerweise chronologisch geordneten Publikationen eines Autors soweit tatsächlich Titel für Titel durchzulesen, bis man endlich den Titel gefunden hat, der den Kurztitel als erstes Nomen enthält.

Wer immer Cymorek zu dieser Jahreszahl-freien Zitation seiner literarischen Belege bestimmt haben mag, hier hat sich der Wunsch der Historiker, nur bloß keine Jahreszahlen zu verwenden, ins Absurde verflüchtigt. Warum gerade Historiker bei Literaturnachweisen in Anmerkungen eine solche Scheu vor Jahreszahlen haben, ist nicht recht verständlich. Gerade Historiker sollten doch wissen, daß man sich Publikationsjahre viel leichter merken kann als Kurztitel und sie zur schnellen Rubrizierung der erwähnten Publikation auch die wichtigste Information sind: ob es sich z.B. um zeitgenössische Literatur oder um die neueste Publikation zum Thema handelt. Und das zu wissen, wäre man froh, schon der Anmerkung auf der Seite des Textes zu entnehmen und nicht erst nach einem langwierigen Abgleich von Kurz- und Langtiteln in einem mehrfach unterteilten Literaturverzeichnis am Ende eines Buches.

Kann man etwas Besseres über ein Buch sagen? Es macht so neugierig, daß man sich immer wieder weitere Informationen wünscht. Dem Autor ist ein brillant formuliertes und - teilte man seine "philosophisch" methodischen Prämissen - in sich verblüffend rundes Buch gelungen. Mit Spannung wartet man auf weiteres aus seiner gewandten Feder.

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