Titel
The Pandemic Perhaps. Dramatic Events in a Public Culture of Danger


Autor(en)
Caduff, Carlo
Erschienen
Anzahl Seiten
254 S.
Preis
$ 29.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kris Decker, Seminar für Kulturwissenschaften und Wissenschaftsforschung, Universität Luzern

Vielleicht. Ein kleines Wort, das ein beeindruckendes Ensemble von Dingen und Leuten um sich versammeln kann: Katastrophenschützer, Krisenstäbe, Notfallübungen, Laborverfahren, Impfstoffe, die Weltgesundheitsorganisation, Pressekonferenzen, Leitartikel, Infektionsschnelltests. Was diese Konstellation zusammenhält, ist die Erwartung einer bedrohlichen, weltweiten Grippe. Eine Rationalität der Vorsicht und Wachsamkeit, des Testens und Vorbereitens, der Ahnung und des Verdachts ist am Werk und nimmt umso mehr Raum ein, je länger das erwartete Ereignis latent bleibt, sich aber durch „strange incidents and episodes“ (S. 28) anzukündigen scheint – eine regionale Grippe hier, eine neue Virusvariante dort. Gesundheitsexperten empfehlen ständige Desinfektion. Forscher/innen versuchen, der Pandemie einen Schritt voraus zu sein. Eine prophetische Form des Sprechens keimt auf, so die Ausgangsbeobachtung des vorliegenden Buches: „‚The virus writes the rules and this one, like all influenza viruses, can change the rules, without rhyme or reason, at any time’“ (S. 79), verkündet 2009 die Direktorin der WHO.

Die Rationalität des ‚Vielleicht‘, aus der solche Sprechakte hervorgehen, ist Gegenstand von Carlo Caduffs ethnographisch-historischer Studie, die die Wege des Influenzavirus durch die USA der Gegenwart und jüngeren Zeitgeschichte verfolgt. Caduff skizziert, auf welchen wissenschaftlichen, medizinischen, bürokratischen, journalistischen und politischen Praktiken diese Rationalität aufruht, wie sie sich formiert, verfestigt, wandelt. Auf der Grundlage eines heterogenen Materials aus Interviews und Beobachtungen, unter anderem an einem Institut für Mikrobiologie in New York City, den Centers for Disease Control in Atlanta und der WHO in Genf, aus Expertengutachten, Protokollen von Kongressanhörungen, Zeitungsartikeln und Plakaten von Gesundheitskampagnen rekonstruiert Caduff die Entstehung der Angst vor der Pandemie.

Dies wird durch eine Verknüpfung von Ethnographie und historischer Analyse bewerkstelligt: Mit selektiven historischen Grabungen (darunter einem Kapitel zu den Entstehungsbedingungen der Influenzaforschung) entfaltet der Verfasser den historischen Horizont der Pandemiedebatte in den USA und arbeitet an einer „Anthropologie des Zeitgenössischen“1 im Sinne Paul Rabinows, durch die die Gegenwart in ihrer Gewordenheit begreifbar gemacht werden soll. Die historischen Abschnitte des Buches bleiben nicht auf separate Kapitel beschränkt, sondern werden an einigen Stellen mit den ethnographischen Beobachtungen verquickt. Dieses Vermischen der Zeithorizonte ist nicht nur symmetrisch zur Funktionsweise des prophetischen Sprechens, das sich auszeichnet durch permanente Bezüge auf vergangene pandemische Ereignisse, unter denen die Spanische Grippe (ca. 1918–1920) das prominenteste Beispiel ist. Es zeigt auch, wie Wissenschaftsgeschichte und -anthropologie entgegen disziplinärer Gewohnheiten zusammenfinden können.

Caduff hält sich in den Büros von Gesundheitsorganisationen, in Trainingscamps des Katastrophenschutzes (wo er den Ernstfall hinter einer meterdicken Glasscheibe beobachtet), in Krankenhäusern und im Labor auf. Doch das Labor ist für die Rationalität des ‚Vielleicht‘ der bedeutsamste Ort, weil sich hier „culture of danger“ und Virenkulturen miteinander verbinden. Über die Arbeiten der „microbe farmers“ (S. 38) lesen wir aus der Nähe, so etwa über das Züchten und Untersuchen von Influenzaviren. Aus solchen laborethnographischen Passagen wird deutlich, worin die Grundsituation mikrobiologischen Forschens besteht: Das Influenzavirus lässt sich nur begrenzt domestizieren. Uneinholbar und in unregelmäßigen Bewegungen wirbelt es über den Globus, ständig neue Formen ausbildend. Innerhalb einer „cosmology of mutant strains“ (S. 78) rennen die Forscher ihrem Gegenstand fortwährend hinterher, was auch die Impfstoffproduktion auf die Probe stellt: „Microbiologists […] are destined to be ignorant, at least in part, because the virus is always exceeding what they know about it.“ (S. 79) Caduffs Darstellung der Virusforschung ist keine Fortschrittsgeschichte, in der das „‚book on infectious diseases‘“ (S. 72) Kapitel für Kapitel geschlossen würde. Nur in den Gefrierschränken der Labore, bei minus 70 Grad Celsius, ist das Virus – vorläufig – bezähmt worden.

Wie das prophetische Sprechen aus dieser Situation unablässiger Ungewissheit sein Momentum bezieht, wie es zum dominanten Kommunikationsmodus in der öffentlichen Diskussion wird, sich in worst case-Übungen und Infektionstests materialisiert und zur „political technology“ (S. 144) avanciert, kommt in „The Pandemic Perhaps“ brillant zur Darstellung. Es ist das „perhaps“, das pandemisch wird, während der Ausbruch einer Großen Grippe – im Gegensatz etwa zu den drastischen Ereignissen durch des Ebolavirus – bis zum Ende von Caduffs Feldforschung in einem Zustand des Noch-Nicht verharrt. Ein merkwürdiges Zeitregime nimmt Konturen an: „The pandemic lingers forever on the horizon, where it is about to happen. Thus, the perception of the present as a test, as a real test, makes it more difficult for observers to perceive the present as a time of fulfillment. Prophetic claims remain unfulfilled, and the foreseen and foretold are forever deferred into a time that is still to come. Pandemic influenza is always before us. It has the future as its nature.“ (S. 150) Innerhalb dieses Verhältnisses zu Zeit und Dasein verkommt die Gegenwart zum permanenten „rehearsel for ‚the big one’“ (S. 148).

Doch wer macht sich ein solches Zeitregime zu eigen, wer lebt es, jenseits der Büros der Gesundheitsbehörden? Was kommt an vom Wort der Propheten bei den Adressaten auf der Straße? Wenn der Verfasser auf das alltägliche kulturelle Geschehen eingeht, ist dies ein aufgeräumtes Geschehen, das vornehmlich entlang von New York Times-Artikeln beschrieben wird. Über den schmutzigen Alltag, der den Desinfektionsvorschriften entgegenläuft, ist hingegen wenig zu lesen. Somit bleibt das bereits im Untertitel des Buches vorgebrachte Postulat einer „public culture of danger“ nur teilweise überzeugend: In welchem Maße zeigen sich die Alltagspraktiken gewöhnlicher Menschen gegenüber den Mahnungen und Prophezeiungen resistent?

Das Buch ist nicht zuletzt hinsichtlich seiner literarischen Form bemerkenswert. In dramaturgischer Feinarbeit entfaltet der gegenwärtig am King’s College in London tätige Kulturanthropologe die Turbulenzen, die das Influenzavirus zu provozieren vermag: Hier der fiebrige Furor pandemischer Prophezeiungen, dort Caduffs geduldiger Kommentar. ‚Cool down‘, lässt er leise durch seine Schreibweise mitteilen. Zwar zollt er den Standpunkten des Mikrobiologen Peter Palese, einem „counter-prophet“ (S. 95), besondere Sympathie. Doch funktioniert sein Argument jenseits des Modus der Berichtigung oder Entlarvung des Prophetenworts. Caduff nimmt die Propheten ernst, nimmt sie beim Wort und zeichnet auf diese Weise die Eigenlogiken ihres Redens und Handelns nach. Diese Zeichnung ist so präzis, dass das Buch unbeabsichtigterweise als Handbuch prophetischen Sprechens gebraucht werden könnte. Weniger sinistren Leser/innen bietet es eine Erkundungsreise in die Rationalität des ‚Vielleicht‘ – eine Denkfigur, die auch in anderen Feldern der Gegenwart virulent geworden ist: Szenarien klimatischer Katastrophen und der angemessenen Vorbereitung darauf zeugen genauso von dieser Rationalität wie jene Abschätzungen möglicher Gefahren der Nanotechnologie, die Mario Kaiser in einer kürzlich erschienenen Schrift als Versuch charakterisiert, „vorweggenommenen Zukünften mithilfe von proaktiv reformierten, korrigierten oder flexibilisierten Gegenwarten zuvorzukommen“.2

Anmerkungen:
1 Paul Rabinow, Was ist Anthropologie?, Frankfurt am Main 2004, S. 71.
2 Mario Kaiser, Über Folgen. Technische Zukunft und politische Gegenwart, Weilerswist 2015, S. 18f.

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