Cover
Titel
Practicing Utopia. An Intellectual History of the New Town Movement


Autor(en)
Wakeman, Rosemary
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
$ 45.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Phillip Wagner, Abteilung Geschichte, Universität Bielefeld

Die Planstädte der 1950er- und 1960er-Jahre sind Beton gewordene Symbole der Moderne. So unterschiedliche Städte wie Chandigarh (Indien), Bratsk (Russland) und Milton Keynes (Großbritannien) standen für den Versuch, eine umfassende räumliche Ordnung für die effiziente Strukturierung von Wirtschaftsabläufen und die Harmonisierung von Sozialbeziehungen zu erschaffen. Sie galten als explizit modern, weil sie von dem Wunsch beseelt waren, ohne althergebrachte Traditionen zu berücksichtigen, auf einer vermeintlichen „Tabula Rasa“ eine neue räumliche und soziale Ordnung zu erschaffen.

Rosemary Wakeman hat jetzt die erste umfassende Studie zu den Planstädten der Jahrzehnte nach 1945 vorgelegt. Weit über eine bloße Baugeschichte hinausgehend ist es ihr Ziel, eine „intellectual history“ jener gesellschaftspolitischen Konzepte und Zukunftsvorstellungen zu schreiben, die mit den neuen Städten verbunden wurden. Gleichzeitig verfolgt sie einen dezidiert transnationalen Ansatz, indem sie die „New Town Movement“ sowie deren Debatten und Bauprojekte durch die Industriegesellschaften in Ost und West ebenso wie die spät- und postkolonialen Staaten Afrikas und Asiens verfolgt. Mit dieser Ausrichtung schreibt sich Wakemans Studie in verschiedene, sich dynamisch entwickelnde Forschungsdebatten ein. Zuerst knüpft die Arbeit an eine Stadtplanungsgeschichte an, die sensibel für gesellschaftliche und politische Diskurse ist.1 Darüber hinaus liest sich die Studie als ein Beitrag zur Debatte über die Gesellschaftsgeschichte der Moderne, die sich zunehmend für die Materialisierung „moderner“ Ordnungsimperative im Städtebau interessiert.2

Im ersten Teil der Studie (Kapitel 1–3) widmet sich Wakeman den Gründungen von Planstädten in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die sowohl in Europa als auch in Asien und Afrika die vielfach zerrütteten Gesellschaften stabilisieren sollten. Die Autorin verdeutlicht souverän die verschiedenen Ursprünge des Diskurses über den Bau neuer Städte nach 1945. Die Gartenstadtidee Ebenezer Howards, die Regionalplanungsexperimente in den Industriegesellschaften der Zwischenkriegszeit, die Entwicklung des sozialwissenschaftlich fundierten Modells der Nachbarschaftseinheit – all diese Konzepte trugen in liberalen, kommunistischen und faschistischen Gesellschaften der 1920er- und 1930er-Jahre dazu bei, die Idee zu verbreiten, über die Strukturierung des gebauten Raumes gezielt auf Gesellschaftsbeziehungen Einfluss nehmen zu können. Eindrucksvoll stellt Wakeman dar, dass der Zweite Weltkrieg diesem Diskurs entscheidende Impulse gab. Militärische Erwägungen sprachen nun für den Bau neuer Siedlungen. Technische Innovationen wie die Luftbildfotografie ermöglichten einen neuen Blick auf Stadt und Region. Die Zerstörung ganzer Stadtlandschaften verstärkte die Hoffnungen, planerische Visionen in die Tat umsetzen zu können.

An Hand unterschiedlicher Beispiele aus Europa und den Siedlerkolonien des Commonwealth – beispielsweise den britischen „New Towns“, Vällingby (Schweden), Nowa Huta (Polen) und Kitimat (Kanada) – verdeutlicht Wakeman anschließend, dass die Regierungen in Ost und West neue Städte entwarfen, um die Modernisierung einer durch Wirtschaftskrise und Krieg rückständig erscheinenden Industrie zu forcieren, die Alltagsbeziehungen der Stadtbewohner zu rekonfigurieren und einen neuen Gemeinschaftsgeist zu stiften. Dabei waren die Planstädte, da sie stets eingebunden waren in die militärischen und wirtschaftlichen Planungen der verfeindeten Blöcke, einerseits Teil der Rivalität zwischen Ost und West. Andererseits bauten sie auf Ideen wie dem Konzept der Nachbarschaftseinheit oder der Gartenstadt auf, welche die Systemgrenzen transzendierten.

Im darauf folgenden Kapitel analysiert Wakeman, wie sich Regierungen und Expertenstäbe in den spät- und postkolonialen Staaten Asiens auf unterschiedliche Weise die westlichen Planstadtkonzepte und die mit ihnen verbundenen Modernisierungskonzepte aneigneten. Im spätkolonialen British Malaya sollten Planstädte die Landbevölkerung gegen den Kommunismus immunisieren. In Israel bauten die Siedler Planstädte, um Territorium für sich zu reklamieren. In Indien sollten neue Siedlungen die Flüchtlingsmassen nach der Neuaufteilung des Subkontinents aufnehmen. In den „Ölstädten“ Asiens und Afrikas diente das Gliederungsmodell der Nachbarschaftseinheit dazu, die Hierarchien zwischen Arbeiterschaft und Geschäftsführung zu zementieren. Die Adaptionsprozesse wurden der Autorin zufolge vor allem von den Vereinten Nationen, US-amerikanischen Stiftungen und einzelnen Stadtplanern wie Konstaninos Doxiadis (Griechenland) geprägt.

In der zweiten Hälfte ihres Buches (Kapitel 4–6) widmet sich Wakeman den Debatten um Planstädte in den 1960er- und 1970er-Jahren, als die Kybernetik die Maßstäbe des urbanistischen Diskurses in Ost und West maßgeblich verschob. Die Kybernetik sowie die verwandten Disziplinen der Systemtheorie und der angewandten Mathematik stifteten eine neue Sprache, welche die Stadt und die umliegende Region als „System“ von dynamischen Bewegungsabläufen modellierte. Neue Städte wurden jetzt nicht mehr als in der Tradition von Gartenstadt und Nachbarschaftseinheit stehende Siedlungen für die Stabilisierung von isolierten Gemeinschaften konzipiert, sondern als Knotenpunkte eines Verkehrsnetzwerk entworfen. Zwar wurden diese Modelle zuerst von Mathematikern in den USA entwickelt und in der dortigen Verkehrs- und Stadtplanung erprobt, Wissenschaftler und Planer in der UdSSR und anderen Ostblockstaaten adaptierten sie jedoch auf eigenständige Art, entwickelten sie weiter, funktionalisierten sie für die Planung von neuen Siedlungen und speisten sie teilweise in die Entwicklungshilfeprogramme der Vereinten Nationen ein.

Das fünfte Kapitel variiert das Thema, indem es verdeutlicht, wie die global zirkulierenden Konzepte einer kybernetisch strukturierten Stadt lokal umgesetzt wurden. Anhand überwiegend westlicher Neustadtgründungen der 1960er-Jahre kann Wakeman zeigen, wie unterschiedlich die Leitmotive eines kybernetischen Urbanismus adaptiert wurden. Beim Bau Milton Keynes eigneten sich britische Planer beispielsweise die US-amerikanische Verkehrsplanung an. Der Entwurf von Navi Mumbai (Indien) knüpfte an unterschiedliche westlichen Kybernetik- und Systemtheoriediskurse an, aber besaß derart megalomanische Ausmaße, dass er nicht komplett realisiert werden konnte. In diesem Kapitel geht es auch ausführlicher um die Kontroversen, welche die Bauvorhaben der Planstädte begleiteten. Der Protest lokaler Politiker gegenüber den zentralistisch dekretierten Planstädten trug in Frankreich schon früh zur Diskreditierung der neu geplanten Siedlungen bei. In den USA war die Subventionierung von „new communities“ von starkem Protest gegen staatlichen Interventionismus begleitet, so dass privatwirtschaftliche Immobilienentwickler (zum Beispiel James Rouse) zu wichtigen Bauherren von Planstädten wurden.

Im sechsten Kapitel widmet sich Wakeman einer Ideengeschichte der Architektur der Planstädte. Dabei würdigt sie insbesondere die Entwürfe von Avantgardisten wie Paolo Soleri. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung verdeutlicht die Autorin, dass diese Akteure keinesfalls nur als antibürgerliche Künstler zu verstehen sind, sondern mit ihren visionären Plänen die vorherrschenden Modernisierungsdiskurse in den staatlichen Verwaltungen befeuerten und außerdem die Tätigkeit von privaten Konstruktionsfirmen inspirierten. Mit der so genannten „Megastruktur“ entwickelten sie einen neuen, in der Tradition der Raumstation stehenden Bautypus, der zur Blaupause für die Gestaltung zahlreicher Planstadtzentren wurde. Gerade diese Architektur wurde jedoch schon bald von einer neuen Generation von Stadtaktivisten und -theoretikern als inhuman gebrandmarkt. Diese Kritik traf auch bald die Planstädte selbst und die ihnen zugrunde liegenden Modernisierungskonzepte.

Im Fazit zeigt die Autorin schließlich, dass trotz dieser Kritik nach den 1970er-Jahren die Debatten um den Bau neuer Städte keinesfalls nachließen. Eher wandelten sich die gesellschaftspolitischen Ideen, welche mit den Entwürfen von Planstädten verbunden waren. So spielt heute beispielsweise eher die Utopie der Nachhaltigkeit eine Rolle in den urbanistischen Debatten als die mehr oder minder stark diskreditierte Vision der Modernisierung.

Ein Buch wie das von Wakeman kann natürlich nicht jeden Aspekt behandeln, der wünschenswert wäre. Dennoch hätte der Rezensent gerne noch mehr über die mehr als 900 neuen Städte, welche die UdSSR nach 1945 baute, ebenso wie über den Städtebau- und Modernisierungsdiskurs in den Ostblockstaaten erfahren. In diesem Kontext wäre sicherlich auch ein weiteres Kapitel interessant gewesen, das sich explizit mit dem Transfer sozialistischer Planstadt- und Modernisierungsmodellen nach Asien und Afrika gewidmet hätte. Ein solcher Fokus hätte den Vorzug, die Projekte der Vereinten Nationen und der US-amerikanischen Stiftungen, welchen die Studie viele Seiten widmet, stärker zu kontextualisieren. Ebenso wäre noch einmal zu überprüfen, ob es womöglich sinnvoller ist, von „new town movements“ im Plural zu sprechen, wenn man sich die professionelle Konkurrenz und die transnationalen Abgrenzungsversuche unterschiedlicher Planstadtbefürworter vergegenwärtigt.

Trotz dieser Anmerkungen ist „Practicing Utopia“ eine äußerst gelungene Arbeit über Modernisierungsideologie und Stadtplanung im 20. Jahrhundert. Wakemans beeindruckende Synthese integriert die verschiedenen Debatten über die Planstadt von den 1920er- bis in die 1970er-Jahre in Europa, Nordamerika und Teilen von Asien und Afrika in einer kohärenten Darstellung. Somit ist diese Studie ein hervorragendes Beispiel für eine wissens- und ideengeschichtlich fundierte Stadtplanungsgeschichte mit dezidiert globalem Anspruch. Außerdem sensibilisiert das Buch für unterschiedliche Ordnungskonzepte in der Moderne und trägt damit dazu bei, unseren Blick auf diese Epoche zu nuancieren. Nicht zuletzt deswegen ist dieser Studie eine Leserschaft weit über die Gemeinschaft der Stadtplanungs- und Architekturhistoriker hinaus zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Als Vorbild für einen solchen Ansatz: Peter Hall, Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design since 1880, Malden 2014 (4. Auflage, zuerst 1988 erschienen).
2 Beispiele dafür etwa in: Lutz Raphael (Hrsg.), Theorien und Experimente der Moderne. Europas Gesellschaften im 20. Jahrhundert, Köln 2012.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch