H. Türk: Ludwig Andreas Jordan und das Pfälzer Weinbürgertum

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Titel
Ludwig Andreas Jordan und das Pfälzer Weinbürgertum. Bürgerliche Lebenswelt und liberale Politik im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Türk, Henning
Reihe
Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft 12
Erschienen
Göttingen 2016: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Langewiesche, Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität Tübingen

Türk will mit seiner Habilitationsschrift (Duisburg-Essen) „die Liberalismusforschung vom Kopf auf die Füße stellen“ (S. 19). Mit „Kopf“ meint er Ideen-, Begriffs- und Parteiengeschichte, mit „Füße“ den Ort, in dem Bürger lebten und politisch handelten. Um beide Ebenen zu verbinden, ist die Studie individual- und familienbiographisch angelegt. Eine reiche Quellenüberlieferung, die ein ausführliches Tagebuch und Briefe einschließt, macht diesen Ansatz möglich. Er ist dreistufig angelegt. Nach einer Skizze zur Ausgangssituation – ererbtes Kapital und Wissen im Weinbau, Bedeutung der Reformen in der französischen Zeit, insbesondere Verkauf von Nationalgütern, so dass die Vermögenden ihren Grundbesitz erweitern konnten – wird zunächst „Jordans Weg ins Bürgertum“ (Kap. 3) dargelegt, dann folgt je ein Kapitel über den Wirtschaftsbürger und (am ausführlichsten) über den politischen Bürger.

Jordans Sozialisation war darauf ausgerichtet, bürgerliche Wertvorstellungen zu verinnerlichen und zu Handlungsroutinen zu verfestigen. Als er volljährig wurde, hielt er als Selbstverpflichtung in seinem Tagebuch fest, was ein gutes bürgerliches Leben ausmacht. Im Kern stand „Rechtschaffenheit“. Wie der bürgerliche Tugendkatalog gelebt wurde und wo es zu Brüchen kam, zeigt Türk eindringlich. Wenn Jordan reiste, nahm er das Neue mit dem Blick des angehenden Wirtschaftsbürgers wahr, im Privaten wurden Tugenden der Empfindsamkeit eingeübt. Der Freundschaftskult mit seinen starken Emotionen gehörte dazu. Die Freundschaft mit einem Sohn aus dem Hause Buhl hielt ein Leben lang, sie wurde durch Heiraten und später durch wirtschaftliche und politische Verbindungen verfestigt. Die Familie bestimmte das Leben, doch sie war nicht die Idylle, die Jordan in seinem Tagebuch und in Briefen entwarf. Dem Vater mußte die Zustimmung zur Heirat abgerungen werden – die Hilfe der Mütter war hier wichtig – und er hielt Distanz zum Familienleben des Sohns. Das Ideal der Liebesheirat ließ sich mit wirtschaftlicher Kalkulation von Heiratsoptionen verbinden. Diese Einstellung gilt generell für den Habitus, den Jordan auf seinem „Weg ins Bürgertum“ entwickelte. Was sich für ihn und seine Familie wirtschaftlich auszahlte, diene zugleich dem zivilisatorischen Fortschritt. „Gewinnstreben, Fortschrittsoptimismus und Patriotismus“ (S. 91) liefen in seinem Weltbild zusammen.

L. A. Jordan wurde ins Wirtschaftsbürgertum geboren, doch als Individuum hat er sich zum Wirtschaftsbürger gebildet. Wie diese Art von Bildung sich zu den Bildungsnormen im Bildungsbürgertum verhält, untersucht Türk nicht. Jordan war mit Ludwig Häusser befreundet und kooperierte mit ihm. Was solche Überschneidungen von wirtschafts- und bildungsbürgerlichen Kreisen für die Sozialformation Bürgertum bedeutet hat, ist noch nicht erforscht. Die Biographie des bildungsbeflissenen Unternehmers und Politikers Jordan böte einen Zugang. Als Weingutsbesitzer war er ein Agrarinnovator, der sich von Justus Liebig beraten ließ, um die Weinproduktion auf wissenschaftlicher Grundlage zu verbessern. In Wirtschaftsorganisationen diskutierte er darüber mit anderen Unternehmern. Innovativ war er auch im Marketing. Er trat auf Weltausstellungen auf und vermarktete mit Hilfe der Preise, die er gewann, seinen Wein. Als erfolgreicher Weingutsbesitzer und Weinhändler wuchs er, wie schon sein Vater, in das Kreditgewerbe hinein und entwickelte sich zu einem Großinvestor in der Pfalz. So hat er das unternehmerische Risiko diversifiziert und seinen Aktionsradius erweitert.

Eine Grundlinie in seinem wirtschaftlichen und politischen Engagement lautete: der Staat soll die strukturellen Voraussetzungen schaffen, doch der Bürger handelt in allen Gesellschaftsbereichen und auf allen Ebenen eigenständig, denn er kann es besser als die staatliche Bürokratie. Jordan repräsentierte ein selbstbewusstes kleinstädtisch-ländliches Bürgertum, das in der Industrialisierung eine Fortschrittskraft sah, die fähig ist, allen Menschen ein auskömmliches Leben zu ermöglichen. Der Agrarunternehmer Jordan investierte einen Teil seines Kapitals, das er als Weinproduzent und -händler erwirtschaftete, in industrielle Unternehmungen und in Verkehrsbetriebe (Eisenbahn und Dampfschifffahrt), die der wirtschaftlichen Erschließung dienten. Als Wirtschaftsbürger engagierte er sich in einer Vielzahl von Interessenorganisationen und übernahm in ihnen immer wieder Leitungsfunktionen. Das Organisationsnetz, in dem er tätig war, weitete sich von der Region Pfalz über das Land Bayern bis auf die nationale Ebene, als er im Deutschen Handelstag aktiv wurde. Der Unternehmer verband sein Interesse an einem einheitlichen deutschen Wirtschaftsraum problemlos mit dem politischen Willen zu einem föderativen deutschen Nationalstaat, der als Machtstaat den Außenhandel erleichtert und absichert.

Jordans Erfolg als Wirtschaftsbürger begründete seinen Erfolg als politischer Bürger. Und der politische Aufstieg half wirtschaftlich. Denn die Netzwerke, die er im politischen Raum knüpfte, kamen ihm auch als Unternehmer zugute. Die Basis bildeten die Gemeinde und die Region. Sein Ansehen dort führte ihn in die bayerische Landespolitik und schließlich in die Politik auf nationaler Ebene. Er verkörperte den Honoratiorenpolitiker, Ämter wurden ihm angetragen, Wahlen, in denen er vor den Wählern Rechenschaft ablegen sollte, waren ihm zuwider. Doch er legte Wert auf die Zustimmung seiner Mitbürger. Bei ihnen bedankte er sich, als er im Juli 1848 von der Kreisregierung zum Bürgermeister in Deidesheim ernannt wurde. Dieses Amt, das er 1852 aus Protest gegen die Regierungspolitik niederlegte, hatte schon sein Vater etliche Jahre innegehabt. Zuvor war Jordan bereits Mitglied des Gemeinderats gewesen, 1848 rückte er als Ersatzmann in den bayerischen Landtag und ging von dort in das Frankfurter Vorparlament. In die Paulskirche wurde er nicht gewählt, wohl aber mehrfach in den Landtag, dann in das Zollparlament und schließlich in den Reichstag.

Jordans Liberalismus richtete sich auf alle politischen Ebenen. Die Gemeinde sollte gegenüber dem Staat möglichst selbständig sein, die Parlamente sollten den politischen Kurs bestimmen. An der Institution Monarchie hielt er fest, die Republik hielt er für gefährlich, erst recht seit den Revolutionserfahrungen. Politik sollte in rechtlich geordneten Bahn verlaufen. Jordan wollte den Nationalstaat als Bundesstaat unter preußischer Führung. Die neuere Forschung zum föderativen Nationalismus zieht Türk nicht heran, um Jordans Position genauer zu bestimmen. Auch dessen Vorstellung von „Sozialliberalismus“ (S. 289) hätte im Vergleich präzisiert werden können. Soziales Mäzenatentum gehörte dazu, aber auch Vorstellungen, wie das Steuerrecht sozialer gestaltet werden sollte.

In Jordans Leben wird ein bislang zu wenig erforschter katholischer Liberalismus sichtbar. Auch er fordert den Vergleich. Türk nennt Jordan einen „gläubigen Katholiken“ (S. 225), ohne genauer darzulegen, worin sich dieser Glauben äußerte. Es war ein Glauben, der sich als aufgeklärt verstand. Prozessionen empfand Jordan als „lächerlich“ (S. 225), Klöster lehnte er ab, engagiert und erfolgreich kämpfte er gegen den Versuch der Regierung, den Barmherzigen Schwestern das Spital der Gemeinde zu übergeben. Jordan erscheint als ein antiklerikaler Katholik, der gleichwohl der Heirat seiner Tochter mit einem Protestanten erst zustimmte, als dieser zugestand, dass ihre Töchter die Religion der Mutter und ihre Söhne die des Vaters annehmen sollten. Als ein Kaplan deshalb der Mutter die Beichte verweigerte, notierte Jordan in seinem Tagebuch erbost: „Das Pfaffenthum wird immer frecher.“ (S. 355)

Türks Studie bereichert die Bürgertums- und die Liberalismusforschung gleichermaßen. Der Blick richtet sich auf ein Wirtschaftsbürgertum, das im Agrarsektor vermögend wurde und auf Industrialisierung setzte. In der Politik war es von der Gemeinde bis zum Nationalstaat auf allen Ebenen aktiv. Das Selbstbewußtsein dieses Bürgertums gründete auf wirtschaftlichem Erfolg, der in politisches Ansehen und Wahlämter führte. Seine weltoffene Bildung beruhte nicht auf staatlichen Bildungspatenten. Der kleindeutsch-preußische Nationalstaat erfüllte Jordans Hoffnungen. Mit den Wandlungen des deutschen Liberalismus, die mit dieser Zäsur einsetzten, ist das Leben des Pfälzer Weinbürgers nicht mehr verbunden.