S. Weinert: 100 Jahre Fürst Donnersmarck-Stiftung 1916–2016

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Titel
100 Jahre Fürst Donnersmarck-Stiftung 1916–2016.


Autor(en)
Weinert, Sebastian
Erschienen
Berlin 2016: Selbstverlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 10,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Schlund, Collegium Philosophicum, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die Geschichte behinderter Menschen erfährt in den letzten Jahren gestiegene wissenschaftliche Aufmerksamkeit. Mehrere Studien und Sammelbände rücken dabei unterschiedliche Lebensbereiche behinderter Menschen ins Zentrum ihrer Analyse und betrachten zudem staatliche Behindertenpolitik und das Handeln von Einrichtungen und Organisationen von und für behinderte Menschen kritisch.1 Sebastian Weinert legt nun eine „Innenansicht“ einer solchen Organisation vor: Anlässlich ihres hundertjährigen Bestehens beleuchtet er im Rahmen einer knapp 300-seitigen Auftragsarbeit die Entwicklung der Fürst Donnersmarck-Stiftung (FDST), die zahlreiche Rehabilitationsprojekte fördert, eigene Wohneinrichtungen unterhält sowie seit kurzem in der medizintechnischen Forschung aktiv ist.

Als Archivar der FDST hatte Sebastian Weinert Zugang zu den Quellen, die von der Stiftung selbst in den letzten 100 Jahren produziert wurden. Durchweg kann sich seine Erzählung daher auf die reichhaltigen Schrift- und Bilddokumente stützen, über die der Autor einen umfassenden Überblick besitzt. Auf dieser Basis ist es Weinerts primäres Anliegen, eine „Stiftungsbiografie“ zu verfassen. Nebenbei sollen „die Kontinuitäten, Veränderungen und Brüche [aufgezeigt werden], die der gesellschaftliche Umgang mit Menschen mit Behinderung in den vergangenen 100 Jahren erfuhr“ (S. 12). Seine Veröffentlichung verortet Weinert an der Schnittstelle von drei Forschungsperspektiven: der Unternehmensgeschichte, der Geschichte des Stiftens, Spendens und Schenkens und der Disability History. Diese drei Zugänge werden von ihm in der Einleitung lediglich knapp charakterisiert; im Zentrum der Arbeit soll stattdessen die Entwicklung der Stiftung stehen. (S. 14) Als Zielgruppe werden „Klienten, Bewohner, Gäste, Mitarbeiter“ – somit direkt mit der FDST in Verbindung stehende Personen – genannt.

Die Kapitel sind in fünf chronologische Abschnitte geordnet. Dabei folgen auf die ersten vier Hauptkapitel Exkurse zu Spezialthemen, die Weinert außerhalb der chronologischen Ereignisabfolge untersucht: Der erste Exkurs befasst sich mit der Stiftungsverfassung. Hatte sich die während des Ersten Weltkriegs gegründete FDST zunächst ausschließlich auf kriegsversehrte Personen konzentriert, ging 1949/50 mit der ersten Überarbeitung der Ursprungsverfassung von 1916 eine Ausweitung ihrer Zielgruppe einher. Nach dem Zweiten Weltkrieg weitete die Stiftung ihr Engagement auf „schwermehrfachbehinderte“ Menschen aus. Besonders der Zeitpunkt dieser Neuerung erweist sich angesichts des außergewöhnlich starken politischen Gewichts kriegsversehrter Menschen in der frühen Bundesrepublik als interessanter Befund. Weinert kann an dieser Stelle die Erkenntnisse zur vielgestaltigen Bevorzugung kriegsversehrter gegenüber anderen körperbehinderten Menschen in der frühen Bundesrepublik um einen Kontrapunkt erweitern.2

Die drei weiteren Exkurse fokussieren auf die Außenbeziehungen der FDST, die von ad-hoc-Kooperationen mit themenverwandten Organisationen bis hin zu engen strategischen Partnerschaften, wie etwa mit dem Diakonischen Werk oder der Deutschen Gesellschaft für Rehabilitation, reichen. Ferner fördert die Stiftung seit neuestem Forschungsprojekte im Bereich der Neurorehabilitation. Ein hohes geschichtswissenschaftliches Anknüpfungspotential zu Weinerts Ausführungen besteht in Bezug auf das Freizeit- und Reiseverhalten behinderter Menschen. So wurden von der FDST seit den 1960er-Jahren zahlreiche (inter-)nationale Gruppenreisen für Menschen mit Behinderung organisiert. Weinert zufolge „eröffnete dieses Angebot neuartige Erfahrungen und ein großes Stück individueller Freiheit“ (S. 113). Bis heute stellt der Bereich Touristik für behinderte Menschen einen der Kernbereiche der Stiftungsarbeit dar. Im Hinblick auf die aktuelle Forschung verweist dieser Themenkomplex auf einen Überschneidungsbereich von Disability History, Konsum- und Tourismusgeschichte, der weiterer Untersuchungen bedarf.

Im ersten seiner fünf chronologischen Hauptkapitel beschreibt Weinert die Zeit von der Stiftungsgründung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs als ambivalent: Durch Grundbesitz und Investitionen in die schlesische Industrie war Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck zu einem der „herausragenden Unternehmer des ‚langen‘ 19. Jahrhunderts“ (S. 23) geworden. Sein Vermögen bildete die finanzielle Grundlage der Stiftung, die zahlreichen versehrten Soldaten des Ersten Weltkriegs gaben den Anlass zum Aufbau einer in erster Linie medizinischen Nachsorgeeinrichtung. Allerdings konnten die gesteckten Ziele der Stiftung weder im noch nach dem Ersten Weltkrieg eingehalten werden. Weinert stellt die Phase bis zum Ende der Weimarer Republik als vor allem von wirtschaftlicher und organisatorischer Instabilität geprägte Jahre dar. Gegenüber dem nationalsozialistischen Regime habe sich die FDST „indifferent“ verhalten: „Da die Stiftung keine eigenen Einrichtungen betrieb oder andere Projekte verfolgte, war sie als Institution auch nicht in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt.“ (S. 48) Die persönlichen Verbindungen einiger Kuratoriumsmitglieder zum Regime verschweigt Weinert jedoch nicht. Infolge mehrfach drohender Auflösungen, Grundstücksverkäufen und -schenkungen an NS-Institutionen besaß die FDST bei Kriegsende noch 205 Hektar Land im Berliner Westen.

Den Zeitraum von 1945 bis 1971 stellt Weinert unter die Überschrift „Wirtschaftlicher Wiederaufstieg und Beginn der operativen Stiftungsarbeit“. In den beiden Nachkriegsdekaden mehrte die FDST ihr Vermögen durch Grundstücksverkäufe erheblich. Dadurch war es möglich, deutlich mehr Personal einzustellen und die drei zentralen Arbeitsbereiche der Stiftung „Rehabilitation“ „Touristik“ und „Freizeit, Bildung, Beratung“ zu etablieren. Was die bald steigende Zahl der von der Stiftung unterhaltenen Einrichtungen auszeichnete war der Fokus auf die Freizeitbeschäftigung der betreuten Personen mit Behinderung. Da diese Schwerpunktsetzung dem zeitgenössischen Paradigma der Erwerbsarbeitsbefähigung behinderter Menschen entgegenstand, erscheint es paradox, dass die FDST an zentralen öffentlichen Debatten wie um den Contergan-Skandal nicht teilnahm, wie Weinert erklärt. Auf eine kritische Einordnung dieser Haltung vor dem Hintergrund der Erkenntnisse einschlägiger Studien verzichtet Weinert jedoch.3

Mit einer vor allem finanziellen Zäsur beginnt Weinert seine Erläuterungen zu den 1970er- und 1980er-Jahren. Durch den Verkauf von Waldflächen an die Stadt Berlin und daran anschließende Immobilieninvestitionen weitete die FDST ihr Vermögen massiv aus – heute zählt sie zu dem „1 % der reichsten Stiftungen Deutschlands“ (S. 129). Auf dieser Basis entwickelte die Stiftung ihre drei bestehenden Arbeitsbereiche systematisch weiter, was aber auch zu Problemen führte: Ein Großteil des neu einzustellenden Personals trug ein akademisch fundiertes Verständnis von sozialer Arbeit in die Einrichtungen hinein und geriet daher mit dem traditionell kirchlich geprägten, älteren Personal in Konflikte. „Fehlentwicklungen“ im Betreuungsbereich bis hin zu Gewalt gegen Heimbewohner/innen, wie sie jüngst in mehreren Studien thematisiert wurden, habe es in den Einrichtungen der FDST jedoch nie gegeben (S. 143). Hier verweist Weinert knapp auf die Arbeiten von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler, an deren Forschungen an vielen Stellen größeres Anknüpfungspotential bestanden hätte.4 Insgesamt fand in der FDST in den beiden Jahrzehnten ein Liberalisierungsprozess statt, der sich beispielsweise in alternativen, auf Selbstbestimmung abzielenden Wohnangeboten für behinderte Menschen außerhalb der Heimeinrichtungen niederschlug.

In den beiden wenig aussagekräftig betitelten Abschlusskapiteln „Zeiten der Weichenstellung. 1989–1997“ und „Eine Organisation im Wandel. 1997–2016“ erläutert Weinert die Auswirkungen der fortschreitenden Ökonomisierung im Sozialbereich auf die Stiftungsarbeit. Die Stiftung stärkte in den letzten beiden Jahrzehnten ihre ambulanten Dienstleistungen und führte eine an betriebswirtschaftlichen Prinzipien angelehnte Organisationsstruktur ein. Daneben intensivierte sie jedoch auch ihre Anstrengungen hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen für behinderte Menschen durch die Gründung der Nordbahn gGmbH. Zudem hebt Weinert auch das fortgesetzte Engagement der FDST für öffentliche Begegnungsorte behinderter und nichtbehinderter Menschen, etwa in Cafés und Bildungseinrichtungen hervor. Abschließend geht Weinert auf die jüngsten Großprojekte der Stiftung ein: den Bau des „größte[n] vollständig barrierefreie[n] Hotel[s] Deutschlands“ (S. 242) in Brandenburg und den Ausbau des Fürst-Donnersmarck-Hauses in Frohnau zu einem Zentrum der post-akuten Neurorehabilitation.

Im Fazit fasst Sebastian Weinert die zentralen Entwicklungslinien zusammen und ordnet diese – sehr knapp – den drei einleitend genannten Forschungsperspektiven zu. Jedoch verbleibt diese Abstraktion leider an der Oberfläche. Die fraglos zu weiteren Nachforschungen anregende Innenperspektive der 100 Jahre FDST bietet nichtsdestoweniger wertvolle Hinweise auf zu erbringende geschichtswissenschaftliche Analysen, die eine deskriptive „Stiftungsbiografie“ aufgrund ihres Formats jedoch nicht zu leisten vermag.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu den jüngst erschienen Sammelband Anne Waldschmidt / Gabriele Lingelbach (Hrsg.), Kontinuitäten, Zäsuren, Brüche? Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen in der deutschen Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 2016.
2 Vgl. hierzu insbesondere die Arbeiten Wilfried Rudloffs. Bspw. Wilfried Rudloff, Überlegungen zur Geschichte der bundesdeutschen Behindertenpolitik, in: Zeitschrift für Sozialreform 6 (2003), S. 863–886.
3 Siehe hierzu die Studie von Elsbeth Bösl, Politiken der Normalisierung. Zur Geschichte der Behindertenpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, Bielefeld 2009.
4 Hervorzuheben ist insbesondere Hans-Walter Schmuhl / Ulrike Winkler, Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Volmarstein von 1947 bis 1967, Bielefeld 2010.