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Titel
Neue Vielfalt. Medienpluralität und -konkurrenz in historischer Perspektive


Herausgeber
Birkner, Thomas; Löblich, Maria; Tiews, Alina Laura; Wagner, Hans-Ulrich
Reihe
Öffentlichkeit und Geschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
331 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Henrich-Franke, Historisches Seminar, Universität Siegen

Der Sammelband „Neue Vielfalt. Medienpluralität und -konkurrenz in historischer Perspektive“ ist das Ergebnis der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Kommunikationswissenschaften, die im Januar 2015 stattfand. Der ‚Neuen Vielfalt’ wird im Band ein breites Verständnis von ‚Vielfalt’ zugrunde gelegt, das sowohl die Folgen der Verbreitung eines neuen Mediums als auch einer neuen Medientechnologie für Kommunikation, Inhalte, Rezipienten und Wettbewerber umfasst. Die Herausgeber grenzen den Band so gezielt vom Begriff des Medienwandels ab, der für sie eng auf den Zusammenhang von medialem und gesellschaftlichem Wandel abzielt. So sollen alle Dimensionen von Pluralität innerhalb eines Mediensystems adressiert werden.

‚Neue Vielfalt’ ist für die Herausgeber eng mit der Einführung des privaten Rundfunks in den 1980er-Jahren verknüpft. Diese Entwicklung wird als jüngste Zäsur in der Geschichte des Mediensystems interpretiert. Dies lässt sich durchaus ambivalent bewerten: Einerseits ist es legitim, das Jubiläum des dualen Rundfunks als Ereignis in den Mittelpunkt der Tagung zu stellen. Andererseits liegt dem Band damit aber auch ein spezifisches Verständnis von ‚Medien’ zugrunde, das Medien eng an die traditionellen Massenmedien Presse, Hörfunk und Fernsehen heranführt und neuere Entwicklungen im Bereich von digitalen Medien, wie etwa das Internet, ausklammert.

Im Zentrum des Bandes – wie in den einzelnen Beiträgen – steht eine übergreifende Fragestellung: Wann und wie trat jeweils eine neue Vielfalt auf, wie reagierten die bestehenden Medien auf die Pluralisierung und wie gingen die Mediennutzer mit den neuen Möglichkeiten und Versprechen um. Mit dieser Leitfrage nimmt der Band gezielt das ‚Ringen’ der Einzelmedien und Publika um den eigenen Platz im neuen Medienensemble in den Blick. ‚Neue Vielfalt’ ist eben nicht die Ablösung des einen Mediums durch das andere, sondern vielmehr das Einfinden in ein neues Neben- und Miteinander. In den Aushandlungsprozess auf dem Weg in ein neues Gleichgewicht sind unterschiedliche Ebenen und Akteure integriert: Politik, Technik, Mediensysteme, Medienunternehmen, konkrete Formate und Angebote, aber eben auch die Nutzer und ihr Nutzungsverhalten.

Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses von ‚Neuer Vielfalt’ fächert der Band die übergreifende Leitfrage in eine Reihe von Unterfragen auf: Wie hingen die Entwicklungen in den einzelnen Bereichen zusammen? Welche Rolle spielten Regulierung und Deregulierung? Wie sah die tatsächliche und vermeintliche ‚Neue Vielfalt’ von Medienangeboten und -formen im Einzelnen aus? Welche gegenläufigen Entwicklungen fanden möglicherweise parallel statt und gingen mit einem Verlust von Vielfalt einher? Wie reagierten Mediennutzer auf die veränderte Situation und gestalteten diese aktiv mit?

Der Fokus der einzelnen Beiträge liegt auf der deutschen Medienlandschaft. Dies führt zwar einerseits die Beiträge inhaltlich näher zusammen, andererseits wird die Aussagekraft des Bandes auf die ‚Neue Vielfalt’ in Deutschland vom Kaiserreich bis zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschränkt. Dies ist umso bedauerlicher, als die Entwicklungen in vielen europäischen Staaten parallel verliefen und hier eine kontrastive Perspektive den Band hätte bereichern können.

Insgesamt besteht der Band aus 13 Beiträgen, die ein breites inhaltliches Spektrum abdecken. Von den Bilderwelten in der populären illustrierten Presse im Kaiserreich über asymmetrischen Wettbewerb um Radiohörer in den 1950er-/60er-Jahren und die Einstellung von Politikern wie Helmut Schmidt und Peter Glotz zu Medien, Fernsehen und Journalismus bis hin zur Mediennutzungsforschung illuminiert der Band diverse Themenfelder. Abgerundet wird er von einem programmatischen Beitrag von Jürgen Wilke über ‚Historische Determinanten der Pluralisierung von Medienangeboten’. Wilke präsentiert eine Systematik von fünf Determinanten – technische, politische und rechtliche, ökonomische, gesellschaftliche sowie professionelle – die in vielerlei Hinsicht interdependent wirken und Medien-Pluralität erzeugen. Ob Pluralisierung derweil lediglich eine quantitative Vermehrung des Medienangebots bedeutete oder auch eine qualitative Diversifikation, hing jeweils von historischen Konstellationen und gesellschaftlichen Bedürfnissen ab. Der Beitrag von Wilke bietet viel Anregungspotential und hätte – nach Meinung des Rezensenten – an den Anfang des Bandes gehört und den einzelnen Beiträgen stärker als Leitlinie an die Hand gegeben werden können, um so die Kohärenz des Bandes zu stärken.

Freilich ist es nicht möglich, jeden einzelnen Beitrag in dieser Rezension gebührend zu diskutieren. Nichtsdestotrotz, sollen drei Beiträge die ganze Vielfalt des Bandes repräsentativ darstellen. Susanne Vollberg untersucht die Bedeutung des zweiten Fernsehprogramms für die Vielfalt im DDR-Fernsehens, die umso zentraler war, als die SED-Führung das Fernsehen als eine Art ‚Vermittlungsinstanz’ interpretierte. ‚Neue Vielfalt’ stand somit im Spannungsfeld zwischen ‚ideologischer Indoktrination’ und der Abwerbung der eigenen Bevölkerung vom unerwünschten Fernsehen der ‚Westkonkurrenz’. Letztlich führten das zweite Programm und die Programmreformen der 1970er-Jahre zu einer größeren Vielfalt, vor allem durch die notwendige Unterhaltungsorientierung, die auch mittels US-amerikanischer und europäischer Serien und Spielfilme realisiert wurde.

Christian Schwarzenegger und Thorsten Naab fragen zweitens nach Mediengenerationen und deren Bedeutung für die ‚Neue Vielfalt’. Wie gehen Menschen mit der Pluralisierung von Medienangeboten um? Welche Rolle spielen generationsspezifische Merkmale? Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass durch das medienkommunikative Repertoire, das in der Jugend erworben wird, zwar eine Prägung erfolgt, aber eben keine lebenslange Formatierung von Mediengebrauchsmustern. Mediengebrauch ändert sich im Lebensverlauf mehrfach und so erscheinen Medienerfahrungsräume, die auch generationenübergreifend gebildet werden, relevanter. Statt an der Emergenz von Kohorten-Erwartungen oder Technologien anzusetzen, plädieren die Autoren stattdessen – ganz im Sinne der ‚praxeologischen Wende’ in den Medien- und Kommunikationswissenschaften – für eine stärkere Fokussierung der Medienpraxis. Eine stärkere Sensibilität für Nutzungsähnlichkeiten – so die Autoren – könne helfen, langfristige Muster im Umgang mit ‚Neuer Vielfalt’ zu entdecken, anstatt Trennendes zu predigen.

Steffen Kolb untersucht schließlich die inhaltliche und thematische Ausgestaltung des Fernsehprogramms nach Einführung des dualen Systems mit Blick auf die ‚Neue Vielfalt’. Er kommt für seine Langfristuntersuchung zwischen 1998 und 2011 zu dem „ernüchternden Ergebnis“, dass das Ziel der (relevanten) Vielfaltssteigerung nicht erreicht werden konnte, vor allem weil in den zuschauerstarken Zeiten (20 – 23 Uhr) oder am späten Nachmittag ein deutlicher Rückgang der Berichterstattung über gesellschaftlich relevante Themen wie Politik, Wirtschaft und Soziales zu verzeichnen ist.

Wenngleich die einzelnen Beiträge interessante Aspekte im Hinblick auf die Frage nach der ‚Neuen Vielfalt’ zutage fördern, lässt der Band leider viel Potential ungenutzt. Eine tatsächlich zusammenfassende Reflektion der Einzelbeiträge in Hinsicht auf die vielen einleitend aufgeworfenen Fragen fehlt leider ebenso wie eine systematische Binnengliederung des Bandes entlang einzelner Phasen der Pluralisierung. Anknüpfend an den Beitrag von Jürgen Wilke hätten sicherlich die einleitend formulierten übergreifenden Fragen kohärenter beantwortet werden können. Dies gilt umso mehr, weil der Band – was eigentlich sehr positiv anzumerken ist – tatsächlich interdisziplinär zwischen Medien- und Kommunikationsgeschichte sowie Medien- und Kommunikationswissenschaften angesiedelt ist. Insofern möchte der Rezensent den Band ‚Neue Vielfalt in der Medien- und Kommunikationsgeschichte’ trotz einiger kritischer Untertöne zum Lesen empfehlen. Immerhin kann die angebrachte Kritik auch als Aufforderung verstanden werden, den interessanten Aspekt der ‚Neuen Vielfalt’ in der Forschung zu vertiefen.