E. Koch u.a. (Hrsg.): Orte der Imagination

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Titel
Orte der Imagination – Räume des Affekts. Die mediale Formierung des Sakralen


Herausgeber
Koch, Elke; Schlie, Heike
Erschienen
Paderborn 2016: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Louis van Tongeren, School of Humanities, Tilburg University

Diese Buch befasst sich mit Heiligkeit, genauer gesagt: mit Zuschreibungen von Heiligkeit in der christlichen Kultur des Mittelalters. Heilige, Reliquien und sakrale Stätten werden dabei als Medien aufgefasst. Sie sind Träger der "virtus" von heiligen Menschen; in der religiösen Praxis eignet ihnen deshalb etwas, das die Herausgeberinnen “reliquiäre Medialität” (S. 10 ) nennen. Mediale Formierungen des Sakralen in der christlichen Kultur beschränken sich nicht auf Objekte, sondern manifestieren sich auch in der Erfahrung und dem religiösen Handeln. Dies impliziert keine statische Auffassung von Sakralität, sondern eine dynamische oder relationale: Heiligkeit hat ihren Ursprung in der Verwendung.

Das gilt auch für den Raum, der vom Ort zu unterscheiden ist. Nach der Raumsoziologie von Martina Löw kann Raum als relationale Verknüpfung von Orten definiert werden. Räume werden konstituiert durch das Platzieren von Objekten und Menschen, das Orte markiert, sowie durch die Verknüpfung der platzierten Dinge und Menschen in der Wahrnehmung, Erinnerung und Vorstellung. 1 Sakrale Räume entstehen demnach durch Praktiken, mit denen jene Verknüpfungen aktualisiert werden, die die medialen Arrangements ermöglichen. Da Heiligkeit als virtus an Materialität gebunden ist, sind es zunächst Orte und nicht Räume, die eine reliquiäre Medialität annehmen. Ein Raum wiederum besitzt eine von Orten abgeleitete Materialität, die – und das ist gerade für sakrale Räume von besonderer Relevanz – nicht nur durch Architektur, sondern auch durch Licht und Musik konstituiert werden kann. Ein Ort muss im Sinne einer Authentizität Geltung erlangt haben, um für das rituelle oder soziale Handeln relevant zu sein. Ein Raum bleibt stets durch Praktiken veränderbar und neu definierbar.

Dieses Raumkonzept ermöglicht vielfältige Untersuchungen zur Gleichzeitigkeit, Überlagerung und Überblendung verschiedener Räume an einem Ort. Imagination spielt hierbei eine wichtige Rolle. So macht es zwar einen Unterschied, ob jemand sich im Inneren der Heiliggrabkirche in Jerusalem befindet oder andernorts in einer Heiliggrabkopie oder die räumliche Situation der Grablegung Christi anhand von Bildern oder Texten meditativ aktualisiert. In allen Fällen ist es jedoch eine Teilhabe, die nicht nur geistig vollziehen, sondern auch somatisch erlebt wird. Das skizzierte Themenfeld wird in 21 Beiträgen ausgearbeitet und konkretisiert, die sich in fünf thematische Abteilungen gliedern. Jeder Beitrag ist gut dokumentiert und enthält eine umfangreiche Bibliographie.

1) Pilgerschaft. Ute Verstegen zeigt, wie die sakrale Topographie Jerusalems mittels Architektur, Artefakten und Liturgie inszeniert wurde. Nicht nur das Vorhandensein der historischen Stätten begründete den paradigmatischen Status Jerusalems für sakralisierende Raumpraktiken, sondern vielmehr die Herrichtung der Orte für Liturgie und Pilgerschaft. Susanna Fischer untersucht zwei Pilgerberichte des Johannes von Würzburg und des Theodoricus aus dem 12. Jahrhundert. Beide Autoren betonten, dass ihr Text ein Leitfaden für eine spirituelle Pilgerreise sei. Der Vergleich offenbart die unterschiedlichen textuellen Strategien. Bei Johannes ermöglicht vor allem die liturgische Praxis im Nachvollzug das Heilserlebnis. Theodoricus fordert seine Leser explizit zum Mitleiden der Passion auf. Laura Gelfand stellt fest, dass die Nachbauten des Heiligen Grabes nicht vornehmlich in äußerlicher Hinsicht Kopien des Heiligen Grabes in Jerusalem sein wollten, sondern dass es vielmehr um ein Kopieren der Performanz, des somatischen Erlebens und des Affekts ging. Sie waren also sensorische Simulacra, die wesentliche Räume, Aktionen und Impulse von Jerusalem-Pilgern reproduzieren sollten. Anika Höppner analysiert den Visionsbericht des böhmischen Volksvisionärs Christoph Kotter (1585–1647). Die reformatorische Kritik verwarf die Pilgerschaft in der Praxis, als kulturelles Modell blieb sie trotzdem ein nützlicher Bezugspunkt.

2) Sakrale Räume. Die Beiträge in diesem Abschnitt zeigen, dass die Formierung des eigentlichen sakralen Raumes erst durch mediale Praktiken erfolgte. Barbara Schellewald konzentriert sich auf die Beziehung zwischen Ikone und Raum in Byzanz. Eine wichtige Rolle kam hier insbesondere den Mosaik-Lichten zu. Hartmut Bleumer untersucht Strategien der Raumerzeugung in der mittelalterlichen Kartographie anhand der Ebstorfer Weltkarte und wendet sich dabei dem Zusammenhang von Raum und Klang auf ästhetisch-theoretischer Ebene zu. Er stellt die These auf, dass mittelalterliche Kartographie den Raum als eine religiös semantisierte Sphäre entwirft. Das Licht ist wieder das Objekt in den nächsten zwei Beiträge. Nadine Mai analysiert die durch die Architektur umgesetzte Regie des natürlichen Lichts im sakralen Raum am Beispiel der Jerusalemkapelle in Brügge (15. Jahrhundert). Die Regie des Licht ist das Mittel, Jerusalem in Brügge ganz gezielt als Raumerlebnis erfahrbar zu machen. Linda Eggers thematisiert die rituelle Setzung des Kerzenlichts für die Formierung von sakraler Räumlichkeit. Sie konzentriert sich vor allem auf den Ort des Altars. Die am Verlauf des Kirchenjahrs orientierte Lichtinszenierung des Altars sei Ausdruck sowohl einer Hierarchisierung des Raumes wie auch einer Hierarchisierung der Zeit. Am Beispiel der Abtei St. Pierre in Moissac untersucht Eric Hold die Wechselwirkung des materialen Raums und der Raumproduktion durch die Handlung des Akteurs.

3) Seelenumgebungen. Der dritte Abschnitt befasst sich mit der Innerlichkeit, mit Räumen, die Umgebungen für die Arbeit der Seele bilden. Cornelia Logemann beschreibt, wie im Spätmittelalter illuminierte Handschriften nach den Bauplänen der Andacht konzipiert wurden. Die gemalten oder beschriebenen Räume der Meditationsliteratur korrelierten mit einem angenommenen ‘Seelengebäude’ des meditierenden Lesers oder Betrachters. Anhand von spätmittelalterlichen Andachtsbüchern und dem Weltgerichtsretabel von Hans Memling, in denen der vor den Bildern Betende selbst dargestellt wird, argumentiert Johanna Scheel, dass sich in dieser Spiegelsituation zwei Affekträume überlagerten: einerseits der Resonanzraum des laut gesprochenen Gebetes und andererseits der Raum, in dem der Beter seine äußerliche Gestalt im Bild und seine Nähe zum Heiligen betrachtete. Gegenstand der Untersuchung für Michaela Bill-Mrziglio ist die Formierung des Gartens als bevorzugtem Ort der Meditation. Die Tradition der Hohelied-Exegese wurde seit dem Spätmittelalter verstärkt als Tugendallegorie gedeutet und dadurch als Ort der Innerlichkeit disponiert. Martin Kirves beschäftigt sich mit Wüste, Wald und Höhle am Beispiel von Eremiten-Darstellungen durch Johan und Raphael Sadeler. Diese Orte konnten sich als materielle, visuell erfahrbare Bilder zu Erfahrungsräumen einer eigenen, imaginären Einsiedelei des Betrachters transformieren.

4) Urbane und lokale Sakralisierung. Die Stadt als Sakralraum am Beispiel des Heiligenkults des San Gennaro in Neapel, ist das Thema des Beitrags von Brice Gruet. Die Blutreliquien des Märtyrers Gennaro (Januarius) standen im Zentrum eines Geflechts aus metaphorischen und metonymischen Bezügen zwischen dem Vulkan Vesuvius, dem Heiligen, dem städtischen Territorium und seiner Bevölkerung. Francesco Zimei zeigt auf der Basis von zwei Manuskripten die Existenz von rudimentären Verbindungen zwischen Musik, Ritual und Stadtraum. Am Beispiel des abruzzischen Ortes L’Aquila zeichnet er nach, dass Prozessionen zu Fronleichnam im 14. Jahrhundert das kulturelle Gedächtnis älterer sakraler Topographien der Stadt aufrechterhielten und dabei Spuren antiker Reinigungsriten aufwiesen. Maximilian Benz untersucht am Beispiel des Purgatoriums des Heiligen Patrick, wie heilige Orte entstehen. Die Verfasser der Patrickviten schufen narrative Topographien, die die Taten des Heiligen nach dem Vorbild Christi modellieren. Der Heilige, der in der Welt wirkt, aber alle Immanenz transzendiert, wird durch ein heiliger Ort ersetzt, der eine Transzendierung der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits ermöglicht. Der heiligen Ort erweise sich somit als “Raumreliquie” (S. 391–401 ). Erik Wegerhoff beschreibt, wie das Kolosseum in Rom zur Zeit der Gegenreformation als eine Stätte der frühchristlichen Martyrien konstruiert wurde. Die Techniken dieser Konstruktion waren vielschichtig: historiographische Inventionen bezüglich der Martyrien, die Abhaltung von Passionsspielen, bauliche Eingriffe und das Anbringen von Inschriften und Bildern, bis zur der Planung des Baus einer Kirche.

5) Transformationen symbolischer Raumordnungen. Das Phänomen der geistlichen Spiele macht deutlich, wie durch mediale Praktiken symbolische Ordnungen von Räumen bearbeitet und transformiert werden können. Denn der Raum ist für die Medialität der Aufführung konstitutiv. Ulrich Barton unterscheidet drei Raumordnungen der Passionsspiele: den Aufführungsort (die Kirche oder die Stadt), den Bühnenraum (mit der Aufteilung in Himmel, Erde und Hölle) und den performativen Raum (bestimmt durch die Trennung von den Schauspielern und dem Publikum). Die Raumordnungen werden aber transzendiert, wodurch die im Spiel symbolisch abgebildete Weltordnung für das Publikum real erfahrbar wurde. Die Entgrenzung des performativen Raumes untersucht Jutta Eming anhand der Theatralisierung typologischer Verweise. Sie vergleicht die typologisch verstandenen alttestamentlichen Szenen des Oberammergauer Passionsspiels mit den alt- und neutestamentlichen Szenen des Heidelberger Passionsspiels. In dem Beitrag von Carla Dauven-van Knippenberg stehen nicht, wie bei der Aufführung, Imagination und Affekt in Beziehung zum umgebenden Raum, sondern zu einem textuellen Verfahren mit räumlichen Dimensionen. Sie untersucht die Transformation eines Spieltextes mit katholischen Elementen in einem Lesetext, der reformatorische Ideen verbreitet. Das Ziel dieser medialen Transformation sei die Konstruktion eines polemischen affektiven Raums. Abschließend entfaltet Hans Jürgen Scheuer die These, dass – wie bei Pietro Lorenzettis in einem Nebenraum der Küche platzierten Abendmahlsfresko – die Schwankerzählungen des Mittelalters das Heilige an Schauplätzen betont profanen Charakters aufscheinen lassen sollten.

1 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt am Main 2001.

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