K. Andresen u.a. (Hrsg.): A European Youth Revolt

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Titel
A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth Protest and Social Movements in the 1980s


Herausgeber
Andresen, Knud; van der Steen, Bart
Reihe
Palgrave Studies in the History of Social Movements
Erschienen
Basingstoke 2016: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XVIII, 277 S.
Preis
$ 100.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Fuhg, Center for Metropolitan Studies, Technische Universität Berlin

Heute gelten die 1980er-Jahre in der retrospektiven Selbstwahrnehmung westeuropäischer Gesellschaften mitunter als langweilig. Doch politisch betrachtet mündeten die 1980er-Jahre schließlich in das Ende der Systemkonfrontation – als Grundvoraussetzung für einen gesamteuropäischen Einigungsprozess. Auf der großen Bühne der Politik kursierten vor und nach 1989 freilich unterschiedlichste Vorstellungen von der Zukunft Europas. In der Polit-Sitcom „Yes Minister“, während der 1980er-Jahre über die Ländergrenzen Großbritanniens hinaus beliebt, bewahrte der Premierminister das Land vor einer nationalen Katastrophe. Die Bürokratie aus Brüssel drohte dem beliebten britischen Würstchen aufgrund eines zu geringen Fleischanteils den Status des „Würstchens“ zu entziehen. In der Realität wandte sich Margaret Thatcher mit ihrem Forderung „We want our Money Back“ 1984 an die Spitzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und machte deutlich, was für sie Europa bedeutete: ein wirtschaftlicher Zweckverband, keine Solidar- und Wertegemeinschaft.

In außerparlamentarischen Bewegungen hatte sich eine Transnationalisierung politischen Denkens und Handelns in Europa und über den Atlantik hinweg bereits im Zuge der Studentenproteste seit den späten 1960er-Jahren vollzogen. In den 1980er-Jahren fanden Jugendrevolten und Proteste zeitgleich in weiten Teilen Westeuropas statt. Die Hausbesetzerbewegungen in Berlin, Zürich und Amsterdam hatten nicht nur gemeinsame politische Ziele und Ausdrucksformen, sondern waren eng vernetzt. Ähnliches galt für die radikale Linke in Italien, Spanien und Schweden oder für die sich in den 1980er-Jahren zunehmend institutionalisierenden Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegungen in Westeuropa.

Ausgehend von der Gleichzeitigkeit und gegenseitigen Beeinflussung sozialer Proteste und Jugendbewegungen in weiten Teilen Europas verfolgt der Sammelband „A European Youth Revolt. European Perspectives on Youth and Social Movements in the 1980s“ die Frage, ob man von einer gesamteuropäischen Jugendrevolte sprechen kann. Hierfür untersuchen die Autorinnen und Autoren die Zirkulation von Wertevorstellungen und Idealen, die Herausbildung und Beeinflussung von politischen Konzepten sowie geteilte Mentalitäten und politische Ausdrucksformen. Dabei stehen sie vor der Herausforderung, neben den Gemeinsamkeiten die jeweils spezifischen und voneinander zu unterscheidenden nationalen Kontexte nicht aus dem Blick zu verlieren, gegen die Jugendkulturen und soziale Bewegungen rebellierten. Besonders die Überwindung der in der Forschung sowie im politischen und kulturellen Denken weit verbreiteten Teilung West- und Osteuropas, ein zentrales Anliegen des Sammelbandes, birgt Gefahren und Potentiale zugleich. Um sich nicht in das gängige Narrativ einer bloßen Anpassung osteuropäischer Gesellschaften an das Modell „westliche Freiheit“ einzureihen, betonen die Autorinnen und Autoren auch die Eigenlogik von Protest und Widerstand in Osteuropa.

Ausgehend von den wirtschaftlichen Entwicklungen weiter Teile (West-)Europas konstituierte sich als Reaktion auf eine konsumorientierte „Yuppiekultur“ die Vorstellung von „No Future“, mit der Jugendliche gegen die Wohlstandsgesellschaft rebellierten. Anders als für die Protagonisten von 1968, so die Herausgeber des Sammelbandes, standen für viele Akteure der europäischen Jugendproteste und für soziale Bewegungen der 1980er-Jahre indes keine allumfassenden Analysen und Interpretationen der gesellschaftlichen Verhältnisse im Vordergrund. Widerstand und Protest richteten sich oftmals gegen konkrete politische Vorhaben, etwa Stadtentwicklungsprojekte. Dabei verzichtet der Sammelband jedoch weitestgehend darauf, gesamteuropäische Tendenzen genauer zu beschreiben und damit zum Beispiel geteilte Erfahrungen einer Entwicklung hin zur „neoliberalen Stadt“ als zentrales Moment für eine Herausbildung von Solidarität sowie eines womöglich gesamteuropäischen generationellen Gemeinschaftssinns zu erschließen.

Nach einleitenden konzeptionellen und begrifflichen Überlegungen widmet sich der Sammelband den Themenkomplexen der Hausbesetzerszene und autonomen Bewegungen (Österreich, Niederlande, Bundesrepublik Deutschland, Schweiz), sich verändernden linksradikalen Bewegungen (Schweden, Italien, Spanien), neuen sozialen Bewegungen und Jugendprotesten (unter anderem in Frankreich), Punk als Protestform (Jugoslawien, Polen, Großbritannien) sowie Expertendebatten (Bundesrepublik Deutschland, Schweiz, Großbritannien). Verflechtungsgeschichtliche Ansätze, aber auch vergleichende Studien prägen dabei durchgehend den methodischen und theoretischen Rahmen des Bandes.

So geht der von Jan Jämte und Adrienne Sörbom verfasste Beitrag zur Radikalisierung der anarchistischen Szene in Schweden vergleichsgeschichtlich der Frage nach, wieso es dort im Gegensatz zu anderen Teilen Nordwesteuropas zu keinem Erstarken der linksradikalen Szene gekommen ist. Im Laufe des 20. Jahrhunderts hatte sich ein korporatistisches, konsensorientiertes politisches Ideal herausgebildet, das für militante und linksradikale Forderungen nur wenig Spielraum eröffnete. Hegemonial war die Sozialdemokratie, die nicht nur innerhalb des parteipolitischen Systems dominierte, sondern darüber hinaus einen erheblichen Einfluss auf gesellschaftliche Bewegungen, Initiativen und Organisationen besaß. Im Unterschied zu linksradikalen Szenen in Nordwesteuropa griffen anarchistische Gruppen in Schweden zudem weiterhin auf die Sprache und die Slogans leninistischer, maoistischer oder trotzkistischer Ansätze zurück, die jedoch im Gegensatz zu den Schriften der neuen Linken nur bedingt den Zeitgeist und die Lebensrealität europäischer Gesellschaften erfassen konnten.

Blieben linksradikale Gruppen in den 1980er-Jahren ein zwar sichtbares, aber dennoch randständiges Phänomen, so brachte die Anti-Atomkraft-Bewegung in Westeuropa und den USA zu Beginn des Jahrzehnts Tausende von Menschen für Friedensmärsche auf die Straße. In seinem Beitrag zur Ideengeschichte der Anti-Atomkraft-Bewegung zeigt Dario Fazzi, dass politische Ideen, Forderungen und Konzepte innerhalb der Bewegung keineswegs Resultate innereuropäischer Debatten waren. Vielmehr formierten sich die Inhalte der Anti-Atomkraft-Bewegung in einer bereits seit den späten 1970er-Jahren entstandenen transatlantischen Gegenkultur, die unter anderem den Naturschutzgedanken sowie ein geteiltes Misstrauen gegenüber technologischen Entwicklungen mit antimodernistischen Ansätzen bestimmter antikapitalistischer Gesellschaftsmodelle verband. Neben Parallelen in den sozio-ökonomischen Entwicklungen Westeuropas und der USA führten auch die im Zuge des Wettrüstens der Supermächte zu Tage getretenen Grenzen nationalstaatlichen Handelns zu einer verstärkten trans- und internationalen Ausrichtung der Anti-Atomkraft-Bewegung. Gerade die vor Ländergrenzen nicht haltmachende Gefahr atomarer Katastrophen, speziell die Angst vor einem „Euroshima“, trug zur Herausbildung eines europäischen Gemeinschaftsgefühls bei. Fazzi weist treffend darauf hin, dass die Interpretation von Jugendrevolten und sozialen Bewegungen in den 1980er-Jahren als europäisches Projekt Bezüge zu außereuropäischen Protesten nicht aus dem Blick verlieren darf. Neben den im Beitrag hervorgehobenen transatlantischen Gemeinsamkeiten und Vernetzungen der Anti-Atomkraft-Bewegung hätte ein Herausarbeiten von Differenzen zwischen den USA und (West-)Europa dazu beitragen können, noch stärker die Gemeinsamkeiten innerhalb Europas und das entstehende europäische Selbstverständnis aufzuzeigen.

In einem Artikel zum Jarocin Rock Festival in Polen beschreibt Grzegorz Piotrowski Protest und Widerstand vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen der 1970er-Jahre. Parallel zum Agieren oppositioneller Gruppen in Polen entstand eine sich rebellisch gebende Rockmusikszene, die jedoch in ihrer Außendarstellung aufgrund der zu erwartenden Repressionen weitestgehend unpolitisch blieb. Anders als in nordwesteuropäischen Ländern standen die 1970er-Jahre in Polen für eine Phase relativer wirtschaftlicher Stabilität. Damit kommt indirekt die Frage auf, ob der Ansatz des Sammelbandes, die Grenzen von Ost- und Westeuropa mithilfe der Untersuchung von Jugendrevolten und sozialen Bewegungen zu überwinden, angesichts stark voneinander abweichender Lebensverhältnisse sowie gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen in Ost und West wirklich tragfähig ist. In den 1970er-Jahren war das Jarocin Rock Festival von der Jugendsektion der Kommunistischen Partei Polens gegründet worden, wodurch sich die KP einen Zugriff auf die Rockszene des Landes versprach. Zwar waren staatliche Repressionsorgane auf dem Festival präsent, aber die Partei tolerierte die Rockszene und verhinderte nicht, dass sich ein Gemeinschaftsgefühl unter jungen Polen herausbildete. Verwoben mit dem Festival entstand in den 1980er-Jahren ein widerständiges Jugendumfeld, das dem „Do it Yourself“-Gedanken folgte und Publikationen im Print- und Musikbereich zirkulieren ließ. Interessant wäre es hier, die Entwicklung der Rockmusikszene und die Aneignung von Punk mit Alf Lüdtkes und Thomas Lindenbergers Konzept des „Eigensinns“ zu verbinden und auf das Alltagsleben in autoritären Gesellschaften zu beziehen. Piotrowski gelingt es, die vor allem von bekannten Gruppen wie Solidarność und Einzelpersonen dominierte Geschichte der Demokratiebewegung Polens in den 1980er-Jahren durch den polnischen Punk zu erweitern und dessen eigenständige Rolle in der polnischen Opposition zu beleuchten.

Gelungen zeigt der Sammelband anhand von Fallbeispielen, wie sich jugendkulturelle und soziale Bewegungen in verschiedenen Ländern Europas während der 1980er-Jahren parallel entwickelten, eingebunden in transnationale Netzwerke und Bezüge. Am Ende bleibt die Frage nach einer gesamteuropäischen Jugendrevolte zwar systematisch unbeantwortet. Die Einzelbeiträge weisen jedoch über eine Vorstellung von Europa als bloß geographischem Raum hinaus und zeigen, dass die Zeitgeschichte der Jugend für die Analyse der Herausbildung gesamteuropäischer Vorstellungswelten sowie deren Grenzen durchaus neue Perspektiven ermöglicht. Eine Fokussierung auf einen mit europäischen Jugendprotesten in den 1980er-Jahren verwobenen Themenkomplex wie den Kampf um die Stadt und eine damit verbundene stärkere Kontextualisierung geteilter Erfahrungs- und Vorstellungswelten hätte dazu beitragen können, in Tradition einer Alltagsgeschichte und einer „Geschichte von unten“ die Frage nach der transnationalen Herausbildung geteilter europäischer Ideen schärfer zu analysieren. Hierfür wäre schließlich die Herauslösung aus einem institutionalisierten Protest- und Politikbegriff bedeutsam, der das Politische nicht nur im Zuge einer politischen Selbstverortung von Szenen, Bewegungen und Protesten untersucht, sondern auch in der Herausbildung jugendlicher Alltagspraktiken sowie in der popkulturellen Verarbeitung sozialer, politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen in Europa.