Cover
Titel
Doppelter Boden. Die SALT-Verhandlungen 1963–1979


Autor(en)
Schors, Arvid
Reihe
Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts 27
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
530 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Greiner, Berliner Kolleg Kalter Krieg / Hamburger Institut für Sozialforschung

Wer den Kalten Krieg hauptsächlich als Epoche von Krisen, Eskalationen und Kriegsgefahren beschreibt, erzählt nur die Hälfte der Geschichte – und obendrein jene Hälfte, die mittlerweile gut erforscht, ja vielfach bis in ihre hintersten Winkel ausgeleuchtet ist. Die andere Hälfte handelt von den Versuchen zur Moderation und Eindämmung dieses weltumspannenden Konflikts. Aufmerksamkeit verdienen solche Versuche nicht nur wegen der immer noch zahlreichen Wissens- und Forschungslücken, sondern auch vor dem Hintergrund der sich wieder mal eintrübenden internationalen Beziehungen unserer Tage. Kann der Blick in die Vergangenheit Anregungen zur Entkrampfung der Ost-West-Beziehungen in der Gegenwart geben? Oder zum Interessenausgleich in einer zusehends multipolaren Welt? Und wenn ja, welche?

Passgenaue Antworten zu erwarten wäre zweifellos naiv. Dazu sind die Gräben zwischen den Dekaden vor und nach 1989 doch zu tief. Und grundsätzlich verlangt jede Zeit, wie Willy Brandt 1992 zutreffend feststellte, ihre eigenen Antworten. Dennoch lohnt die Suche nach intellektuellen und diplomatischen Angeboten, die die in der Phase der Blockkonfrontation scheinbar unbeweglichen Verhältnisse zum Tanzen brachten und bei einer klugen „Übersetzung“ in das Hier und Jetzt möglicherweise ebenfalls für Überraschungen gut sein können. In anderen Worten: Man tut aus unterschiedlichen Gründen gut daran, den Besteckkasten internationaler Diplomatie und die Praxis von Diplomaten in historischer Perspektive aufmerksam zu studieren. Unter welchen Voraussetzungen kamen diese Moderatoren zum Zuge? Welcher Mittel bedienten sie sich? Wann liefen ihre Bemühungen ins Leere, wann waren sie erfolgreich? Und woran sind Erfolg oder Misserfolg zu bemessen?

In seiner Freiburger Dissertation diskutiert Arvid Schors diese Fragen am Beispiel der seit 1969 geführten amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen über eine Begrenzung des beiderseitigen „Overkill“-Potentials. Was ist nicht alles über die sogenannten „Strategic Arms Limitation Talks“ (SALT) geschrieben worden – von Erbsenzählern, die mit dem Rechenschieber über Megatonnen, Wurfgewicht und Zielgenauigkeit räsonierten; von Zynikern, denen zufolge Rüstungskontrolle nur dann zum Zuge gekommen sei, wenn nichts auf dem Spiel gestanden habe; von Analytikern des Weltsystems, die einzig in Kategorien tektonischer Verschiebungen dachten und über das in ihren Augen Kleingedruckte erhaben hinweggingen. Sich von dieser historiographischen Erblast zu befreien und neue Sichtachsen in ein überwuchertes Terrain zu legen ist so gesehen bereits eine bewundernswerte Leistung. Das gilt besonders, wenn stupende Literaturkenntnis mit hoher methodischer Reflexion und einem multiperspektivischen Blick einhergeht. Dies alles bringt Schors mit, weshalb seine Studie mit Fug und Recht als Pionierleistung zu bezeichnen ist.

Dass der Autor die Geschichte von SALT weniger an den vertraglich fixierten Ergebnissen als am zähen Verhandlungsprozess misst, dass er den Scheinwerfer auf die Gesprächsdiplomatie richtet und Verträge im Lichte ihres Zustandekommens bewertet, ist der Clou seiner Analyse. Man muss sich nur die Ausgangslage verdeutlichen: Keine der beiden Seiten hatte mit der anderen je zuvor über die Kronjuwelen des Atomzeitalters ernsthaft verhandelt. Im Gegenteil – den Gegner über Umfang und Qualität des eigenen Arsenals im Unklaren zu lassen gehörte zu den Psychospielen der Abschreckungspolitik. Misstrauen war nicht allein die notwendige Konsequenz dieser Politik; es zu säen zählte zu ihren Voraussetzungen. Aus diesem Teufelskreis auszubrechen markierte bereits einen Wendepunkt in der Geschichte des Kalten Krieges. Und dass mit SALT-I zu Beginn und mit SALT-II am Ende der 1970er-Jahre tatsächlich zwei Verträge ausgehandelt werden konnten, steht für die Geschichte eines unwahrscheinlichen Gelingens – auch wenn der Rüstungswettlauf dadurch nicht beendet, sondern nur in halbwegs kontrollierte Kanäle gelenkt wurde.

Es geht im Kern also um Vertrauensbildung, um den Goldstandard internationaler Politik. Wie verfahren, wenn nicht vergiftet die Situation anfänglich war, machten sowjetische Unterhändler auf ihre Weise deutlich, als sie mit am Körper versteckten Abhörgeräten in die Verhandlungen gingen. Dennoch konnte in mehrjähriger Kärrnerarbeit ein wechselseitiger Lernprozess angestoßen werden, ein verstetigter Dialog auf Expertenebene, der Einblicke in die Gedankenwelt, Absichten und Ängste der jeweils anderen Seite erlaubte und verzerrte Wahrnehmungen korrigierte. Im Grunde stellte SALT – ähnlich wie die Vor- und Nachbereitung der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (KSZE) – eine emotionale und ideologische Entgiftungsanlage bereit, ein Forum persönlicher Kontakte und politischen Austauschs, das im Kontext der zeitüblichen Fehlwahrnehmungen und Überreaktionen von größter Bedeutung war. Diese subtile Dimension präpariert Schors sorgsam und in allen Facetten heraus. So wird deutlich, wozu eine Diplomatie des langen Atems selbst unter schwierigsten Bedingungen fähig ist, wie anregend außerdem eine auf der intellektuellen Höhe ihrer Zeit konzipierte Diplomatiegeschichte sein kann – und nicht zuletzt, was unter Vertrauen zu verstehen ist und wie Historiker diesen diffusen Begriff konturieren sollten.

Genauso differenziert wird die Störanfälligkeit des SALT-Prozesses dargestellt. Weil Rüstungskontrollgespräche für Moskau nur ein Mittel unter vielen waren, um den Weltmachtstatus und die politische Gleichberechtigung der UdSSR zu beglaubigen, streute Breschnews Politbüro verlässlich Sand ins Getriebe, sei es durch mannigfaltige Interventionen in der „Dritten Welt“ oder durch das Ausnutzen von Schlupflöchern, die in den SALT-Verträgen enthalten waren. Dass dieser Teil der Geschichte vergleichsweise blass ausfällt, ist zu konstatieren, aber dem Autor wegen der Unzugänglichkeit einschlägiger Archive in Russland nicht anzulasten. Auch auf amerikanischer Seite hintertrieben die Protagonisten von SALT ihr eigenes Projekt – allen voran Henry Kissinger, dessen Paralleldiplomatie hinter dem Rücken von Ministerien, Behörden und Verhandlungsdelegationen den Gegnern der Entspannungspolitik wohlfeile Argumente lieferte, darunter das auf den ersten Blick durchaus verständliche Verlangen nach mehr Transparenz. Dennoch erscheint ausgerechnet Kissinger wie eine politische Lichtgestalt angesichts des politischen Guerillakrieges gegen SALT, den Alt- und Neokonservative auf allen Ebenen und mit einer Brutalität lostraten, die immer wieder erstaunt.

Obwohl der Senat in Washington eine Ratifizierung des zweiten SALT-Vertrages im Jahr 1979 unter dem Eindruck des sowjetischen Einmarsches nach Afghanistan ablehnte, hinterließ das zur Routine gewordene Verhandeln bleibende Spuren. Im Grunde war die Eigendynamik der Diplomatie belastbarer als das propagandistische Gift der auf Glaubwürdigkeit und Stärke um jeden Preis getrimmten Ideologen. Innerhalb des amerikanischen Regierungsapparates war eine Kohorte von Unterhändlern herangewachsen, die ihre politische Hausmacht zu nutzen wusste und dafür sorgte, dass der Gesprächsfaden zwischen Ost und West nicht vollends riss. In diesem Sinne übten auch verbündete Regierungen nachhaltigen Druck aus, von der weltweiten Friedens- und Abrüstungsbewegung ganz abgesehen. Indem die Regierung Reagan stillschweigend die Bestimmungen des SALT-II-Vertrages respektierte, beugte sie sich der Macht des Faktischen – entgegen allen Wahlversprechungen und zum Entsetzen ihrer Parteigänger. Hinter die einmal geweckten Erwartungen zurückzufallen war offenkundig nicht mehr möglich, zumal beide Seiten die Ära der Sprachlosigkeit hinter sich gelassen und eine politische Grammatik zur Kommunikation über das Arkanum von Rüstungstechnologen und Nuklearstrategen gefunden hatten. Erst auf dieser Grundlage konnte das überraschendste Kapitel des Kalten Krieges geschrieben werden: der INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces) des Jahres 1987, der keine kontrollierte Aufrüstung vorsah, sondern die Supermächte zur Verschrottung ihrer in Europa und Asien stationierten Mittelstreckenraketen verpflichtete.

Wie gesagt: Jede Zeit braucht die ihr gemäßen Antworten, die Vergangenheit stellt keine Fahrpläne für Gegenwart und Zukunft bereit. Aber eine klug orchestrierte historische Analyse kann Kriterien zur Orientierung im scheinbar Unverständlichen und Unentwirrbaren des Hier und Jetzt geben. Vor allem kann sie zeigen, wann, wo und wie ein Insistieren auf Diplomatie scheinbar Festgefahrenes verflüssigt. So gesehen schreibt Arvid Schors auch gegen die intellektuelle Asymmetrie unserer Tage an – gegen eine Schieflage, in der das Verlangen nach militärischer Sicherheit überaus laut und die Forderung nach einer diplomatisch-politischen Sicherheitsarchitektur in verstockter Schüchternheit vorgetragen wird. Ein historisches Fachbuch mit dem Zeug zur tagespolitischen Intervention – was will man mehr?