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Titel
Aufgeklärt strafen. Menschengerechtigkeit im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Luther, Christoph
Reihe
Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 294
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
599 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Mohr, Nussloch

In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete sich ein europäischer Diskurs heraus, in dessen Zentrum das Strafrecht, die Strafpraxis und die Strafjustiz standen. In den Augen der sich formierenden aufgeklärten Öffentlichkeit stellten etwa die von unvorstellbarer Grausamkeit geprägten Hinrichtungspraktiken oder die Anwendung der Folter als ein Mittel der Wahrheitsfindung ein Skandalon dar. Es ist nicht einfach, eine Synthese der zahlreichen Diskursstränge innerhalb dieser komplexen Debatte vorzunehmen. Eine an sich überzeugende, in ihrer Durchführung dann aber teilweise doch problematische Methode hat Christoph Luther in seiner Habilitationsschrift gewählt, die hier in einer überarbeiteten Fassung vorliegt. Luther wertet einen repräsentativen Querschnitt derjenigen Preisschriften aus, die als Antworten auf die 1777 von der Berner Ökonomischen Gesellschaft ausgeschriebene Preisfrage entstanden. Die Auswertung von Preisschriften ist deshalb ergiebig, weil die Ausschreibung sich nicht auf ein bestimmtes Problem konzentrierte (wie etwa 1780 die Mannheimer Preisfrage zum „Kindsmord“), sondern das gesamte materielle und formelle Strafrecht umfasste.

Vor der Analyse der ausgewählten Preisschriften geht Luther ausführlich auf den historischen Kontext des Berner Preisausschreibens ein. Da Luther Autoren aus dem deutschen und aus dem französischen Rechtsraum berücksichtigt, stellt er zunächst das gemeine Recht in seiner französischen und deutschen Ausprägung dar, wobei die jeweiligen Strafprozessrechte ausführlicher als das materielle Recht behandelt werden, da sie größere Unterschiede aufweisen. Bemerkenswert ist der tendenziell höhere Formalisierungsgrad des französischen Rechts. Dass hierdurch die Angeklagten tatsächlich effektiver geschützt wurden, wie Luther meint (S. 62), lässt sich freilich nur schwer belegen. Diese These wird auch empirisch nicht untermauert, und die zahlreichen Justizskandale in Frankreich – allen voran der Justizmord an Jean Calas 1762 – sprechen eher dagegen. Keinesfalls kann Luther aber vorgeworfen werden, in eine idealisierende Darstellung der aufgeklärten Reformdebatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu verfallen. Wie auch Wolfgang Naucke am Beispiel des wohl berühmtesten aufgeklärten Strafrechtsreformers, Cesare Beccaria, gezeigt hat, waren die Reformdiskurse ambivalent, und die Forderung nach einem vermeintlich humanen Strafvollzug war verschwistert mit einem den Strafgefangenen seiner Menschenwürde entkleidenden Nützlichkeitsdenken.1

Die Beschäftigung mit dem Strafen und der Strafe führt zu großen Fragen der Rechtsgeschichte und der allgemeinen Geschichte. Dies haben die einschlägigen Bücher von Foucault, Spierenburg oder van Dülmen gezeigt,2 und dies erklärt vielleicht die Entstehung jüngerer hervorragender Publikationen, wie etwa denjenigen von Ludi und Ignor.3 Luther wirft die Frage auf, woher die neuen Konzeptionen des Strafrechtes kamen, die in die Reformdebatte mündeten – wenn überhaupt die Rede von einer Reform sein kann und nicht eher im Sinne von Thomas S. Kuhn von einem wissenschaftlichen Paradigmenwechsel gesprochen werden müsste.4

Indes betont Luther auch Kontinuitätslinien und weist auf das lange „Beharrungsvermögen des alten Rechts“ hin, was er damit erklärt, dass neues, gesetztes Recht nicht unmittelbare Geltung habe beanspruchen können, sondern sich erst in der Praxis gegen das alte Recht habe durchsetzen müssen (S. 129). Gewiss stellte die Normdurchsetzung in der Frühen Neuzeit ein Problem dar, aber ob dies – nicht zuletzt angesichts der bedeutenden Kodifikationen zunächst in Bayern – wirklich noch im 18. Jahrhundert galt (S. 130), kann mit einem Fragezeichen versehen werden.

Im Fokus von Luthers Interesse liegen jedoch die Formen und die Geschichte des „rechtlichen Denkens“ (S. 34), die sich in den untersuchten Preisschriften manifestieren – nämlich, „was Recht ist, wozu es dient und wie man es finden kann“ (S. 7). Dabei geht der Autor davon aus, „dass die Geschichte des Rechts im Wesentlichen eine Geschichte von Denkstilen ist“ (ebd.). Die methodische Grundlage der Arbeit ist die „Typisierung individueller Denkleistungen“, ausgehend von den Arbeiten Karl Mannheims und Ludwik Flecks (S. 29).

Diese methodische Entscheidung hat den Autor zu einer Synthese geführt, die leider weniger überzeugend als die Analyse ausgefallen ist. Eigentlich wäre zu erwarten gewesen, dass der von Luther gewählte theoretische Rahmen der Wissenssoziologie ihn auf das Feld der Sozialgeschichte führt und dabei rechtssoziologische und historische Einsichten verschmelzen. Dass dies dem Autor nicht gelingt, lässt sich exemplarisch an der Bearbeitung der bekanntesten der Preisschriften, der „Abhandlung von der Criminal=Gesetzgebung“ von Hanns Ernst von Globig und Johann Georg Huster, zeigen. Luther analysiert unter anderem die drei Aspekte Rechtsphilosophie/Rechtspolitik, Dogmatik und Argumentationsweise. Hinsichtlich der Rechtsphilosophie ist das wichtigste Ergebnis, dass die Autoren der Preisschrift ihrem Rechtsdenken die Lehre des Gesellschaftsvertrages zu Grunde legten (S. 174f.). Rechtspolitisch sollte der Staat nach Globig und Huster den Bürgern möglichst weite Handlungsspielräume gewähren (S. 189). Recht komplex ist der Abschnitt über die Dogmatik. An dieser Stelle sei das Beweisrecht herausgegriffen. Globig und Huster unterbreiten hier einen besonders innovativen Vorschlag, wenn sie in Richtung einer freien richterlichen Beweiswürdigung argumentieren und den Indizienbeweis zulassen wollen (S. 210). Im Mittelpunkt der Argumentationsweise der Autoren steht das Nützlichkeitsargument (S. 211). Am Ende des Abschnittes über die „Abhandlung von der Criminal=Gesetzgebung“ steht ein Resümee, mit dem Luther den „geistigen Standort der Verfasser“ (S. 216) darlegen will. Das Wohl des Menschen bilde für Globig und Huster „die alleinige Existenzberechtigung von Staat und Strafrecht“. Zweck des Staates seien die „Gewährleistung innerer Sicherheit“ (S. 216) und „die Freiheit seiner Bürger“ (S. 217).

Luther kommt zu dem Ergebnis, dass auf der Grundlage der an die Berner Ökonomische Gesellschaft eingesandten Preisschriften drei juristische Denkstile unterschieden werden können: „politisches Rechtsdenken“, „technokratisches Rechtsdenken“ und „religiöses Rechtsdenken“. Beim „politischen Rechtsdenken“ unterscheidet er eine „präskriptive“ und eine „freiheitliche Ausprägung“, wobei zu letzterer die „Abhandlung von der Criminal=Gesetzgebung“ zu zählen ist. Zu dem von Globig und Huster repräsentierten Denkstil zählen die „Einsicht in die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis“ und somit auch in die Erkenntnisfähigkeit des Gesetzgebers, weshalb dieser sich Zurückhaltung auferlegen solle (S. 522); Strafen sollten mild sein, die Todesstrafe keine Anwendung mehr finden und die Gerichtsverhandlungen öffentlich gehalten werden (S. 523).

Nun macht es durchaus Sinn, diese von Luther herausgearbeiteten Elemente in ein freiheitlich-politisches Rechtsdenken einzusortieren und von anderen Denkformen abzugrenzen. Allein, damit ist noch keine wissenssoziologische Analyse geleistet, die ja nach Mannheim die „Seinsverbundenheit“ des Wissens darlegen soll.5 Es wäre also die Frage zu stellen, was das ‚Sein‘ eines freiheitlich-politischen Rechtsdenkens sein könnte, und in eben diese Richtung hätten die von Luther herausgearbeiteten Elemente entwickelt werden können. Hierzu drei Beispiele: Man würde die sich andeutende freie richterliche Beweiswürdigung im Zusammenhang eines selbstreflexiv werdenden – gesellschaftlichen und individuellen – Bewusstseins sehen, in dem die ‚intime conviction‘ an die Stelle einer Wahrheitssuche etwa durch die Folter trat. Damit einher ging eine neuartige Hochachtung der personalen Unversehrtheit, mit den Worten von Hans Joas eine „Sakralisierung der Person“, die im größeren Kontext der gleichzeitigen Entstehung der Menschenrechte steht.6 Auch die Forderung nach Gerichtsöffentlichkeit gibt Anlass zu weiterführenden Überlegungen: die tiefgreifenden sozialstrukturellen und kulturellen Veränderungen, die Öffentlichkeit und Öffentlichkeiten entstehen ließen und ihnen eine Kontrollfunktion zuschrieben, aber auch die Erfahrung der Selbstwirksamkeit innerhalb einer Fachöffentlichkeit ermöglichten, stellen Einflüsse dar, die auf das Sein der relevanten Akteure und somit auf die Formierung des rechtlichen Wissens und Denkens wirkten.

Somit ist zu resümieren, dass die Studie die hochgesteckten methodischen Ziele leider nicht erreicht hat. Sie bietet Orientierung im recht unübersichtlichen Feld der strafrechtlichen Reformdebatte kurz vor der Französischen Revolution. Der Vergleich der Preisschriften führt zu einigen differenzierten Erkenntnissen. So ist es interessant zu lesen, dass der spätere Revolutionär Jean Paul Marat etwa im Zusammenhang mit Vermögensdelikten bereits sozialpolitische Forderungen erhob (S. 243). Aber die selbstgesteckte Aufgabe einer wissenssoziologischen Untersuchung der Geschichte des rechtlichen Denkens ist in ihrer Tiefe nicht gelöst worden.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Naucke, Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria, in: Gerhard Deimling (Hrsg.), Cesare Beccaria. Die Anfänge moderner Strafrechtspflege in Europa, Heidelberg 1989, S. 37–53, S. 47f.
2 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, München 1994. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, 6. Aufl., München 2014. Pieter Spierenburg, Violence and Punishment. Civilizing the Body through Time, Cambridge 2013.
3 Regula Ludi, Die Fabrikation des Verbrechens. Zur Geschichte der modernen Kriminalpolitik 1750–1850, Tübingen 1999. Alexander Ignor, Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846. Von der Carolina Karls V. bis zu den Reformen des Vormärz, Paderborn 2002.
4 Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1976, S. 109f.
5 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, 6. Aufl., Frankfurt am Main 1978, S. 230f.
6 Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011, insbesondere das Kapitel „Strafe und Respekt. Die Sakralisierung der Person und ihre Gefährdungen“ (S. 63–107). Lynn Hunt, Inventing Human Rights. A History, New York 2007, S. 70–112.

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