E. Abel: Kunstraub – Ostforschung – Hochschulkarriere

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Titel
Kunstraub – Ostforschung – Hochschulkarriere. Der Osteuropahistoriker Peter Scheibert


Autor(en)
Abel, Esther
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Westemeier, Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinik RWTH

Die Erkenntnis, dass ehemalige SS-Führer in der Bundesrepublik an Universitäten Karriere machen konnten, ist schon lange kein Skandal mehr, wirkt aber noch immer irritierend. Zu diesem Personenkreis zählt Peter Scheibert. Während des Zweiten Weltkriegs als subalterner SS-Führer mit dem Raub von Kulturgütern in den besetzten Ländern Europas beauftragt, hatte er später in der Bundesrepublik von 1961 bis 1981 den Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte an der Universität Marburg inne. Esther Abel legt mit ihrer bestechenden Studie „Kunstraub – Ostforschung – Hochschulkarriere. Der Osteuropahistoriker Peter Scheibert“ nun dessen sozialgeschichtliche Biografie vor. Sie schließt dabei Fragen nach der Entwicklungslinie von der belasteten „Ostforschung“ zur „Osteuropäischen Geschichte“, der Gründung des Herder-Instituts wie auch des Umgangs bundesdeutscher Akademiker mit NS-Vergangenheiten der eigenen Lehrer ein. Nie deskriptiv bleibend, gliedert Abel ihre Arbeit dazu in drei Teile: Scheiberts Leben und Werk in der Zeit vor 1945 mit Weimarer Republik und Nationalsozialismus, in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie in der Bundesdesrepublik. Im Zentrum steht dabei seine Einordnung in die Fachgeschichte (S. 11). Somit werden inhaltliche und personelle Kontinuitäten und Brüche innerhalb der Osteuropäischen Geschichte deutlich.

Scheibert, 1915 in Berlin-Lichterfelde geboren, wuchs mit seinen drei Brüdern in einem großbürgerlichen, preußisch-konservativen Elternhaus auf, der Großvater mütterlicherseits war Direktor bei I.G. Farben, der Vater Generalstabsoffizier in der preußischen Armee. Nach dem Abitur 1933 studierte er finanziell gutgebettet Geschichte, Kunstgeschichte, Slawistik und Philosophie. Hatte er sich in der sogenannten Kampfzeit politisch nicht für die Nationalsozialisten hervorgetan, trat er nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler 1933 in die SA und im Mai 1937 in die NSDAP ein, was zu diesem Zeitpunkt nach der Aufnahmesperre nur in Ausnahmefällen möglich war. 1939 promovierte Scheibert mit dem Thema „Staat und Volk in Finnland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ bei Hans Uebersberger, der zu den nationalsozialistischen Ostforschern zählte, die eine rassistische Lebensraumpolitik verfolgten (S. 26–27).

Der offenbar ungediente Scheibert wurde mit Kriegsbeginn nicht zur Wehrmacht einberufen, sondern erhielt beim Auswärtigen Amt eine Anstellung als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter, wo er Beuteakten auswertete. Nach dem deutschen Überfalls auf die Sowjetunion teilte ihn das Auswärtige Amt dem Sonderkommando Künsberg (SKK) zu, das amtliche Akten, Bibliotheken und Kunstsammlungen systematisch „sicherstellen“ und rauben sollte.1 Bereits im August 1941 wurde das SSK organisatorisch als „Bataillon der Waffen-SS z.b.V.“ in Himmlers bewaffneten Arm der Schutzstaffel (SS) überführt. Obwohl Scheiberts SS-Personalakte im Bestand des ehemaligen Berlin Document Center nicht überliefert ist, lässt sich rekonstruieren, dass er sich in dieser Phase zur Waffen-SS meldete und im Mai 1942 im Rang eines SS-Untersturmführers (Fachführer aufgrund seiner akademischen Qualifikation) aufgenommen wurde. Abel zitiert dazu aus den Erinnerungen von Nicolaus Sombart (1923–2008), der Scheibert freundschaftlich verbunden war. Demnach hatte Letzterer den Eintritt seiner Zeit damit begründet, in der SS würde eine „europäische Elite“ herangebildet und es gelte, über eine persönliche Mitgliedschaft „der Entwicklung den richtigen Vektor zu geben.“ 2 Es folgten u.a. Verwendungen beim Reichssicherheitshauptamt in der Abteilung „Wissenschaftlich-methodischer Forschungsdienst“ (1943) und der Einsatz in Italien mit dem „Sonderauftrag zur Sicherung von Kunstschätzen“ (1944). Nach einem Zwischenspiel an der Deutschen Gesandtschaft in Budapest erlebte Scheibert das Kriegsende in Österreich. Mit Dokumenten lässt sich nicht belegen, ob und wo er in Gefangenschaft war, eine Internierung konnte er wohl vermeiden. Zur Rolle Scheiberts im NS-Staat stelle Abel klar fest, dass er sich „eindeutig und unbestreitbar aktiv in das System eingebracht“ hatte (S. 121).

1946 tauchte Scheibert in Göttingen wieder auf (S. 123–125), 1948 beantragte er seine Entnazifizierung. Zunächst in Kategorie IV der Mitläufer („hat den Nationalsozialismus unterstützt“) eingestuft, reihte ihn der Entnazifizierungshauptausschuss Hannover im Mai 1950 abschließend als „entlastet“ in die Kategorie V ein (S. 125–135); die Zugehörigkeit zur SS hatte er nicht angegeben und sparte diese Angabe auch zukünftig aus.

Seine wissenschaftliche Karriere hatte er parallel bereits wieder aufgenommen. Zunächst bei der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft tätig, war er seit 1952 Lehrbeauftragter für Osteuropäische Geschichte an der Universität Köln, wo er sich 1955 habilitieren konnte. 1959 ebenda zum außerordentlichen Professor bestellt, übernahm Scheibert 1961 die Professur für Osteuropäische Geschichte an der Universität Marburg. Überdies war er seit 1957 Mitglied des DFG-Bibliotheksausschusses und gehörte ab 1965 dem Vorstand des in Marburg ansässigen Herder-Instituts an, das dort 1950 gegründet worden war. Hinsichtlich des Gründungsvorgangs steht es „wie keine zweite Institution für die inhaltliche, personelle sowie institutionelle Kontinuität der Ostforschung vor 1945“ (S. 147). Hier kommt eine Stärke von Abels Monographie zum Tragen, die auf neuestem Forschungstand die Disziplingeschichte mit deren Nähe zur Politik und im Kontext des Ost-West-Konflikts als Gerüst in ihre Studie einbaut. Scheibert selbst muss für die Zeit vor 1945 „durch seine Einbindung in die Forschung, die den Ostfeldzug massiv unterstützte, als Ostforscher bezeichnet werden“, als Hochschullehrer in der Bundesrepublik kann er aber der „Osteuropäischen Geschichte [Kursivierungen durch Abel] zugeordnet“ werden (S. 171).

Während der 1968er Studentenbewegung stemmte sich Scheibert vehement gegen Reformen an den Hochschulen, befürchtete Machtverlust und eine kommunistische Unterwanderung der Universitäten. Er gehörte zu den konservativen Initiatoren des „Marburger Manifests“, nach eigener Bekundung eine „frühe und nicht völlig veraltete Warnung der Professoren vor falschen ‘Demokratisierungstendenzen‘ in der Universität“ (S. 190) und engagierte sich im „Bund Freiheit der Wissenschaft.“ Diese akademische Bewegung richtete sich nicht nur gegen radikale linke Studenten, sondern vor allem gegen die Hochschulreform der Universitäten und die Hochschulpolitik der sozialdemokratisch regierten Bundesländer.

In den 1970er-Jahren hielt sich Scheibert zumeist in den USA auf (S. 228). Gastprofessuren brachten ihn u.a. im Wintersemester 1972/73 an die Columbia University. Es sei hier auf den Zufall verwiesen, dass der Konstanzer Literaturwissenschaftler Hans Robert Jauß im Frühjahr 1973 dort ebenfalls lehrte – zwei ehemalige SS-Führer als Dozenten in New York.

1980 wurde Scheibert mit Erreichung der Altersgrenze emeritiert. Sein Opus magnum über die Anfangsjahre des Sowjetregimes „Lenin an der Macht“, an dem er nahezu 20 Jahre gearbeitet hatte, erschien 1984. Er, der sich ein Professorenleben lang mit den geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für die Oktoberrevolution auseinandergesetzt hatte, erörterte hier deren Folgen. Abel bezeichnet diese Arbeit im tatsächlich wörtlichen Sinn als Scheiberts Lebenswerk, da es auch inhaltlich nicht losgelöst von dessen Biografie betrachtet werden kann (S. 244). „Unter Abkehr von allen Utopie-verklärenden Elementen, die in den 1950er Jahren bei Scheibert noch zum Tragen gekommen sein mögen“ (S. 238), beschreibt er Lenin in seinem über 700 Seiten langen Werk über Terror, Tod und Grausamkeit als „mitleidlos Hassenden.“ Das Buch sei „als Versuch der inneren Bewältigung der [Marburger] kommunistischen Offensive konzipiert worden,“ hatte Scheibert in seinem Vorwort dargelegt.3 Er starb am 31. März 1995 in Berlin.

Abel gelingt es mit ihrer auf umfassenden Recherchen basierenden Arbeit vorbildlich, die Karriere Scheiberts zu rekonstruieren. Ohne voyeuristischen Blick spricht sie Scheiberts Homosexualität nur dort an, wo sie unmittelbar auf die Biografie Einfluss nahm (S. 13). „Sein Drang, aufzufallen, sein Handeln, stets in greifbarer Nähe des Übertreibens, des Schrillen, durchzieht seine gesamte Biografie“, urteilt Abel (S. 245). Obwohl man sich vielleicht noch etwas mehr Informationen über den Privatmenschen Scheibert gewünscht hätte, gerade in Bezug auf die obige Beurteilung, stellt Abel ihn als eine Figur deutlicher Ambivalenzen dar. Einerseits SS-Führer im Kunst- und Kulturgutraub in der Sowjetunion eingesetzt, galt er andererseits als streitlustiger, Utopien zugetaner Kopf. Bisweilen opportunistisch, verstand er es eben auch zeitlebens, sich den Gegebenheiten anzupassen und „verschiedene Bühnen zu bespielen“ (S. 171). Esther Abel Studie ist nicht nur für Osteuropa Historiker lesenswert. Sie belegt, dass es zur Debatte über das Verhalten von Historikern im NS-Regime trotz der vielen seit 2000 vorgelegten Arbeiten 4 doch immer noch etwas zur Beseitigung weißer Flecken beizutragen gibt.

Anmerkungen:
1 Ulrike Hartung, Raubzüge in der Sowjetunion. Das Sonderkommando Künsberg 1941–1943, Bremen 1997.
2 Nicolaus Sombart, Jugend in Berlin. 1933–1943. Ein Bericht, Frankfurt am Main 1991, S. 115.
3 Peter Scheibert, Lenin an der Macht. Das russische Volk in der Revolution 1918–1922, Weinheim 1984, S. XI.
4 Beginnend mit: Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000.

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