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Titel
Das Kondom. Zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis in die Gegenwart


Autor(en)
König, Wolfgang
Reihe
Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 237
Erschienen
Stuttgart 2016: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
233 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Orth, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Heutzutage werden in der Bundesrepublik Deutschland jährlich rund 214 Millionen Kondome verkauft. Das Kondom scheint also zu einem Alltagsgegenstand geworden zu sein. Dass dem nicht immer so war, zeichnet der Berliner Technikhistoriker Wolfgang König in seinem Buch nach. Er verweist einleitend darauf, dass die Geschichte des Kondoms viele Bereiche tangiere und daher „Technik-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte” (S. 10) sei. Die in drei Teile gegliederte Studie, die sich auf die vorliegende Forschungsliteratur, gedruckte Quellen und in geringerem Umfang auf Archivalien stützt, umfasst den Zeitraum vom späten 19. bis zum frühen 21. Jahrhundert und konzentriert sich auf Deutschland und nach 1945 auf die Bundesrepublik. Jedes Kapitel thematisiert drei Ebenen: die Herstellungstechnik, die Debatten über das Kondom sowie Vertrieb und Verbreitung.

Der umfangreiche erste Teil behandelt den Zeitraum bis 1927. Zunächst wurden Kondome aus Tierdärmen hergestellt, meist nutzte man den Blinddarm von Schafen, Ziegen oder Kälbern. Erst an der Wende zum 20. Jahrhundert gelang es, nahtlose Gummikondome zu fertigen. Verwendung fanden sie einerseits, um ungewollte Schwangerschaften zu verhindern, andererseits um sich vor Geschlechtskrankheiten zu schützen. In den Debatten über Sittlichkeit und Geschlechtskrankheiten, die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunahmen, spielten die Kondome allerdings eine eher geringe Rolle. Dort, wo sie explizit Thema waren, lassen sich zwei Positionen ausmachen: Die Sittlichkeitsbewegung lehnte das Kondom – wie alle anderen Verhütungsmittel auch – ab, verortete Kondome zudem in Kontexten, die ihr als „unzüchtig” galten: vor- und außereheliche Sexualität, Prostitution und Geschlechtskrankheiten. All dies stelle eine Gefahr für Ehe und Familie dar und bedrohte die Grundlagen der christlichen Gesellschaft. Ein Teil der Hygienebewegung sowie der Neomalthusianer hingegen befürwortete aus pragmatischen Gründen den Gebrauch von Kondomen und Desinfektionsmittel, nämlich als wirksames Mittel gegen Geschlechtskrankheiten. Verkauft wurden die Artikel meist in Apotheken, Drogerien, Sanitätsgeschäften, Gummihandlungen sowie in Friseur- und Tabakgeschäften, auf dem Land durch Hausierer und Vertreter. Herstellung und Verkauf von Kondomen waren jedenfalls in Deutschland zu keinem Zeitpunkt verboten. Doch führte die Verschärfung der Sittengesetzgebung um 1900 (vor allem durch § 184 des Strafgesetzbuches) zu erheblichen Einschränkungen bei der Werbung und Vermarktung von Kondomen. Gleichwohl scheinen diese bereits vor dem Ersten Weltkrieg häufig benutzt worden zu sein, wobei König dies vor allem für den Bereich der Prostitution ausführt. Der Erste Weltkrieg erwies sich jedoch nicht (wie häufig behauptet) als Durchbruch zur massenhaften Verwendung; vielmehr kam die Produktion nahezu zum Erliegen. Als Zäsur erweist sich aus Königs Perspektive jedoch das Jahr 1927, in dem das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Kraft trat, welches die seit 1900 geltenden Restriktionen bei Werbung und Vertrieb deutlich abmilderte.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit den folgenden vier Jahrzehnten, in denen eine zunehmende Verbreitung und wachsende gesellschaftliche Akzeptanz des Kondoms auszumachen ist. In den 1930er-Jahren wurden in Deutschland schätzungsweise 100 Millionen Kondome, zunehmend aus Latex, produziert, ein nicht unerheblicher Teil für den Export. In der NS-Zeit wurde die Produktion erweitert, eine Entwicklung, die auch im Krieg nicht abbrach. Dies ist besonders zu betonen, als der öffentliche Diskurs die Verwendung von Kondomen aus bevölkerungspolitischen Gründen ablehnte. Die moralische Ablehnung bei gleichzeitig kontinuierlich zunehmender Verbreitung nennt König daher den „Gipfel der Doppelmoral” (S. 123). So wurde trotz intensiver Debatten und gelegentlicher Ankündigungen das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten nicht revidiert und die Versorgung der Wehrmacht mit Kondomen für wichtiger erachtet als die allenthalben propagierte Bewahrung der Sittlichkeit. Zu den bereits etablierten Vertriebswegen traten seit den 1930er-Jahren auch Sexualberatungsstellen und später Fachmessen. Zudem wurden in Restaurationsbetrieben, städtischen Bedürfnisanstalten und Bahnhofstoiletten häufiger Automaten aufgestellt, die Kondome und Desinfektionsmittel anboten, ohne dass dieser Vertriebszweig freilich einen großen Marktanteil gewann. In der frühen Bundesrepublik ging die Werbung nicht über die in der späten Weimarer Republik hinaus, sodass die meisten Kondome wohl über den Versand verkauft wurden; bereits in den 1950er-Jahren „gingen die Kundenzahlen in die Millionen” (S. 166f.). Auch in der Haltung der Kirchen beziehungsweise der Sittlichkeitsbewegung stellte das Kriegsende keine Zäsur dar: Sie hielten vielmehr an der moralischen Verurteilung der Sexualität außerhalb der Ehe fest. So kam es zwar 1953 zu einer Revision des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, doch ließ die Novelle vieles beim Alten und konzentrierte sich bei den Veränderungen auf den Umgang mit infizierten Geschlechtskranken. Auch der § 184 des Strafgesetzbuches, der Werbung und Vertrieb von Schutzmitteln betraf, blieb bestehen. Die heftigsten Auseinandersetzungen fanden vom Kaiserreich bis in die späten 1960er-Jahren über die Frage des Verkaufs von Desinfektionsmitteln und Kondomen in (Außen-)Automaten statt, da durch diese die „unzüchtige” Sexualität einen sichtbaren und (auch Jugendlichen) zugänglichen Ort in der Öffentlichkeit erhielt. Sichtbar wird in diesen Konflikten nicht zuletzt, dass in der bundesdeutschen Gesellschaft noch in den 1960er-Jahren eine große Diskrepanz und Polarisierung in den Vorstellungen über Sitte und Anstand herrschten, die erst zu Beginn der 1970er-Jahre abnahmen. Äußeres Zeichen dafür ist die 1973 greifende Liberalisierung der Sittengesetzgebung, in der auch der umstrittene § 41a der Gewerbeordnung wegfiel, der unter anderem das Aufstellen von Kondomautomaten geregelt hatte. Doch noch immer scheinen Kondome eher selten als Verhütungsmittel benutzt worden zu sein, da sie noch immer häufig mit Geschlechtskrankheit und Prostitution assoziiert wurden. Die Anti-Baby-Pille war das am häufigsten gewählte Mittel der Geburtenkontrolle. Eine Zäsur ist hier durch Auftreten von AIDS Anfang/Mitte der 1980er-Jahre auszumachen.

Das dritte Kapitel behandelt die „Alltäglichkeit des Kondoms” seit 1970. Erst die Sittengesetzgebung und die „sexuelle Revolution” machten, so König, den Weg für eine „Veralltäglichung” des Kondoms frei (S. 181). Die zunehmende Freizügigkeit des Sexualverhaltens im 20. Jahrhundert und die Liberalisierung der Sittengesetzgebung veränderten die Einstellung zum Kondom im positiven Sinne. Dazu trug auch die seit den 1970er-Jahren greifende Verbesserung bei der Qualität(sprüfung) und ein offenerer Umgang mit dem Thema in den Medien bei, so etwa durch die Veröffentlichung von Testergebnissen über Kondome in Verbrauchermagazinen. Auch relativierte zumindest die evangelische Kirche ihre ablehnende Haltung, und schließlich nahm die Sexualaufklärung zu. So gab die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung seit 1968 den für Schüler konzipierten „Sexualkunde-Atlas” heraus, und es wurden Aufklärungsfilme, Merkblätter und „Medienpakete” aufgelegt, in denen auf die Schutzfunktion von Kondomen gegen Geschlechtskrankheiten und später gegen AIDS hingewiesen wurde. Die Anti-AIDS-Kampagnen ab Mitte der 1980er-Jahre erhöhten dann in verstärktem Maße die Akzeptanz des Kondoms.

In Königs Buch ist viel über Herstellung, Produktion und Vertrieb von Kondomen zu erfahren. Dem Anspruch, nicht nur eine Technik-, sondern auch eine Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des Kondoms zu liefern, wird es jedoch nicht gerecht. Das Thema Sexualität etwa kommt kaum vor, auch eine geschlechtergeschichtliche Differenzierung fehlt. Nur an einigen wenigen Stellen wird darauf verwiesen, dass die Zeitgenossen Kondom und Desinfektionsmittel als „männliche Angelegenheit” (S. 175) ansahen – was dies bedeutet, bleibt jedoch unklar. Aus einer Gender-Perspektive wäre aber beispielsweise zu untersuchen, welche Bedeutung das Kondom für Männer und die Wahrnehmung des männlichen Körpers hatte, aus kulturgeschichtlicher Sicht etwa, ob und wie sich durch die Verwendung von Kondomen die Sexualität veränderte. Nicht die Debatten über das Kondom müssten dabei im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr die Frage nach dem Wechselspiel zwischen Ordnungsvorstellungen beziehungsweise Deutungsangebote einerseits und den sozialen Praktiken andererseits. Abschließend sei noch bemerkt, dass dem Text ein Lektorat gut getan hätte, um die eine oder andere (sprachliche) Unangemessenheit zu beheben: So wird Prostitution als „horizontales Gewerbe” (S. 79), Bordelle als „Freudenhäuser” (S. 125) bezeichnet, von „außerehelichen Beischlafhandlungen” (S. 141) gesprochen, und dass die Soldaten an „der Front [...] ihre sexuellen Wünsche mit im Kriegsgebiet lebenden Frauen [befriedigten]” (S. 98), Matrosen bei „ihren Landgängen ein umfangreiches sexuelles Angebot [erwartete]” (S. 97). Und dass sich der Nationalsozialismus im Krieg „gleichsam zu einem Bordellstaat [entwickelt]” (S. 125) habe, ist nicht nur sprachlich ein Fauxpas.