G. Gorodetsky (Hrsg.): Maiski-Tagebücher

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Titel
Die Maiski-Tagebücher. Ein Diplomat im Kampf gegen Hitler, 1932–1943


Herausgeber
Gorodetsky, Gabriel
Erschienen
München 2016: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
896 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Weber, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt an der Oder

Iwan Michailowitsch Maiski war Stalins Botschafter in London in den entscheidenden Jahren der europäischen Zwischenkriegszeit. Loyal bis zur Verleugnung eigener Überzeugungen und selbstbewusst auf dem diplomatischen Parkett auftretend, diente er der sowjetischen Außenpolitik von der Litvinovschen Strategie der „kollektiven Sicherheit“ über den Hitler-Stalin-Pakt, der das radikale Ende dieses europäischen Sicherheitssystems bedeute, bis in das kriegsentscheidende Jahr 1943, in dem sich der Sieg Stalins abzeichnete. In kommoder Entfernung vom Kreml überstand Maiski die Säuberungen des Außenkommissariats in den späten 1930er-Jahren, als Stalin nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 dem Schulterschluss mit Hitler den Vorzug vor einem Bündnis mit den westlichen Großmächten Frankreich und Großbritannien gab. Erst nach seinem erfolglosen Ringen um die Eröffnung der zweiten Front in Europa, wurde Iwan Maiski 1943 zur Strafe nach Moskau zurückbeordert und degradiert, später verhaftet und nach Stalins Tod allmählich rehabilitiert. Seine letzten Jahre verbrachte Maiski an der Akademie der Wissenschaften und mit dem Verfassen von sorgsam abwägenden Memoiren. Dass er in der Londoner Zeit mit literarischem Geschick ein faszinierendes Tagebuch geführt hatte, dessen Offenheit weit über die publizierten Erinnerungen hinausging, entdeckte der renommierten Russlandhistoriker Gabriel Gorodetsky erst nach dem Ende des Kalten Krieges. Ihm ist nun – im erfolgreichen Verbund mit dem C.H. Beck Verlag – die wissenschaftlich und editorisch überzeugende Herausgabe dieser eindrucksvollen Quelle zur europäischen Geschichte gelungen. Während die deutsche Ausgabe auf einen Band gekürzt wurde, erschienen die Tagebücher unter dem englischen Titel „The Maisky Diaries. Red Ambassador to the Court of St. James’s 1932–1943“ in drei Bänden bei Yale University Press, ebenfalls von Gabriel Gorodetsky herausgegeben.

Die Tagebucheintragungen werden von Gorodetsky profund eingeleitet, kontextualisiert und kommentiert. Auf den letzten 50 Seiten schließt ein Essay über Maiskis schwieriges Schicksal nach der Abberufung den Band ab, der einige aufschlussreiche Erkenntnisse zu den historischen Entwicklungen und insbesondere zu den britisch-sowjetischen Beziehungen der 1930er-Jahre bereithält. Maiski beginnt seine Aufzeichnungen an einem Tiefpunkt dieser Beziehungen nach dem so genannten Metro-Vickers-Prozess, bei dem die sowjetische Regierung 1933 Sabotage- und Spionageanklage gegen sechs britische Ingenieure erhob. Doch selbst ohne diesen frühen stalinistischen Schauprozess, der die tiefe Feindparanoia der bolschewistischen Sowjetunion offenbarte, vertritt Maiski in London mit der Sowjetunion einen Staat, dem die Mehrzahl der Briten und die politische Elite des alten Empire bestenfalls argwöhnisch und meist offen feindselig gegenüberstanden. Maiski und seine, dem angenehmen Leben der Bourgeoisie nicht abgeneigte Frau Agnia, begegnen diesen Feindseligkeiten – die direkten Angriffe russischer Emigranten entbehren dabei bisweilen nicht einer komischen Tragik – mit Charme, Beharrlichkeit und diplomatischem Geschick. Beide agieren aus der tiefen persönlichen Überzeugung, dass ein Bündnis zwischen den westlichen Großmächten und der bolschewistischen Sowjetunion zwar eine ideologische „Abweichung“ darstellt, dieses Bündnis angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung aus Deutschland aber Vorteile bietet und anzustreben ist. Generell geben die Aufzeichnungen des Botschafters einen interessanten Aufschluss über das Wechselverhältnis von ideologischen und pragmatisch-realpolitischen Motiven. Dass beide das politische Handeln in jenen Jahren beeinflussten, ist nicht überraschend. Dass auf Seiten Großbritanniens die ideologische Feindschaft offensichtlich schwerer wog als bislang angenommen, hat der Historiker Ian Kershaw zwar unlängst in seinem Buch „Höllensturz“ betont.1 Mit den Maiski-Tagebüchern liegen uns nun die unmittelbaren Aufzeichnungen eines Zeitgenossen vor. Der Bolschewist Stalin war offenbar, bei allem ebenso verwurzelten Misstrauen gegenüber der imperialistisch-kapitalistischen Großmacht, pragmatischer als Chamberlain und ein Großteil der britischen Conservatives, die lieber mit Hitler verhandelten als mit den unzivilisierten Kommunisten. Die Tagebucheintragungen der Monate zwischen dem deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei und der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes legen nahe, dass vor allem die Abneigung gegen die obskure Macht aus dem Osten und die Angst vor einer kommunistischen Welteroberung die britische Appeasementpolitik beflügelten. Der britische Pragmatismus setzte sich erst im Juni 1941 mit der so genannten „Lesser of two evils“-Rede von Winston Churchill durch, mit dem Maiski eine gute Verbindung hielt. Mit Entsetzen verfolgte Maiski dagegen am 29. März 1938 eine Sitzung im britischen Oberhaus, in der einige Redner Hitler huldigten und eine preisgünstige englische Ausgabe von „Mein Kampf“ gefordert wurde, „so beeindruckt“ zeigte man sich „von der Tiefgründigkeit und Hellsichtigkeit der Schriften des Führers“ (S. 202). Die Geschehnisse in Osteuropa, vor allem in der Tschechoslowakei aber – „einem Land, das 99 Prozent [der Briten] nicht lokalisieren könnten“ (S. 202) – waren dem britischen Oberhaus herzlich egal. Maiskis Entsetzen, das in den Aufzeichnungen der Jahre 1938 und 1939 immer wieder zutage tritt, erscheint glaubwürdig, zumal er bis zum Hitler-Stalin-Pakt an der Litvinovschen Idee eines multilateralen europäischen Sicherheitssystems festhielt und dieses für ihn die einzige Möglichkeit blieb, den kontinentalen Frieden zu erhalten. In diesem Sinne war Iwan Maiski, wie der Titel angibt, „ein Diplomat im Kampf gegen Hitler“ und doch wirkt das Wort Kampf an dieser Stelle überzogen. Denn zuallererst war Maiski Stalins Gesandter, der mit den klassischen Mitteln der diplomatischen Sprache, auf Empfängen und in Hinterzimmern die Interessen seines Landes durchzusetzen hatte. So verteidigte er schließlich den Pakt mit Hitler, der ihn in den Londoner Kreisen vorübergehend zum Paria machte und – entgegen seiner eigenen Erwartung – in Moskau keinesfalls zur Unperson. Die Frage, warum Stalin Iwan Maiski so lange auf dem Londoner Posten beließ, während um ihn herum Litvinovs Diplomaten und Botschafter verhaftet und nach Moskauer Manier kaltgestellt wurden, dürfte sich vielen Lesern stellen. Es waren neben der großen Dienstbarkeit eben Maiskis Fähigkeit, gerade nicht als Kämpfer aufzutreten, sondern gescheit belastbare Netzwerke zu knüpfen sowie die fundierte und nur schlecht zu ersetzende Kenntnis der britischen Politik, die ihm das Leben retteten. Und es war Stalins Misstrauen gegenüber dem deutschen Bündnispartner. Dass der Pakt mit Hitler nicht ewig halten würde, war Stalin bewusst, wenn ihm auch der Zeitpunkt des Bruchs missfiel. Und für alle Eventualitäten war es ratsam, in London einen erprobten und anerkannten Diplomaten vorzuhalten. Gorodetskys Argument, dass Stalin den Pakt ohnehin nur geschlossen habe, da er mit baldigen Friedensverhandlungen rechnete und das Gebiet gesichert haben wollte, dass er als sowjetische Interessenssphäre definierte, ist spannend. Vor dem Hintergrund der konzilianten europäischen Politik, die Hitlers Eroberungen noch stets legitimiert hatte, klingt die Annahme weiterer Friedensverhandlungen plausibel und lässt Stalins Handeln im Herbst 1939 in einem neuen Licht erscheinen. Als der Hitler-Stalin-Pakt im Juni 1941 schließlich brach, griff Stalin mit Maiski auf einen angesehenen Botschafter in London zurück, der die sowjetisch-britische Allianz begrüßte und engagiert pflegte. Bis Stalin Maiski und letztendlich auch die Briten im siegesgewissen Jahr 1943 nicht mehr benötigte. Vordergründig scheiterte Maiski am britischen Zögern, eine zweite Front in Europa zu eröffnen. Tatsächlich hatte er nun seine Schuldigkeit getan. Deprimiert und mit ungutem Gefühl verließen Iwan Maiski und seine Frau Agnia im Sommer 1943 London; die Stadt, die ihnen viele Jahre eine sichere Obhut geboten hatte. Seine Tagebücher hütete er bis zu seiner Verhaftung im Februar 1953. Sie wurden vom Ministerium für Staatssicherheit beschlagnahmt und verschwanden in den Untiefen der sowjetischen Archive. Dass sie nun erscheinen konnten, ist großartig.

Anmerkung:
1 Ian Kershaw, Höllensturz. Europa 1914 bis 1949, München 2016, S. 409–434.

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