K. Sabisch: Der Mensch als wissenschaftliche Tatsache

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Titel
Der Mensch als wissenschaftliche Tatsache. Wissenssoziologische Studien mit Ludwik Fleck


Autor(en)
Sabisch, Katja
Reihe
Kaleidogramme 134
Erschienen
Anzahl Seiten
235 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Orland, Pharmazie-Historisches Museum, Universität Basel

Kaum eine wissenssoziologische Studie kommt heutzutage ohne einen Bezug zu Ludwik Fleck aus. Nachdem Anfang der 1980er-Jahre wichtige Schriften des polnisch-jüdischen Mikrobiologen und Wissenschaftstheoretikers auch im deutschsprachigen Raum bekannt wurden1, erfuhr Flecks Methodologie eine beispiellose Karriere. Nicht nur beförderte sie eine kulturell orientierte Wissenschaftsgeschichte und Erkenntnistheorie; auch quer durch die sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen werden heute Flecksche Kernbegriffe wie „Denkkollektiv“, „Denkstil“, „Präideen“, „wissenschaftliche Tatsache“ angewandt und zur Grundlage eigener Forschungsarbeiten gemacht. So erfreulich dieser erstaunliche Bekanntheitsgrad eines originellen, jedoch lange vergessenen Denkers ist – auf Dauer können sich die zentralen Ideen und Begriffe Flecks aufgrund ihres durchschlagenden Erfolges aber auch erschöpfen. Diese Gefahr besteht, wenn es nicht gelingt, den mittlerweile offiziell anerkannten Fleckschen Methodenansatz weiterzuentwickeln. Oder um es mit Fleck zu sagen: „Soll die Theorie des Erkennens eine entwicklungsfähige Wissenschaft sein, nützlich und reich an konkretem Inhalt, muss sie den Bereich ihrer Interessen erweitern.“2

Mit großen Erwartungen bin ich daher an die Lektüre des Buches der Bochumer Gender-Forscherin Katja Sabisch gegangen und teilweise enttäuscht worden. Das Versprechen, mit Ludwik Fleck die Geschichte und Gegenwart des Humanexperimentes aus wissenschaftssoziologischer Perspektive auszuleuchten, ist hoch interessant. Fleck selbst hat sich – nicht zuletzt aufgrund seiner Kenntnisse der grausamen KZ-Experimente in Auschwitz und Buchenwald – mehrfach dazu geäußert und gesagt, dass er bei ausreichender Aufklärung und Einverständnis der Versuchsperson keine Bedenken gegenüber Menschenexperimenten habe. Im Gegenteil ging Fleck davon aus, dass im Prinzip jeder erste therapeutische Eingriff des Arztes in gewisser Weise ein Experiment darstellt. Die Grenzen zwischen Beobachtung, Behandlung und systematisch durchgeführtem seriellen Experimenten waren für ihn fließend. Selbstexperimente hatte er in seinen serologischen Arbeiten mehrfach vorgenommen. Sabisch referiert Flecks Position, aber erstens bleibt bei ihr offen, wo Fleck – jenseits ethisch-moralischer Prinzipien – die Grenzen zwischen einem „wissenschaftlich sinnvollen“ und einem „vom Standpunkt der Wissenschaft“ zwecklosen Experiment zog oder gezogen hätte. Und zweitens vermisst man einen Standpunkt zu dieser Frage von der Autorin selbst.

Dementsprechend vage bleibt bei Sabisch auch der Begriff „Experiment“. Im Abschnitt „Wie der heutige Experimentbegriff entstand“ beschreibt Sabisch sehr kursorisch einige Stationen des medizinischen Experimentes seit dem 18. Jahrhundert. Erwähnung finden bekannte Beispiele aus der Geschichte der Impfung, der animalischen Elektrizität oder die Verdauungsversuche von William Beaumont. Wenn die Reihenversuche mit Pomeranzen und Limonen zur Bekämpfung des Skorbut des Schiffsarztes James Lind als „erstes bekanntes klinisches Experiment“ (S. 28) bezeichnet werden, fragt man sich nicht nur, was hier „klinisch“ genau meint. Es ist auch nicht zuletzt angesichts des aktuellen Forschungsstandes problematisch, das Jahr 1747 als Ursprungsjahr des Humanexperimentes anzunehmen. Denn keine Medizin, Physiologie oder Pharmazie der Vergangenheit wie der Gegenwart kommt ohne therapeutische oder explorative Versuche aus.3 Überholt ist auch die Feststellung, die experimentelle Physiologie habe „der naturwissenschaftlichen Methode innerhalb der Medizin zu ihrem Siegeszug“ (S. 30) verholfen. Von einem „Anschluss der Lebenswissenschaften an die physikalischen Naturwissenschaften“ kann nur gesprochen werden, wenn man von distinkten Disziplinen ausgeht, was jedoch vor dem 19. Jahrhundert wenig sinnvoll ist. Naturphänomene waren bis in das 18. Jahrhundert hinein nicht in organische und anorganische Dinge geschieden, und „Physik“ ein schillernder Begriff, den nicht zuletzt Mediziner für sich beanspruchten (das englische Wort für Medizin war „physick“). Wie jüngere Forschungen zur experimentellen Physiologie und Naturphilosophie der Frühen Neuzeit gezeigt haben, war die heutige Differenz zwischen Physik und Physiologie ein Ergebnis und nicht die Grundlage der sogenannten „wissenschaftlichen Revolution“.4

So ist es auch weniger eine weiter entwickelte Erkenntnistheorie nach Fleck, die der Leser beziehungsweise die Leserin aus den von Sabisch in vier Großkapiteln vorgelegten Geschichten des Menschenexperimentes erwarten kann. Die behandelten Experimente werden vielmehr in einer hauptsächlich deskriptiv orientierten Vorgehensweise präsentiert, wobei jedes Kapitel seinen Ausgangspunkt bei einem der Fleckschen Theoreme nimmt. Kapitel IV erörtert die „Partialisierung und Quantifizierung des Menschen, die mit der Zusammenführung von naturwissenschaftlicher Methode und medizinischer Forschung“ im 19. Jahrhundert einherging. Verfolgt wird das Ziel, „verschiedene Denk- und Aufschreibestile“ im Prozess der Zergliederung des noch im Menschenexperiment des 18. Jahrhunderts „ganzen“ Menschen zu identifizieren. Kapitel V ist demgegenüber dem Begriff „Denkstil“ gewidmet und fragt nach biopolitischen Auswirkungen konkreter Denkweisen. Am Beispiel der Prostituierten zeigt Sabisch den Zusammenhang zwischen der Krankheitskonzeption „Syphilis“ und der Verwissenschaftlichung respektive Pathologisierung der Prostituierten und ihrer Disziplinierung im psychiatrischen Umfeld auf.

Die für die weiterführende Diskussion des Begriffes „Menschenexperiment“ ertragreichsten Kapitel sind VI und VII. Ausgehend von Flecks Erfahrungen mit der Forschung in Ausschwitz und Buchenwald zeigt Sabisch, dass der empiristische Anspruch des modernen Experimentes im Rahmen der KZ-Forschung zu einem „medizinierten Terror“ (S. 137) pervertiert wurde. Oft ging es gar nicht mehr um Wissenschaft, sondern um perfide geplante Tötung. Obgleich zum Zwecke der Entwicklung verwertbaren Wissens konzipiert, seien viele Experimente in der Rückschau nichts weiter als ein „Instrument der Absoluten Macht“ (S. 156) gewesen. Das Experiment verkam zu gelebtem Terror und institutionalisierter Grausamkeit.

Als radikaler Gegensatz dazu soll das in Kapitel VII behandelte Beispiel der medizinischen Maßnahmen zur Geschlechtsumwandlung zeigen, wie der Begriff „Experiment“ in eine emanzipatorische Praxis umgemünzt werden kann. Aufgrund der beharrlichen Öffentlichkeitsarbeit von Betroffenen-Verbänden intersexueller beziehungsweise zwischengeschlechtlicher Menschen gegen unwiderrufliche Eingriffe im Säuglings- und Kindesalter wurde eine sukzessive Neudefinition der geschlechtszuweisenden Eingriffe mittels „Informed Consent“ verhandelt. Das „Wohlergehen der Versuchspersonen“ (S. 214) wurde zum Standard der medizinischen Forschung gemacht, Beratung, Stellungnahme, Orientierung und Genehmigung der Betroffenen gelten seither als unverzichtbare Voraussetzungen für eine Operation.

Insgesamt hinterlässt die Lektüre des Buches einen zwiespältigen Eindruck. Auf der einen Seite greift die Autorin mit dem Thema Menschenversuche ein wichtiges Phänomen der gegenwärtigen wissenschaftshistorischen Debatten um Experimente in den Lebenswissenschaften auf. In zum Teil minutiös erarbeiteten Untersuchungen werden konkrete Beispiele aus drei Jahrhunderten behandelt. Auf der anderen Seite wird aber eine Weiterführung der Fleckschen Theoreme in der Gesamtkonzeption des Buches kaum sichtbar. Es fehlt dem Buch zudem ein Abschlusskapitel, welches nach der Deskription der Beispielexperimente eine Reflexion von zentralen Konzepten und weiterführende Überlegungen auf Basis der eigenen Forschung hätte bieten können.

Anmerkungen:
1 Siehe Ludwik Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, hrsg. von Lothar Schäfer / Thomas Schnelle, Frankfurt am Main 1980 (Original 1935).
2 Ludwik Fleck, Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, hrsg. von Sylwia Werner / Claus Zittel, Frankfurt am Main 2011, S. 283.
3 Als Beispiel für jüngere Forschungen zum Thema siehe Erika Dyck / Larry Stewart (Hrsg.), The Uses of Humans in Experiment. Perspectives from the 17th to the 20th Century, Leiden 2016.
4 Siehe etwa Charles T. Wolfe / Ofer Gal (Hrsg.), The Body as Object and Instrument of Knowledge. Embodied Empiricism in Early Modern Science, Dordrecht 2010.