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Titel
Tito. Die Biografie


Autor(en)
Pirjevec, Jože
Erschienen
München 2016: Antje Kunstmann
Anzahl Seiten
719 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dario Vidojković, Europäische Geschichte, Universität Regensburg

Vielleicht eine der schillerndsten und geheimnisumwobensten Persönlichkeiten aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges war Josip Broz, besser bekannt unter seinem nom de guerre „Tito“. Als kommunistischer Revolutionär, Führer der jugoslawischen Partisanen im Zweiten Weltkrieg und späterer langjähriger Präsident Jugoslawiens, prägte er das Land und dessen Nachkriegsgeschichte wie kein zweiter. Es war auch Tito, der zu Zeiten des Kalten Krieges die Blockfreien mit ins Leben rief. Sein Erbe allerdings, das multinationale und multikonfessionelle, föderative Jugoslawien, überlebte Titos Tod nicht lange. Gut zehn Jahre nach seinem Tod im Mai 1980 zerfiel das Land in einem blutigen Bürgerkrieg.

Diesem von Mythen umwehten und romantisch verklärten Partisanenführer und Staatsmann versucht sich der slowenische Historiker Jože Pirjevec in seiner auf den ersten Blick beeindruckenden Biographie anzunähern. Dafür hat der rührige Geschichtsprofessor von der Universität Koper 30 Jahre lang umfangreiche Recherchen geleistet (siehe Klappentext) und zahlreiche Dokumente und Materialien aus den verschiedensten Archivbeständen, auch außerhalb Jugoslawiens, gesichtet und ausgewertet. Entstanden ist somit ein durchaus imposantes Werk, in dem auf knapp 600 Seiten dem Leser das Phänomen Tito und sein Jugoslawien lebendig vor Augen geführt wird.

Bezeichnenderweise beginnt Pirjevec seine Darstellung gerade auch mit den Augen, und zwar Titos berühmten blauen Augen (S. 7ff.). Damit will er einerseits den Gegenstand seiner biographischen Studie skizzieren, andererseits verweist Pirjevec mit dieser Einführung auf die legendäre Aura und den Mythos Titos. Nicht zuletzt ist es in seinen eigenen Worten das Anliegen Pirjevec‘, Tito „in rembrandtschen Farben zu porträtieren“ (S. 7).

Dass sich Pirjevec im weiteren Verlaufe seiner Ausführungen nicht selten zu einen begeistert-apologetischen Tonfall gegenüber Tito und dessen Politik hinreißen lässt, ist dann doch ein Manko dieses Buches: leider nicht das einzige. Denn die Farben nehmen zuweilen überhand, um bei diesem vom Autor gewählten Bild zu bleiben, und verdecken dann die gleichwohl vorhandene eher düstere und wenig farblose Realität der Person Titos und auch seiner Politik. Der Gulag auf der kahlen Insel Goli Otok, wo nach Titos Bruch mit Stalin 1948 auf seinem Geheiß hin zahlreiche politische Gefangene (und auch andere) verbracht wurden, wovon hunderte qualvoll den Tod fanden, mag hier als ein Stichwort genügen.1

Trotz seines Todes im Jahr 1980, bewegt Tito den post-jugoslawischen Raum wie eh und je und reizt auch heute noch zu Debatten, und das nicht nur von Seiten der sogenannten Jugo-Nostalgiker. Nicht umsonst fand der Titel eines Pop-Liedes der serbisch-mazedonischen Sängerin Tijana Dapčević Eingang in die post-jugoslawische Sprachkultur, „Sve je isto, samo njega nema“ (Alles ist beim Alten geblieben, nur ihn gibt es nicht mehr).2 Das zeigen auch die Ergebnisse des serbischsprachigen Google-Suchdienstes, wenn man dort „Tito“ eingibt. So gibt es darin Artikel, dass Tito angeblich nicht am 4. Mai 1980, sondern bereits früher verstarb oder wie Tito die Sowjets ausgetrickst habe.3 Man stößt aber auch auf reißerische Artikel, welche das „Geheimnis“ aufzudecken versprechen, wer Tito nun tatsächlich gewesen bzw. ob er in Wahrheit ein sowjetischer Agent gewesen sei.4 Angesichts gerade dieses offenbar sehr beliebten Themas, das ins Reich der Verschwörungstheorien verweist, ist das Interesse an einer wissenschaftlich fundierten Biographie Titos natürlich groß. Doch leider verspricht der Titel von Pirjevec‘ Werk dann eigentlich mehr, als das Buch leistet.

Das wird bereits deutlich, wenn man einen Blick auf das Inhaltsverzeichnis wirft. So nimmt das Kapitel über das Leben Broz‘ von seiner Geburt bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 gerade einmal etwas mehr als 50 Seiten ein, ein Zehntel des Gesamtumfanges des Buches. Immerhin behandelt dieses Kapitel gut die Hälfte von Titos Leben! Zweifellos ist die Rolle Titos im Zweiten Weltkrieg sowie in der Nachkriegszeit, als er unter anderem die Blockfreien begründete, für die Geschichte, nicht nur Jugoslawiens, die interessanteste Zeit. Diese breitet Pirjevec dem Leser von Seite 65 bis 187 aus. Gerade angesichts dessen wäre es dennoch ebenfalls interessant zu erfahren, wie Tito als junger Mann geprägt wurde, wie er den Ersten Weltkrieg sowie seine Gefangenschaft in Russland erlebte, und wie er ein Kommunist wurde. Das alles behandelt Pirjevec zwar auch, aber nur kursorisch und man hätte sich hierzu dann doch mehr Details erhofft (so nimmt das Kapitel zu Tito im Ersten Weltkrieg gerade einmal etwas knapp über vier Seiten ein [S. 15–19]). Es sind aber gerade auch diese Jahre, über die sich viele Mythen um die Person Titos ranken.

Die Schilderung der Ereignisse in Jugoslawien nach Hitlers Überfall auf das Land im Zweiten Weltkrieg folgt dann der hinreichend bekannten „Meistererzählung“, wie sie im kommunistischen Jugoslawien begründet wurde. Es entsteht somit der Eindruck, als ob Tito und die Kommunisten von Anfang an gegen Hitler und die Nationalsozialisten und zum Widerstand gegen die Deutschen bereit gewesen seien. Allerdings war die Geschichte etwas differenzierter, und Pirjevec geht nicht auf die Umtriebe der KPJ ein, welche die Schwächung des Königreiches Jugoslawien zum Ziel hatten. Dabei ging die Partei auch Bündnisse ein, wie mit der kroatischen klerikal-faschistischen und separatistischen Extremistenbewegung der Ustascha.

Kursorische Erwähnung findet der bestialische und beispiellose Ustascha-Genozid an Serben, Juden und Roma (vgl. z.B. S. 87). Breiteren Raum dagegen erhalten die Schilderung über die Organisation und den Aufbau der kommunistischen Partisanenverbände sowie der innerjugoslawische Bürgerkrieg, insbesondere gegen die Četnici, ohne diesen Konflikt, der in Realität viel komplexer war als es die traditionelle Schwarzweißmalerei erscheinen lässt, differenzierter zu beschreiben. Auch hierbei folgt Pirjevec der üblichen Darstellung, welche Tito und seine Partisanen großteils verklärt, obgleich Pirjevec hier und dort auch einige kritische Bemerkungen zu den Taten der Partisanen und Titos Rolle im Krieg einstreut (vgl. z.B. S. 106 und 191f.). Es wäre wünschenswert gewesen, über Tito im Zweiten Weltkrieg mehr zu erfahren, so auch über die Märzgespräche ranghoher Kommandeure Titos mit den Deutschen im Jahr 1943, die ebenfalls nur knapp wiedergegeben werden (vgl. S. 122–125). Denn Ereignisse wie diese widerlegen die spätere Darstellung der jugoslawischen Kommunisten, alle anderen außer ihnen seien Kollaborateure gewesen.

Die folgenden zwei Großkapitel thematisieren die Nachkriegszeit. Zunächst behandelt Pirjevec die Jahre von 1945 bis 1953 (S. 189–328), wobei hier der Fokus auf dem Bruch Titos mit Stalin und die Hinwendung zum Westen liegt. Danach folgt die Zeit von 1953 bis 1973 (S. 329–498). Diese beiden recht umfangreichen Kapitel lesen sich allerdings eher wie eine Chronik der Nachkriegsgeschichte Jugoslawiens als wie eine Biographie Titos, der aber natürlich auch in diesen Kapiteln eine wichtige Rolle spielt. Aber es wird klar, dass es offenbar nicht stets Tito war, der wichtige innen- wie außenpolitische Entscheidungen und Weichenstellungen traf, sondern vielmehr waren das andere, wie zum Beispiel der Slowene Edward Kardelj, der unbestrittene Ideologe und Vordenker der KPJ (es mag dabei Zufall sein, dass Pirjevec selbst Slowene ist). Dazu zählt auch der Gedanke, die Blockfreien zu begründen (vgl. S. 333ff.).

Nichtsdestotrotz hat Tito weiterhin die Zügel in der Hand behalten und sich nie von den Schalthebeln der Macht verdrängen lassen. Das führte letztlich dazu, dass es keinen geeigneten Nachfolger nach Titos Tod gab, der Jugoslawien hätte erhalten können. Doch daran war wohl auch nicht realistischer Weise zu denken, wie Pirjevec aufzeigt. Tito hatte sich mit seiner Schaukelpolitik gegen Ende seines Lebens sowohl dem Westen als auch dem Osten entfremdet. Beiden Lagern schien es folglich nur recht zu sein, wenn dieses widerspenstige und unberechenbare Titoistische Jugoslawien auf die eine oder andere Weise verschwände (wie es dann auch ab 1990 gekommen ist). Tito und seine Gefolgsleute, allen voran Kardelj, haben jedoch zum Untergang Jugoslawiens in nicht unerheblicher Weise selbst beigetragen, wie sich zumindest indirekt aus Pirjevec‘ Buch erschließen lässt. Dazu zählt die Verfassung von 1974, welche dem späteren Separatismus vor allem Sloweniens und Kroatiens Auftrieb gab, sowie die nicht bewältigte Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Ustascha-Genozid, über die zugunsten eines (oberflächlichen, wie sich herausstellen sollte) Einheits- und Brüderlichkeitsgedankens der Mantel des Schweigens geworfen wurde. Die Maspok-Bewegung in Kroatien, welche in Richtung eines nationalistischen eigenständigen Kurses Kroatiens abzielte, zeigte diese Brüche bereits überdeutlich auf (vgl. S. 458ff.).

Schwierigkeiten verursachten auch die ständigen Wirtschaftsreformen, welche den tatsächlichen Problemen des Landes in keiner Weise gerecht wurden. Die Verkrustung des Systems, über dem autokratisch und selbstherrlich Tito schwebte, tat ein Übriges. Letzten Endes hat sich der Staat selbst zu seinem Ende geführt, entsprechend der Ansichten insbesondere Kardeljs. Für Kardelj endete die Revolution nämlich nicht mit dem Sturz des monarchischen Systems in Jugoslawien und mit der Machtübernahme der Kommunisten, der Staat sollte vielmehr am Ende als solcher selbst überflüssig werden, ganz im Sinne seiner Ideen zur Selbstverwaltung (vgl. z.B. S. 366ff.). So ist es nur logisch, dass im vorletzten Kapitel die wirtschaftliche und politische Krise bearbeitet wird, in der sich Jugoslawien von 1973 an befand (S. 499–530), um mit Titos Tod zu schließen (S. 557–586). Das Buch enthält noch einen Exkurs zu Tito und den Frauen in seinem Leben (S. 531–555). Zudem enthält das Buch 40 Photographien aus den verschiedenen Lebensstationen Titos, wovon ihn die meisten bei offiziellen Anlässen zeigen; leider finden sich fast keine Privatfotos. Der Darstellung folgt ein umfangreicher Anhang in Form eines Anmerkungsapparats und eines Literatur- und Personenverzeichnisses (S. 589–716).

Der Personenkult um Tito hat ihn überlebt, seine Verdienste als Staatsmann auf internationalem Parkett sind bedeutend, er schuf den „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, und ein Tyrann wie Stalin war Tito nicht, wie Pirjevec feststellt (vgl. S. 585). Dennoch wusste auch Josip Broz Tito rücksichtslos und mit eisernem Willen zu agieren, wenn es in seinem Interesse lag. Er verfügte aber auch über Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit, was nicht nur die Kriegsjahre, sondern auch sein riskanter Bruch mit Stalin bewiesen. Tito war daneben auch ein leidenschaftlicher Mensch, der nachtragend und unversöhnbar sein konnte (hierin ähnlich wie Stalin), und er liebte und lebte den Luxus (mit Privatinsel und Privatzoo), ganz konträr zu seinem Status als revolutionärer kommunistischer Führer. Tito hat es jedenfalls geschafft, als schillernde Persönlichkeit in die Geschichte einzugehen, und so manches Mal erliegt leider auch sein Biograph dem Glanze Titos, denn man hätte sich doch durchaus gewünscht, mehr hinter die Fassade und die blauen Augen dieses besonderen Mannes zu blicken. Zu wünschen wäre dem Werk auch, in einer künftigen Neuauflage nochmals präziser lektoriert zu werden. Ungeachtet all dieser Einwände hat Pirjevec dennoch ein wichtiges Buch vor allem zum Verständnis der jugoslawischen Zeitgeschichte vorgelegt.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu das Buch von Pirjevec‘ slowenischem Kollegen Božidar Jezernik, Titos Gulag auf der Insel Goli Otok, Klagenfurt 2014.
2 Vgl. den englischsprachigen Wikipedia-Eintrag zu Tijana Dapčević, in: https://en.wikipedia.org/wiki/Tijana_Dap%C4%8Devi%C4%87 (13.09.2017).
3 Vgl. z.B. TITO NIJE UMRO 4. MAJA: Svi su plakali, ali Jugoslaviju su lagali MESECIMA!, in: kurier.rs, 07.09.2017, URL: http://www.kurir.rs/vesti/drustvo/2813973/tito-nije-umro-4-maja-svi-su-plakali-ali-jugoslaviju-su-lagali-mesecima (13.09.2017); KAKO JE TITO PREDRIBLAO SSSR Čuveni okršaj zbog koga je Staljin POBESNEO, a Rusi su za njega saznali 11 GODINA KASNIJE, in: blic.rs, 24.07.2017, URL: http://www.blic.rs/riznica/istorije/kako-je-tito-predriblao-sssr-cuveni-okrsaj-zbog-koga-je-staljin-pobesneo-a-rusi-su-za/n1lsj2f (13.09.2017).
4 Vgl. z.B. Konačno rešena misterija! Ko je zaista bio Josip Broz Tito, in: dnevno.rs, 12.01.2014, URL: http://www.dnevno.rs/s-one-strane-verovatnog/misterija/1296/konacno-resena-misterija-ko-je-zaista-bio-josip-broz-tito (13.09.2017). Vgl. dazu auch Pero Simić, Tito. Tajna veka, 2. Aufl., Belgrad 2009.

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