O. von Wrochem (Hrsg.): Nationalsozialistische Täterschaften

Cover
Titel
Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Herausgegeben im Auftrag der KZ-Gedenkstätte Neuengamme von Oliver von Wrochem unter Mitarbeit von Christine Eckel


Herausgeber
von Wrochem, Oliver
Reihe
Reihe Neuengammer Kolloquien 6
Erschienen
Berlin 2016: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
535 S. + 1 DVD
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Reulecke, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Dass Angehörige der Kriegskindergeneration, inzwischen auch der Kriegsenkelgeneration, Biographien ihrer Kriegseltern bzw. -großeltern untersuchen, beurteilen und zum Teil auch auf den eigenen Lebenslauf beziehen, ist seit gut einem Jahrzehnt zu beobachten, beginnend also etwa sechs Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: Eine beträchtliche Anzahl von Publikationen – von eher subjektiven Darstellungen aus konkreten familiären Innensichten heraus bis zu distanziert-abständigen Untersuchungen aus gesellschaftsgeschichtlich-psychohistorischer Sicht – ist seither bereits erschienen.1 In diesem Kontext verfolgt der sechste Sammelband der „Neuengammer Kolloquien“ das spezielle Ziel, die Formen familiären Erinnerns an den Nationalsozialismus mit den gesellschaftlich-wissenschaftlichen und kulturellen Reaktionen auf die NS-Täterschaften seit 1945 in Verbindung zu bringen. Ausgangsbasis der umfang- und detailreichen Publikation waren vor allem die Ergebnisse zweier Tagungen im Jahre 2013 – veranstaltet von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und der dortigen Helmut-Schmidt-Universität –, bei denen einschlägige Forschungsprojekte diskutiert sowie Berichte einiger Nachkommen von NS-Tätern über ihr familiäres „Erbe“ vorgestellt worden waren.

Nach einer umsichtigen Einleitung des Herausgebers Oliver von Wrochem enthält der Sammelband zunächst in den drei Blöcken „Forschung und Gesellschaft“, „Bildung und Gesellschaft“, „Literatur, Film und Erinnerungsgemeinschaften“, dann in zwei weiteren Blöcken zu den „Auseinandersetzungen mit der Täterschaft der Eltern“ bzw. der „Täterschaft der Großeltern“ zum einen 14 Beiträge und zwei Dokumentationen aus wissenschaftlicher Sicht im Hinblick auf die Täterfrage, zum anderen 18 exemplarische Darstellungen von individuell Betroffenen aus der Kriegskinder- bzw. Kriegsenkelgeneration. Eine als Anlage beigefügte DVD von dreieinhalbstündiger Dauer bietet zehn filmische Porträts, in denen diese Nachkommen, deren Erkenntnisse zum Teil vorher schon abgedruckt worden sind, in eindrucksvoller Weise die subjektiven Folgen ihrer Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ihrer Eltern bzw. Großeltern schildern.

Der weiteste Bogen wird in den beiden ersten Aufsätzen des Bandes geschlagen. Frank Bajohr liefert einen Überblick zu bisherigen Forschungsergebnissen im Hinblick auf die Täterfrage; er bringt diese vor allem auch mit den generationellen Aspekten in Verbindung und erläutert die Handlungspraxis der Täter sowie die sozialpsychologischen Aspekte der Täterforschung. Thomas Kühne blickt dagegen auf die in unserer Gesellschaft bislang verbreiteten Bilder von NS-Tätern, die er in einleuchtender Weise auf drei höchst unterschiedliche Nenner bringt: Dämonisierung, Viktimisierung und Diversifizierung. An einzelnen Beispielen, etwa an den Tätern Eichmann und Höß in einem Beitrag von Gerhard Paul, wird anschließend erläutert, in welch verschiedener, zunächst oft eher abweisender Form in der Bundesrepublik die Aufarbeitung der NS-Verbrechen erfolgt ist, welche Rolle dabei auch das „Geschlecht“ als Analysekategorie gespielt hat (worauf Elissa Mailänder ausführlich eingeht) und welche psychohistorischen Hintergründe es waren, die bei den Nachkommen der Täter lange Zeit eine Ausblendung der Frage nach der Täterschaft bewirkt haben – dies nach dem Motto: lieber „Kriegskind“ als „Täterkind“ (so Sebastian Winter, s.u.).

Die Texte in den folgenden beiden Blöcken liefern eine Fülle von Hinweisen auf den aktuellen, nicht zuletzt moralischen Umgang mit der Thematik, so etwa in verschiedenen Bildungseinrichtungen, in der Literatur, in autobiographischen Filmen, in innerfamiliären Erzählungen und zum Beispiel auch in Erzählungen der Dorfbevölkerung rings um das KZ Neuengamme. Eingefügt ist in jeden dieser beiden Blöcke eine „Dokumentation“, das heißt das Protokoll eines Gesprächs zwischen Fachleuten (zum Teil mit Stellungnahmen aus dem Publikum) einerseits über die Zukunftsperspektiven der wissenschaftlichen Täterforschung, andererseits über die Art und Weise, wie in Literatur und Film autobiographische Aussagen über das Umgehen mit der Täterfrage präsentiert worden sind. Provozierend in diesem Kontext mag ein deutliches Urteil von Jan Philipp Reemtsma gewesen sein, der davor gewarnt hat, in abständiger Weise pädagogisch-moralische Lektionen nur aus der Geschichte des Nationalsozialismus und dem Blick auf dessen Verbrechen ableiten zu wollen, denn solche Lektionen, was bei der Gedenkstättenpädagogik zu beachten sei, gebe es nicht. Stattdessen müssten in allen Debatten und Dokumentationen zunächst einmal immer die unterschiedlichen Grundannahmen der Menschen über ihr Handeln und Verhalten befragt und bedacht werden (S. 181 und S. 189) – dies ein Appell Reemtsmas also in Richtung auf eine grundsätzliche Empathiefähigkeit und Selbstreflexion beim Umgehen mit der Historie.2

In den autobiographischen Berichten der letzten beiden Blöcke des Bandes – verfasst von elf Kindern der Kriegselterngeneration und sechs Kriegsenkeln – sowie der beigefügten DVD, versehen mit diversen Fotos und einer Reihe weiterer Quellen, stehen die rückblickenden Beurteilungen sowie die manchmal erst recht späten Entdeckungen einer NS-Täterschaft der Eltern bzw. Großeltern mit ihren unterschiedlichen biographischen Folgewirkungen im Mittelpunkt. Zum Teil war es aufgrund von speziellen psychischen Herausforderungen beim Älterwerden eine nachdrückliche Spurensuche, die zu einem konkreten Wissen über die Täterschaft zum Beispiel von KZ-Verbrechen der Vorfahren geführt hat, nachdem lange Zeit ein innerfamiliäres Beschweigen des Verhaltens während des NS-Regimes üblich gewesen war. Vor allem bei den im Krieg Geborenen und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Aufgewachsenen war es oft so, dass man mit viel Mitgefühl sehr massiv die Bewältigung der krassen Alltagsprobleme im Krieg und nach dem Krieg durch die Mutter und den Vater (wenn dieser nicht im Krieg „gefallen“ war) erlebt hatte und deshalb lange Zeit kaum Vorwürfe erhoben oder kritische Fragen gestellt hat. Die unterschiedlichen Rollen der Mütter und der Väter, das Aufwachsen häufig auch ohne Vater, die Bedeutung familiärer Netzwerke, besonders die Beziehung zu Geschwistern damals und bis heute (mit manchmal innerfamiliären „Verwerfungen“ wegen unterschiedlicher Bewertungen des Handelns der Eltern als Täter) sind Fragehorizonte, um die sich die oft eindrucksvollen Aussagen und stellenweise bedrückenden Selbstbeurteilungen der Zeitzeugen, besonders der Kriegskinder, in ihren Beiträgen und den Interviews drehen.

Die mittlerweile auch zwischen den Kriegskindern und deren Kindern (den Kriegsenkeln) bestehenden, nun breiter diskutierten Erziehungsdefizite und Kommunikationsprobleme wegen nachwirkender, zum Teil traumatischer Belastungen der Eltern bei deren Aufwachsen in der Kriegs- und Nachkriegszeit sind zwar nicht das zentrale Thema des Bandes, spielen jedoch ebenfalls in den dort vorgestellten Urteilen besonders aus der Kriegsenkelgeneration eine gewisse Rolle, vor allem in Richtung auf eine zu beobachtende zunehmende Selbststilisierung der Kriegskinder infolge ihrer traumatischen Kindheitserfahrungen als „Opfer“. Durch die öffentliche Hervorhebung der negativen Erfahrungen der „Kriegskinder“, deren Bewältigung allerdings nicht selten zu einem latenten trotzigen Stolz geführt habe, seien die Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Familiengeschichte und ein gleichzeitiger Blick auf diese Kinder als „Täter- und Mitläuferkinder“ erschwert worden. So bringt es aus der Enkelgeneration Sebastian Winter (Jahrgang 1976, Sozialpsychologe an der Universität Bielefeld) in seinem Beitrag auf den Punkt. Dies wiederum habe in der deutschen Erinnerungskultur eine „kollektiv-narzisstische Identifikation mit Deutschland erleichtert“ (S. 112) – ein Urteil, das im positiven Sinn des Wortes eine weitere Provokation darstellt, die von diesem Band ausgeht.

Explizit hat Oliver von Wrochem, der Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und Herausgeber dieses Bandes, von vornherein betont, dass mit den bisherigen Forschungsergebnissen die Auseinandersetzung mit der NS-Täterschaft und deren Folgen keineswegs schon abgeschlossen sei. „In mancherlei Hinsicht“ stehe man „sogar erst am Anfang“, weshalb der Band als Einladung gemeint sei, die Thematik intensiv weiter zu bearbeiten und über deren „Relevanz für Gegenwart und Zukunft nachzudenken“ (S. 16). Diesem Appell ist nachdrücklich zuzustimmen: Der hier vorgestellte Band enthält eine Fülle von Anregungen, wie eine intensive Erörterung der Thematik „NS-Täterschaft“ und ihrer Nachwirkungen fortgeführt werden kann.

Anmerkungen:
1 Als ungewöhnliches Beispiel und zugleich Metareflexion des Genres sei hier genannt: Per Leo, Flut und Boden. Roman einer Familie, Stuttgart 2014; rezensiert von Stefanie Schüler-Springorum, in: H-Soz-Kult, 05.01.2015, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-23065> (01.08.2016); siehe auch Per Leo, Über Nationalsozialismus sprechen. Ein Verkomplizierungsversuch, in: Merkur 70 (2016), Heft 5, S. 29-41, <https://www.merkur-zeitschrift.de/2016/04/21/ueber-nationalsozialismus-sprechen-ein-verkomplizierungsversuch/> (01.08.2016).
2 Siehe früher bereits Jan Philipp Reemtsma, Wozu Gedenkstätten?, in: Mittelweg 36 13 (2004), Heft 2, S. 49–63.