Meinhof, Mahler, Ensslin – biographische Erklärungsversuche

Gallus, Alexander (Hrsg.): Meinhof, Mahler, Ensslin. Die Akten der Studienstiftung des deutschen Volkes. Mit einem Vorwort des Präsidenten der Studienstiftung des deutschen Volkes Reinhard Zimmermann. Göttingen 2016 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-30039-8 295 S. € 60,00

: Poesie und Gewalt. Das Leben der Gudrun Ensslin. Stuttgart 2017 : Klett-Cotta, ISBN 978-3-608-94918-6 350 S. € 22,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Gehrig, Wadham College, University of Oxford

Im August 1977, nur wenige Wochen, bevor der Angriff der Roten Armee Fraktion (RAF) auf den bundesdeutschen Staat im „Deutschen Herbst“ seinen Höhepunkt fand, wurde der ehemalige Verfassungsschutz-Chef Günther Nollau mit den Worten zitiert, dass die führende Rolle von Frauen innerhalb der RAF „irgendwas Irrationales in dieser ganzen Sache“ zeige. Vielleicht, meinte Nollau, sei dies „ein Exzeß der Befreiung der Frau“. Die Rolle dieser „Mädchen“, wie der „Spiegel“ im aufschlussreichen Duktus der Zeit im Artikel zum Thema „Frauen im Untergrund“ schrieb, in dem auch Nollau zitiert wurde, schockierte die bundesdeutsche Öffentlichkeit ebenso wie der gutbürgerliche Hintergrund vieler RAF-Mitglieder.1 Eine weitere Annäherung an diese beiden Aspekte der RAF-Geschichte versuchen Ingeborg Gleichauf mit ihrer Studie über das Leben Gudrun Ensslins und Alexander Gallus mit seiner von der Studienstiftung des deutschen Volkes in Auftrag gegebenen Edition der Stipendiatenakten Ulrike Meinhofs, Horst Mahlers und Gudrun Ensslins.

Im Kern fragen beide Bücher nach den Wurzeln der Radikalisierung führender RAF-Terroristinnen und Terroristen. Die Studienstiftung interveniert mit der Veröffentlichung der Stipendiatenakten von Meinhof, Mahler und Ensslin in eine öffentliche Debatte um die Vergabe von Fördergeldern an spätere führende Linksterroristen/-innen. Das 90-jährige Gründungsjubiläum der Stiftung im Jahr 2015 hatte erneut kritische Fragen und Angriffe auf die Studienstiftung mit sich gebracht. Hätte die Stiftung die Radikalisierung dieser drei Stipendiatinnen und Stipendiaten nicht vorhersehen können oder müssen? Hatte sie, wie es noch im Januar 2017 im Titel einer Rezension hieß, „die Falschen gefördert“?2 Dagegen wendet sich der derzeitige Präsident der Stiftung, Reinhard Zimmermann, in seinem Geleitwort sehr deutlich. In seiner Einführung zu den Akten beschreibt der Herausgeber Alexander Gallus, selbst ehemaliger Studienstiftler, das Projekt mit den folgenden Worten: „In den Blick sollen die Studienjahre dreier junger Menschen genommen werden, die zur Studienelite der Bundesrepublik zählten, von denen in überdurchschnittlicher Weise Leistung, Verantwortung und Initiative in der Gesellschaft, in der sie lebten, erwartet wurden“ (S. 18). Die Veröffentlichung der Stipendiatenakten lässt somit in den Bewerbungen und Semesterberichten Meinhof, Mahler und Ensslin selbst zu Wort kommen. Ähnliches treibt Ingeborg Gleichaufs Biographie, die „für das vorliegende Buch als Ziel formuliert [...], Gudrun Ensslin selbst sprechen zu lassen“ (Nachwort, S. 323).

Bei den Bänden handelt es sich um zwei verschiedene Textgattungen: eine Aktenedition mit einleitender historischer Kontextualisierung durch den Herausgeber und eine Biographie, die sich eher an ein breiteres Publikum richtet. Sowohl die Studienstiftung (in Zimmermanns Vorwort) wie Gleichauf beginnen von einem ähnlichen Standpunkt: Während die Stiftung ihre Rolle in den Biographien Meinhofs, Mahlers und Ensslins offenlegt, um der öffentlichen Annahme einer Mitverantwortung für die Radikalisierung führender RAF-Terroristen/-innen entgegenzutreten, möchte Gleichauf das populäre, in ihrer Lesart eindimensionale Bild Ensslins vor allem in den Standardwerken von Stefan Aust und Butz Peters, in Hans Magnus Enzensbergers Charakterisierung des Verhältnisses Ensslin / Baader sowie in Kinofilmen wie Uli Edels „Der Baader Meinhof Komplex“ (2008) zurechtrücken.3

Der Historiker Gallus stützt seine Einführung auf die gängige Literatur zur RAF-Geschichte. Demgegenüber verwebt die Germanistin Gleichauf die germanistische Ausbildung Ensslins, die eine Promotion über Hans Henny Jahnn plante, und ihren Hang zum Schreiben mit ihrer (Lese-)Biographie, um daraus ein komplexeres Persönlichkeitsbild zu konstruieren. Die Autorin und Leserin – nicht die Terroristin – Ensslin soll im Vordergrund stehen. Dies zieht sich bis zur Beschreibung von Ensslins Aussagen im Stammheim-Prozess: „Ensslins eigentliche Welt ist das Narrative. Sie möchte eigentlich viel mehr als eine Theorie zum Besten geben, sie möchte erzählen. Vom Kampf zwischen Innen und Außen. Vom verzweifelten Suchen nach einem Zusammenhang von Denken und Handeln.“ (S. 307) Das Ziel, diesen Suchprozess in seiner biographischen Offenheit zu schildern, gegen eine Vereinfachung von Ensslins Lebensweg, den sie als typisch für die bestehende Literatur erachtet, kennzeichnet Gleichaufs Biographie: „Gudrun Ensslin hätte Schriftstellerin werden können, Wissenschaftlerin, Musikerin, Journalistin, Lehrerin. Spielräume waren da. Es ist anders gekommen. Und niemand kann genau sagen, warum. Das bleibt irritierend, beunruhigend. [...] Ensslins Leben lässt sich auf verschiedene Weise erzählen. Entscheidend ist, dass sie als Erzählerin und nicht nur als Erzählte vorkommen darf.“ (S. 326)

Damit ist die Crux beider Bücher benannt: Wie beschreibt man die Entstehung des westdeutschen Linksterrorismus adäquat? Wo beginnt diese Geschichte, und wer ist Teil davon? Gallus sieht die Erklärungskraft der Studienstiftungsakten für die „Inkubationszeit des dann einsetzenden ‚roten Jahrzehnts’“ (S. 41) als begrenzt an. „Alle drei Akten liefern Informationen über die Wahrnehmungsweisen und Diskussionen im studentischen Milieu. [...] Welche Themen verfolgten, welche Autoren lasen, welche Probleme – ob wissenschaftliche, ethische, politische – beschäftigten sie [d.h. Meinhof, Mahler, Ensslin]? Die Antworten auf solche und weitere Fragen liefern gleichsam Mosaiksteine, die helfen, das Meinungsklima und den Zeitgeist einer Periode zu rekonstruieren.“ (S. 41) Da die Stipendiatenzeit Meinhofs (1934–1976) und Mahlers (geb. 1936) lange vor Gründung der RAF endete und nur Ensslin (1940–1977) bis kurz vor ihrer Beteiligung an der Frankfurter Kaufhausbrandstiftung vom April 1968 Geförderte der Stiftung war, kann man – Gallus folgend – allerdings wenig mehr ableiten: „Aus den Unterlagen Meinhofs, Mahlers und Ensslins lassen sich eigenwillige Querköpfe herauslesen und Tendenzen einer linken Politisierung, vereinzelt auch Radikalisierung oder wenigstens gesinnungsethischen Rigorosität erkennen. [...] Aus der unbefangenen Lektüre der Akten Meinhofs, Mahlers und Ensslins lässt sich deren spätere gesellschaftlich-politische Entkopplung und der Gang in den terroristischen Untergrund aber schwerlich erahnen.“ (S. 42)4 In der Tat sagen die Akten mehr zur Atmosphäre an westdeutschen Universitäten in den 1950er- und 1960er-Jahren, zur Elitenförderung dieser Zeit und dem Verhältnis von Stipendiaten/-innen zu ihren Betreuern innerhalb der Stiftung, ihren Vertrauensdozenten und Professoren als über die Radikalisierung Meinhofs, Mahlers und Ensslins. Nur eine Offenlegung aller Stipendiatenakten unter Berücksichtigung des Schutzes der Persönlichkeitsrechte ehemaliger Studienstiftler/innen könnte Antworten darauf liefern, wie außergewöhnlich oder normal der Förderverlauf Meinhofs, Mahlers und Ensslins war. Vielleicht wird die Studienstiftung zu einer solchen breiteren Perspektive irgendwann bereit sein. Gerade das Genre und die eigentümliche Prosa der Semesterberichte, aber auch die Gutachten würden sich für eine Längsschnittanalyse in mehrfacher Hinsicht anbieten.

Liefert ein biographischer Zugang mehr Antworten für den Weg in den Terrorismus? Ingeborg Gleichauf versucht in ihrer chronologisch angelegten Erzählung aufzubrechen, was sie als vereinfachende und holzschnittartige Zuschreibungen anderer auf Gudrun Ensslins Lebensweg betrachtet. Die oft kolportierte Reaktion Ensslins auf den Tod Benno Ohnesorgs im Juni 1967, wenn sie denn so stattgefunden hat, sieht sie nicht als Bruchpunkt. „Dieser Moment der Radikalisierung bei Gudrun Ensslin, wann genau war er? Es gibt diesen Moment überhaupt nicht. Sie hat sich bis in die Mitte des Jahres 1967 hinein kontinuierlich entwickelt, ihre Lebens- und Denkperspektiven haben sich permanent erweitert.“ (S. 133f.) Gleichauf berücksichtigt nur kurz – vielleicht etwas zu kurz – Ensslins Rolle im Editionsprojekt ihres damaligen Lebensgefährten Bernward Vesper. Dieser Ausflug in die Edition des Werks von Bernwards Vater Will Vesper, einem überzeugten Nationalsozialisten, hätte in Gleichaufs lesebiographischem Ansatz sicher mehr Aufmerksamkeit verdient gehabt. War es dann also der negative Einfluss von Andreas Baader, Ensslins neuem Partner? Auch dies verneint Gleichauf: „Freundinnen und Freunde aus ihrer Jugendzeit zeigen sich bis heute tief verunsichert, ja geradezu erschüttert von Ensslins ‚Gesinnungswandel’. Als Antwort muss meist der ‚Gesinnungsterrorist’ Baader herhalten. Aber ist es wirklich so einfach? [...] So einfach sollte man es sich nicht machen. Schließlich hat sich Gudrun Ensslin in ihrem bisherigen Leben als äußerst vielschichtige Persönlichkeit gezeigt.“ (S. 151f.) Es ist sicher richtig, dass Ensslin und Meinhof „nicht einfach blind einem [folgen]. Sie sind keine Verführten. Trotzdem ist für beide Andreas Baader die zentrale Figur innerhalb der RAF. Sie haben sich nicht von guten Mädchen in böse Frauen verwandelt. Ihnen ihren selbstständigen politischen Willen abzusprechen, hieße, sie kleiner zu machen, als sie sind.“ (S. 237) Wie erklären wir aber dann die Radikalisierung einer sprachbegabten Studentin und Stipendiatin wie Gudrun Ensslin? Problematisch bleibt in Gleichaufs Biographie – wie in vielen anderen Darstellungen zur RAF-Geschichte, die Zeitzeugenaussagen zur Charakterisierung führender RAF-Mitglieder benutzen –, dass nicht ausreichend erläutert wird, warum manche Zeitzeugenerinnerungen glaubhaft erscheinen, während andere nicht berücksichtigt oder diskreditiert werden. Darüber hinaus steht Gleichaufs Einschätzung der germanistischen Begabung Ensslins in deutlichem Gegensatz zum langwierigen Aufnahmeprozess und den gutachterlichen Äußerungen in Ensslins Studienstiftungsakte.

Die Veröffentlichung des Materials der Studienstiftung und die Kontextualisierung von Ensslins Biographie in ihrer Prägung durch ihre Literaturfaszination machen einen schon länger bestehenden Perspektivwechsel in der Forschung zum Linksterrorismus deutlich, der die Handlungsoptionen der Protagonistinnen und Protagonisten sowie die Offenheit der biographischen Entwicklungen hervorhebt; dies fügt der Forschung neue Details hinzu. Trotzdem bleibt der Leser etwas ratlos zurück. Wie können wir eine Geschichte der RAF schreiben, die nicht damit schließt, dass niemand genau wisse, „warum“ die RAF entstand, und die unverändert „irritierend“ wirke (Gleichauf, S. 326)? Eine stärkere Kontextualisierung der Lebenswege führender RAF-Mitglieder nicht nur in ihren biographischen Entwicklungen, sondern auch in weiteren linksradikalen Milieus und Subkulturen der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre, eine ernsthafte Beschäftigung mit ihrer Ideologie und deren Zusammenhängen in radikalen Befreiungstheorien der „Dritten Welt“ und des Individuums sowie der Rolle staatlicher Gegenreaktion für die Eskalation der Gewalt erscheint nach wie vor geboten. Die hierzu schon existierende Literatur – vor allem zur Radikalisierung linker Subkulturen, in denen Meinhofs, Mahlers und Ensslins Sprung in den Terrorismus geschah – hätte in beiden Büchern mehr Beachtung finden können.5 Auch in Zukunft besteht noch weiteres Potential für eine Geschichte des westdeutschen Linksterrorismus in seinen deutsch-deutschen wie internationalen linksradikalen Netzwerken der Zeit. Nicht weniger interessant erscheinen freilich diejenigen Denk-, Bildungs- und Berufswege des herausragenden akademischen Nachwuchses der 1960er- und 1970er-Jahre, die gerade nicht in die Gewalt führten.

Anmerkungen:
1 Für diese Charakterisierung des Phänomens RAF siehe: Frauen im Untergrund: „Etwas Irrationales“, in: Spiegel, 08.08.1977, S. 22-33, <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40763874.html> (10.04.2017).
2 Christopher Dowe, Die Falschen gefördert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.01.2017, S. 8, <http://www.faz.net/aktuell/politik/politische-buecher/meinhof-mahler-ensslin-die-falschen-gefoerdert-14670453.html> (10.04.2017). Im Gegensatz zur Überschrift, die vermutlich von der Redaktion stammt, argumentiert Dowe in seiner Rezension differenziert und vorsichtig.
3 Stefan Aust, Der Baader-Meinhof-Komplex, Hamburg 1985, zahlreiche weitere Auflagen und Ausgaben (eine erneut erweiterte Neuausgabe ist für Mai 2017 angekündigt); Butz Peters, Tödlicher Irrtum. Die Geschichte der RAF, Berlin 2004, 4. Aufl. Frankfurt am Main 2008; Hans Magnus Enzensberger, Tumult, Berlin 2014.
4 Siehe zuvor auch Alexander Gallus, Ein Anfang, der das Ende nicht erwarten ließ. Die Studienstiftler Meinhof, Mahler, Ensslin, Vesper und die Eliteförderung der frühen Bundesrepublik – eine Aktenlektüre, in: Jahrbuch Extremismus & Demokratie 24 (2012), S. 13-29.
5 Eine Auswahlbibliographie, zuletzt aktualisiert am 06.08.2013, findet sich auf: <http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/neue-buecher-zum-thema-raf-im-spiegel-der-kritik> (10.04.2017). Daneben ist die neuere englischsprachige Literatur zu diesen Themenkomplexen in beiden Büchern ebenfalls kaum erwähnt. Siehe z.B. Christina von Hodenbergs Sammelrezension zu Timothy Scott Brown, West Germany and the Global Sixties. The Antiauthoritarian Revolt, 1962–1978, Cambridge 2013, und ders. / Andrew Lison (Hrsg.), The Global Sixties in Sound and Vision. Media, Counterculture, Revolt, Basingstoke 2014, in: H-Soz-Kult, 11.01.2016, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22382> (10.04.2017).