I. Galster: Simone de Beauvoir und der Feminismus

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Titel
Simone de Beauvoir und der Feminismus. Ausgewählte Aufsätze


Autor(en)
Galster, Ingrid
Erschienen
Berlin 2015: Argument-Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 18,00
Rezensiert für Soziopolis und H-Soz-Kult von:
Imke Schmincke, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“1 Mit diesem Satz hat Simone de Beauvoir das Grundproblem des Feminismus auf eine zentrale Formel gebracht – kein anderer Satz wurde in der (deutschsprachigen) Geschlechterforschung häufiger zitiert. Obschon sie Zeit ihres Lebens vor allem als Schriftstellerin, als Philosophin, als engagierte Intellektuelle und nicht zuletzt als Partnerin Jean-Paul Sartres wahrgenommen wurde, ist es doch vor allem dem Buch Das andere Geschlecht (1949) zu verdanken, dass ihr Einfluss noch weit über ihre Lebenszeit hinausreicht. Die vorliegende Aufsatzsammlung von Ingrid Galster nimmt genau hier ihren Ausgang, indem sie die Beziehung Simone de Beauvoirs zum Feminismus ins Zentrum stellt.

Allerdings diskutiert die emeritierte Professorin für Romanische Literaturwissenschaften ihren Gegenstand nicht systematisch; vielmehr handelt es sich bei dem Band Simone de Beauvoir und der Feminismus um eine Sammlung, deren Beiträge sich mit verschiedensten Aspekten befassen. Es geht etwa um den posthum erschienenen Briefwechsel Beauvoirs, die Bedeutung von Werk (Das andere Geschlecht) und Person Beauvoirs für den Feminismus in Frankreich, Kritiken und Interventionen in aktuelle feministische Debatten sowie eine Analyse der unterschiedlichen wissenschaftlichen Karriereverläufe in Deutschland und Frankreich. Die bereits an anderen Orten, etwa in deutsch- und französischsprachigen Zeitschriften, Zeitungen und Fachorganen erschienenen Vorträge, Rezensionen, Interviews und Artikel bilden nach Aussage der Autorin „eine Art Lesebuch“ (S. 7).

Der älteste Text der Sammlung beschäftigt sich mit den Nachrufen auf den Tod Simone de Beauvoirs im April 1986. Galster stellt vier verschiedene Rollen heraus, die Beauvoir von linksliberaler wie konservativer Seite zugeschrieben werden: Vorkämpferin des Feminismus, Partnerin Sartres, Linksintellektuelle und Romanautorin. Dass Simone de Beauvoirs Leben und Werk einen großen Einfluss nicht nur innerhalb der französischen Öffentlichkeit hatte, darüber besteht Einigkeit. Uneins sind sich die Nachrufautor_innen hinsichtlich der Nachhaltigkeit ihrer Relevanz. Galster resümiert, in den divergierenden Deutungen hätten sich primär die verschiedenen Ideologien kristallisiert, die sich Mitte der 1980er-Jahre in Frankreich gegenüberstanden: „Jede Gruppe hat ihr eigenes Bild von Simone de Beauvoir und benutzt es, um ihre Position zu stützen. Für eine noch lebendige Linke garantiert sie, dass der Fortschritt weitergeht; für eine reuige Ex-Linke verkörpert sie die Irrtümer, die man begangen zu haben glaubt; für die Rechte, zu der sich inzwischen auch viele Intellektuelle zählen, markiert ihr Tod das Ende einer Ideologie, die nur zum Gulag führen konnte.“ (S. 149) Die Geschichte, so Galster, soll zeigen, auf welchem Gebiet der Einfluss Beauvoirs am nachhaltigsten gewesen sein wird.

Die Autorin nimmt diese Typologie in einem Text aus dem Jahre 2008 zum 100. Geburtstag von Beauvoir selbst wieder auf, um deren Relevanz vor allem als Vorkämpferin des Feminismus zu betonen, obwohl sie die anderen Positionen nach wie vor für bedeutsam hält. Zu einer Vorkämpferin des Feminismus sei Beauvoir, die erst in den 1970er-Jahren begonnen habe, sich in der Frauenbewegung zu engagieren, durch ihr monumentales Buch Das andere Geschlecht geworden, mit dem sie ein Fundament des egalitären Feminismus gelegt habe. In ihren Memoiren bekennt Beauvoir, sie sei eher zufällig auf das Thema gestoßen. Nach der Vollendung ihres ersten, 1943 erschienenen Romans Sie kam und blieb habe sie etwas Autobiografisches schreiben wollen. Daher habe sie sich als Philosophin auch mit der Tatsache beschäftigt, dass sie eine Frau sei, die für sie zunächst keine besondere Bedeutung gehabt habe – erst durch die Gespräche mit Sartre sei ihr dieser Umstand als reflexionswürdig erschien.

Sie begann daraufhin, sich systematisch dem Thema Weiblichkeit zu widmen und „entdeckte“, wie Galster schreibt, dass die Welt von Mythen geprägt sei, auf die der fundamentale Unterschied der Geschlechter zurückgeführt werden könne. Dieser Unterschied bestehe darin, dass die Frau „mit Bezug auf den Mann determiniert und differenziert [wird], er aber nicht mit Bezug auf sie. Sie ist das Unwesentliche gegenüber dem Wesentlichen. Er ist das Subjekt, er ist das Absolute, sie ist das Andere.“2 Die grundlegende Erkenntnisprämisse für Beauvoirs Rekonstruktion der Geschlechterdifferenz in Geschichte und Gegenwart ist eine „existenzialistische Ethik“ (S. 28), der zufolge der Mensch erst durch das Transzendieren seiner Situation Freiheit realisieren kann, weshalb sein Ziel die permanente Selbstüberschreitung, das Handeln zur Freiheit ist. Die Frau jedoch sei aufgrund ihrer gesellschaftlichen Bestimmung für die Reproduktion zur Immanenz gezwungen.

Beauvoirs Buch besteht aus zwei Teilen, in denen sie der Frage nachgeht, wie und warum der Mann zum Subjekt und die Frau zum Objekt wurden. Während sie im ersten die „Fakten und Mythen“ rekonstruiert, die die Ungleichheit der Geschlechter bewirkt und verfestigt hätten, geht es im zweiten Teil um die „Gelebte Erfahrung“, um die Situationen und Lebensweisen heutiger Frauen. Insbesondere die darin enthaltene schonungslose Beschreibung der weiblichen Sexualität löste beim Erscheinen des Buches bzw. bereits nach dem Vorabdruck des betreffenden Kapitels einen Skandal aus. Galster zeichnet nach, wie stark Beauvoir insbesondere von konservativ-katholischer Seite dafür angefeindet wurde. Zu wenig werde das Werk bisher in seinem zeitgeschichtlichen Kontext verortet, der von den Nachwirkungen des Vichy-Regimes und der Hegemonie reaktionärer Vorstellungen von Nation und Familie geprägt gewesen sei. Beauvoir habe mutig gegen diese Tendenzen angeschrieben, was auch ihre mitunter extreme Kritik an Mutterschaft und Ehe verständlicher mache. Galster mutmaßt, die Entlassung Beauvoirs aus dem Schuldienst 1943, da ihr Lebenswandel mit dem damaligen Familien- und Mutterkult nicht vereinbar gewesen sei, könnte ebenfalls Anlass zur Beschäftigung mit dem Thema Geschlecht gegeben haben.

Zwar erregte das Buch bei seinem Erscheinen großes Aufsehen, doch wurde es in den nachfolgenden Jahren kaum rezipiert. Erst nachdem die US-amerikanische Frauenbewegung Das andere Geschlecht für sich entdeckt hatte, erlangte es in den 1970er-Jahren auch in der französischen Frauenbewegung Bekanntheit. Galster bietet erhellende Einblicke in den transatlantischen Theorietransfer und dessen Bedeutung für die unterschiedlichen feministischen Bewegungen in den USA und Frankreich. Während de Beauvoir beim Schreiben des Buches auch von ihren längeren Aufenthalten in den USA inspiriert worden sei, wurde Das andere Geschlecht ab den 1960er-Jahren, anders als in Frankreich, von Wegbereiterinnen der US-amerikanischen Frauenbewegung begeistert aufgenommen. Die Bewegung dort hatte wiederum entscheidenden Einfluss auf das Entstehen der neuen Frauenbewegung in Frankreich, die sich schließlich in zwei Lager spaltete. Dem an de Beauvoir angelehnten und insgesamt stärker verbreiteten Egalitätsfeminismus, den unter anderem die Historikerin Michelle Perrot und Geneviève Fraisse vertraten, standen verschiedene Spielarten des Differenzfeminismus gegenüber.3 Dazu gehörte zum einen ein biologischer Essenzialismus, zum anderen der mit den Namen Hélène Cixous, Luce Irigaray und Julia Kristeva verbundene poststrukturalistische Differenzfeminismus, den Galster wiederum selbst für ein Produkt US-amerikanischer feministischer Theoriedebatten hält, einen „‘french feminism‘ made in the U.S.A.“ (S. 180) Gleichwohl habe er im französischen Feminismus selbst eine viel geringere Rolle gespielt, als das seine Präsenz in akademischen Debatten amerikanischer Provenienz vermuten ließ.

Judith Butler schließlich, die sich in den 1980er- und 1990er-Jahren selbst sowohl mit Beauvoir als auch mit den poststrukturalistischen Differenzfeministinnen auseinandergesetzt hat und die bekannteste Lesart poststrukturalistischer feministischer Theorie geprägt hat, wurde sehr spät in Frankreich zur Kenntnis genommen. Erst 2005 wurde ihr Buch Gender Trouble (1990) ins Französische übersetzt. Mittlerweile erscheinen Galster die Fronten allerdings weniger verhärtet; in den 1990er-Jahren habe der Schwerpunkt der Debatten eher auf politisch-pragmatischen Themen als auf der Theorie gelegen.

Galster beleuchtet an anderer Stelle auch die Wirkung des Feminismus bezogen auf dessen Institutionalisierung, indem sie die Situation in Frankreich mit der Deutschlands vergleicht. Insgesamt sei die Geschlechterforschung in Frankreich zwar sehr viel weniger institutionalisiert als in Deutschland, aber das an republikanische Traditionen angelehnte Rekrutierungssystem mit anonymen nationalen Wettbewerben habe dazu geführt, dass Frauen in Frankreich generell, bessere Karrierechancen hätten und ihr Anteil auf höheren Positionen in Universitäten und Forschungsinstituten ungleich größer als in Deutschland sei.

Galsters informativer Überblick über verschiedene feministische Positionen und Traditionen in Frankreich ist neben den Ausführungen zur Entstehung und Rezeption des Anderen Geschlechts und der Einschätzung seiner Bedeutung für den Feminismus als große Stärke des Buches hervorzuheben. Auch in den Ausführungen zu neuen biografischen Details, die in posthum erschienenen Schriften und vor allem Briefwechseln zu Tage gefördert wurden, erweist sich die Autorin als gründliche und erfahrene Forscherin, deren Arbeiten nicht nur zu Werk und Leben Beauvoirs, sondern auch zu Sartre und der französischen Gesellschaft überzeugen.

Nicht alle Texte bieten jedoch einen ähnlich hohen Erkenntnisgewinn. Die Zusammenstellung unterschiedlicher Textsorten hat einige Redundanzen produziert; auch haben manche Texte, allen voran die Rezensionen verschiedener Bücher von Elisabeth Badinter bis Katharina Rutschky und die journalistischeren Beiträge, einen starken Zeitbezug, weshalb sie nur bedingt über ihren Entstehungskontext hinaus von Interesse sind. Vor allem in diesen häufig sehr polemisch formulierten Texten zeigt sich die Autorin als streitbare Wissenschaftlerin und Feministin mit einem recht eigenwilligen Standpunkt. Da sich aber ihre Bewertungen ganz offenbar ihrer langjährigen Erfahrung mit dem Sujet verdanken, kann man ihr die teilweise skeptische bis ablehnende Haltung hinsichtlich neuerer Entwicklungen feministischer Theorie nachsehen bzw. diese wiederum als Resultat zeithistorischer Gegebenheiten lesen. Vielleicht hat Galster die Gewichtung der beschriebenen Stärken und Schwächen der Textsammlung aber auch genauso intendiert. Wie sie selbst in ihrer Einleitung erklärt, bringe die Hybridität der versammelten, mal akademischen, mal journalistischen Arbeiten gerade die zwei Seiten der von ihr behandelten Autorin zum Ausdruck: „die Doppelfunktion der Wissenschaftlerin und der kritischen Intellektuellen“ (S. 7).

Im Sommer vergangenen Jahres hatte ich Ingrid Galster für einen Beitrag zum 30. Todestag von Simone de Beauvoir angefragt. Sie antwortete freundlich, sie könne dieser Bitte leider nicht nachkommen. Sie sei schwer erkrankt und müsse die ihr verbleibende Zeit für das Beenden eines Buchprojekts nutzen. Am 27. September 2015 ist Ingrid Galster im Alter von 71 Jahren verstorben.

Dieser Beitrag ist Teil eines Soziopolis-Schwerpunkts zum 30. Todestag von Simone de Beauvoir (1908–1986). Weitere Texte finden Sie hier.http://www.soziopolis.de/erinnern/jubilaeen/artikel/zur-aktualitaet-simone-de-beauvoirs-in-der-geschlechterforschung/

Anmerkungen:
1 Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, neu übers. von Uli Aumüller und Grete Osterwald, Reinbek 1992, S. 334.
2 Beauvoir, Das andere Geschlecht, S. 12.
3 Während der Egalitätsfeminismus, grob skizziert, dafür plädiert, die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern als unerheblich zu erachten und sich für eine Gleichstellung von Frauen und Männern in jeglicher Hinsicht einsetzt, ist dem Differenzfeminismus daran gelegen, der Weiblichkeit auf der Grundlage ihrer Abweichung vom Männlichen mehr gesellschaftliche Rechte und Wertschätzung zu erkämpfen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit Soziopolis. http://www.soziopolis.de
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