M. Uhl u.a. (Hgg.): Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer

Cover
Titel
Ulbricht, Chruschtschow und die Mauer. Eine Dokumentation


Herausgeber
Uhl, Matthias; Wagner, Armin
Reihe
Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 86
Erschienen
München 2003: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
220 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Wettig, Kommen

Die Auseinandersetzung um Berlin in den Jahren 1958 bis 1963 waren nach Stalins Tod der Höhepunkt des Kalten Krieges auf dem europäischen Schauplatz und die am längsten anhaltende Krise zwischen Ost und West überhaupt, deren Ergebnisse und Erfahrungen von da an das Verhältnis beider Seiten zueinander entscheidend bestimmten und Keime für den Zusammenbruch des sozialistischen Lagers Ende der 1980er-Jahre in sich barg. Das Interesse der breiten Öffentlichkeit an diesem Geschehen gilt vor allem dem Mauerbau. Dabei stehen zwei Fragen im Vordergrund: Wer ist für die Errichtung dieses monströsen Bauwerks verantwortlich? Wann und unter welchen Umständen ist der Entschluss dazu getroffen worden? Auch Matthias Uhl und Armin Wagner, zwei junge Historiker der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte bzw. des Miltärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam, haben sich diese Fragen gestellt und suchen sie auf der Grundlage von DDR-Dokumenten zum sicherheitspolitischen Kontext des Mauerbaus zu beantworten, berücksichtigten aber auch einige Dokumente aus dem früheren zentralen Parteiarchiv der KPdSU. Sie hatten sich dabei mit den bisher in der Forschung vertretenen Auffassungen auseinanderzusetzen.

In der ersten Frage besteht mittlerweile fast einhelliger Konsens darüber, dass zwar Ulbricht dazu gedrängt hat, die DDR vom Westen abzuschotten, die Entscheidung dazu jedoch nur von Chruschtschow getroffen werden konnte, der sich dem lange Zeit versagte. Nur Hope Harrison vertritt, wenn auch mittlerweile in abgeschwächter Form, noch die Ansicht, Ulbricht habe einen so starken Druck ausgeübt, dass er als der eigentliche Initiator gelten müsse. 1 Die vorgelegten Dokumente bieten da wenig Aufschluss. Zur Frage, wie es zum Mauerbau kam, gibt es weit divergierende Standpunkte. Hope Harrison 2 und Karl-Heinz Schmidt 3 meinen, dass der Entschluss relativ früh, spätestens Anfang Juli 1961, festgestanden haben muss. Aleksandr Fursenko glaubt dagegen, dass er erst nach Kennedys Berlin-Rede vom 25. Juli (mit der Festlegung auf die Verteidigung allein West-Berlins) getroffen worden sei. 4

Matthias Uhl und Armin Wagner vertreten in der Einleitung die Auffassung, dass Chruschtschow schon sehr früh die Sperrung der Sektorengrenze habe vorbereiten lassen. Die Dokumente belegen dies freilich nicht. Bis weit in den Juli hinein zielen die vorbereitenden Sicherheitsmaßnahmen nicht auf den Schauplatz Berlin, wo dann die Mauer entstand, sondern auf die Grenze zur Bundesrepublik, wo im Falle der von Chruschtschow Anfang Juni für Ende 1961 angedrohten Übergabe der West-Berliner Zugangswege an die DDR der Schwerpunkt des Konfliktes zu erwarten war. Zudem wird der Herbst bis zum Jahresende als Zeithorizont erkennbar. Das wäre für ein bereits im August geplantes Vorgehen zu spät gewesen, passt aber genau auf den Termin, der für den Abschluss des Friedensvertrages und die damit verbundene Aufkündigung der sowjetischen Verpflichtung zur Wahrung des westlichen Zugangsrechtes vorgesehen worden war.

Mithin lag der Zeitpunkt von Chruschtschows Entschluss zum Mauerbau später, als Matthias Uhl und Armin Wagner annehmen. Aber wann? Die ersten Dokumente, welche die vorherige Entscheidung belegen, betreffen eine Besprechung zwischen sowjetischen und ostdeutschen Militärs am 25. Juli 1961, die sich eindeutig auf die bevorstehende Aktion in Berlin beziehen. Als Indiz dafür, dass die Entscheidung noch nicht getroffen war, lässt sich die DDR-Kampagne gegen die "Grenzgänger" - im Osten wohnhafte Personen, die nach West-Berlin zur Arbeit fuhren - werten, denn wenn die Grenze geschlossen wurde, erübrigten sich Maßnahmen zu deren Bekämpfung. Matthias Uhl und Armin Wagner nehmen zu diesem Einwand keine Stellung, jedoch hat Karl-Heinz Schmidt ein Gegenargument in ihrem Sinne formuliert. Obwohl er ein Schreiben Ulbrichts an Chruschtschow zitiert, dem zufolge die Maßnahmen gegen die "Grenzgänger" ausdrücklich "nicht den freien Verkehr zwischen beiden Teilen Berlins" berührten, glaubt er, dass die Kampagne wohl nichts besage, denn sie sei vermutlich nur zur Täuschung des Westens inszeniert worden. 5

Dem steht freilich entgegen, dass sich Ulbricht nicht auf eine Kampagne beschränkte, sondern in Moskau um die Genehmigung zu restriktiven Maßnahmen nachsuchte, die dort am 20. Juli erteilt wurde. Da es sich hier um einen internen Vorgang handelt, welcher der westlichen Seite nicht bekannt wurde, kann der Wille zu deren Irreführung nicht das Motiv gewesen sein. Das sowjetische Parteipräsidium (dessen Sitzung in Abwesenheit Chruschtschows von Frol Koslow geleitet wurde) ging vielmehr bei seinem Beschluss davon aus, dass dadurch das Berlin-Problem für die DDR zunächst wenigstens in begrenztem Umfang entschärft werden solle. An eine größere Lösung durch Sperrung der Grenzen zu West-Berlin wurde zu diesem Zeitpunkt noch nicht gedacht. Die Entscheidung zum Mauerbau kann daher erst danach gefallen sein. Das muss vor der oben bereits erwähnten Beratung der Militärs am 25. Juli geschehen sein. Dem entspricht die Tatsache, dass kurz nach der Moskauer Zustimmung zu den Maßnahmen gegen die "Grenzgänger" davon keine Rede mehr war: Inzwischen war mit dem Beschluss über den Mauerbau eine weiter reichende Entscheidung getroffen worden, die ein Vorgehen gegen die "Grenzgänger" unnötig machte.

Sieht man von der These über den Zeitpunkt von Chruschtschows Entschluss zum Mauerbau ab, der den eingesehenen und verwendeten Dokumente über die polizeiliche und militärische Vorkehrungen der DDR auf den bevorstehenden akuten Konflikt nicht zu entnehmen ist, dann haben Matthias Uhl und Armin Wagner hervorragende Arbeit geleistet. Die von ihnen zusammengetragenen und edierten Materialien geben ein gutes Bild von den organisatorischen Vorbereitungen auf den Mauerbau am 13. August 1961 und die für Ende des Jahres geplante, aber dann zunächst aufgeschobene und dann gänzlich aufgegebene Konfrontation, welche die Umwandlung West-Berlins in eine von UdSSR und DDR abhängige "Freie Stadt" ohne westlichen Schutz herbeiführen sollte. Die Dokumentation berücksichtigt weithin auch sicherheitspolitische Vorgänge in den Monaten nach dem Mauerbau. Wer an zuverlässigen Informationen über die genannten Zusammenhänge interessiert ist, wird das Buch mit großem Gewinn zur Hand nehmen.

Anmerkungen:
1 Harrison, Hope, Driving the Soviets Up the Wall, Princeton 2003, S. 96-234.
2 Ebd., S. 139-207.
3 Schmidt, Karl Heinz, Dialog über Deutschland. Studien zur Deutschlandpolitik von KPdSU und SED (1960-1979), Baden-Baden 1998, S. 66-86.
4 Fursenko, A.A., Kak byla postroena berlinskaja stena, in: Istoriceskie zapiski, 4/2001 (122), S. 76f.
5 Schmidt (wie Anm. 3), S. 66-71.

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