V. Pawlowsky u.a.: Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938

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Titel
Die Wunden des Staates. Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938


Autor(en)
Pawlowsky, Verena; Wendelin, Harald
Erschienen
Anzahl Seiten
584 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nils Löffelbein, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Seit nunmehr zwei Jahrzehnten hat sich die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg immer stärker den Kriegsfolgen und der Frage nach den politischen und sozialen Transformationen der europäischen Gesellschaften nach 1918 zugewandt. Insbesondere die Frage nach den Auswirkungen des massiven Einbruchs der Kriegsgewalt in den Alltag der Menschen und dem gesellschaftlichen Umgang mit den ungeheuren Opferzahlen bildet mittlerweile ein wichtiges Arbeitsfeld der Weltkriegsforschung. Eine der bittersten Langzeitfolgen der „industrialisierten“ Kriegsführung im Ersten Weltkrieg stellten die Millionen von Kriegsinvaliden und -hinterbliebenen dar, deren soziale Versorgung und gesellschaftliche Wiedereingliederung für alle kriegsführenden Staaten eine gewaltige Herausforderung bedeutete. Wenngleich dieses von der Geschichtswissenschaft bis weit in die 1990er-Jahre chronisch unterbelichtete Thema seit einigen Jahren nun von allen historischen Teildisziplinen intensiv untersucht wird, zeigt die Vielzahl aktueller Arbeiten zur Kriegsopferproblematik des Ersten Weltkriegs dennoch deutlich, wie groß die Forschungslücken in diesem Bereich nach wie vor sind.1

Verena Pawlowsky und Harald Wendelin sehen ihre Studie über den Umgang Österreichs mit seinen Kriegsopfern in der Kriegs- und Zwischenkriegszeit daher erklärtermaßen als „Grundlagenforschung“ (S. 26), da das Schicksal der österreichischen Kriegsbeschädigten und Hinterbliebenen, wie die Autoren zurecht betonen, erstaunlicherweise bis heute fast ein vollständiges Desiderat der Forschung geblieben ist. Diesem Anspruch geschuldet ist auch die dezidiert sozial- und organisationsgeschichtliche Herangehensweise der Untersuchung. In zwei chronologisch angelegten Teilen wird die Entstehung und Entwicklung des Versorgungssystems für Kriegsbeschädigte, Witwen und Waisen, die gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie Aufstieg und Niedergang der österreichischen Kriegsopferorganisationen während des Ersten Weltkriegs und in der Ersten Republik detailliert rekonstruiert. Die der Arbeit zugrundeliegende These, dass die Etablierung des Versorgungsystems für Kriegsopfer einen entscheidenden Schritt auf dem Weg zum modernen Sozialstaat markiert, ist zwar sicherlich nicht neu und findet sich in dieser Zuspitzung bereits im wegweisenden Aufsatz von Michael Geyer von 1983 über die Kriegsopferversorgung in Deutschland, Frankreich und Großbritannien.2 Ein Verdienst der Arbeit besteht jedoch darin, dass sie erstmals systematisch den sozialen und politischen Aushandlungsprozess zwischen staatlichen Institutionen und Bürgern und die daraus resultierende Frage nach den sich wandelnden Rechten und Verpflichtungen der Kriegsopfer gegenüber dem Staat verfolgt, die der Krieg mit der Einführung moderner Wehrpflichtarmeen erstmals aufgeworfen hatte. Die Studie kann sich hierbei auf ein breites Quellenspektrum stützen, das von den einschlägigen Akten des Sozialministeriums, über Gesetzessammlungen, Pamphlete und Vorträge, bis zur umfangreich überlieferten Zeitschriftenliteratur der Kriegsopferverbände reicht.

Im ersten Teil der Arbeit analysieren die Autoren zunächst die Entwicklung der Kriegsbeschädigtenversorgung während des Ersten Weltkriegs. Wie auch in anderen europäischen Ländern zeigten sich die staatlichen Stellen bei der Versorgung hunderttausender Kriegsopfer strukturell schnell überfordert, auch wenn der rechtliche Anspruch der Kriegsbeschädigten auf Schadenersatzleistungen durch den Staat während des Weltkrieges grundsätzlich durchaus bereits anerkannt wurde. Das Versorgungssystem blieb während des Krieges jedoch „Stückwerk“ und die staatlichen Leistungen sowohl für die Kriegsbeschädigten wie auch für die Hinterbliebenen standen weit hinter den Erfordernissen zurück, wobei die österreichisch-ungarische Reichsteilung die Ineffizienz der Kriegsopferversorgung noch zusätzlich steigerte. Umso stärker konzentrierten sich die Reintegrationsbemühungen während des Krieges darauf, die Invaliden mittels zahlreicher Beschäftigungsprogramme wieder in das Erwerbsleben zu integrieren, was sich trotz militärischem Drill und sozialer Disziplinierungsversuche durch die offiziellen Stellen letztlich aber als wenig erfolgreich erwies.

Im zweiten Großkapitel, welches sich der Entwicklung der Kriegsopferpolitik nach 1918 widmet, wird zunächst gezeigt, dass es erst nach Kriegsende und der Gründung der Ersten Republik gelang, die Versorgungsgesetzgebung umfassend zu reformieren. Das im April 1919 verabschiedete Invalidenentschädigungsgesetz (IEG) nahm den Autoren zufolge im internationalen Vergleich hierbei eine „Vorreiterrolle“ (S. 252) ein und diente vielen Versorgungsreglungen im Ausland als Vorbild. Innovativ war die neue Gesetzgebung vor allem deshalb, da anders als in der Vorkriegszeit nicht mehr die soldatische Leistung finanziell abgegolten wurde, sondern nunmehr die geminderte Erwerbsfähigkeit des durch den Krieg geschädigten Bürgers zum gesetzlichen Bewertungsmaßstab über die Höhe staatlicher „Entschädigung“ erhoben wurde. Damit spiegelte das österreichische Invalidengesetz erstmals einen grundlegenden Aspekt moderner Sozialpolitik wider. Angesichts der wirtschaftlichen Krisenhaftigkeit der frühen 1920er-Jahre erfuhr die Versorgungsgesetzgebung jedoch bereits 1922 eine tiefgreifende Novellierung, als Folge derer das IEG seine anfängliche Fortschrittlichkeit einbüßte und es zu einer massiven Beschränkung des Empfängerkreises kam, die die Autoren jedoch als eine folgerichtige Konsequenz der innenpolitischen Konsolidierung der Republik bewerten.

Mit dem Kriegsende begann auch der Aufstieg einer machtvollen Invalidenbewegung, die – anders als etwa in der Weimarer Republik mit ihrer zersplitterten Verbandslandschaft – vor allem von einer Großorganisation dominiert wurde: dem der Sozialdemokratie nahestehenden Zentralverband, in dem nahezu 90 Prozent der Kriegsopfer organisiert waren. Dieser entwickelte sich in den ersten Nachkriegsjahren zum alleinigen Sprachrohr der Kriegsopfer im Kampf um eine Verbesserung ihrer Lebensumstände und um mehr Mitsprache bei Fragen der Versorgungsgesetzgebung. Trotz beachtlicher Erfolge der Verbandsarbeit kam es im Laufe der Zeit zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Verbandsspitze und Mitgliedschaft, deren weitreichende sozialpolitische Forderungen sich als zunehmend unerfüllbar erwiesen. Mit der Errichtung des autoritären „Ständestaates“ im Jahr 1934 büßte der Zentralverband schließlich seine Autonomie ein, als das neue Regime alle bestehenden Vereinigungen − ähnlich wie in NS-Deutschland − zwangsweise in einem Kriegsopfereinheitsverband gleichschaltete.

Insgesamt gelingt es der Studie, alle wesentlichen Aspekte der Versorgungspolitik und ihrer Akteure zu behandeln, wenngleich eine inhaltliche Straffung einigen Kapiteln sicherlich gutgetan hätte, wie zum Beispiel der redundant wirkende Abschnitt über die Geschäftsräume des Zentralverbands. Unverständlich bleibt auch, warum die Autoren bei ihrem voluminösen Werk von 519 Textseiten am Ende auf ein Gesamtfazit verzichten. Abseits dieser Kritikpunkte lässt sich jedoch festhalten, dass die Autoren mit ihrer kenntnisreichen, quellengesättigten und akribisch recherchierten Studie ein Standardwerk zur österreichischen Kriegsopferversorgung vorgelegt haben, das auf Jahre eine wichtige Ergänzung zur einschlägigen Forschung darstellen wird.

Anmerkungen:
1 Sabine Kienitz, Beschädigte Helden: Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914–1923, Paderborn 2008; Nils Löffelbein, Ehrenbürger der Nation. Die Kriegsbeschädigten des Ersten Weltkriegs in Politik und Propaganda des Nationalsozialismus, Essen 2013; Pierluigi Pironti, Kriegsopfer und Staat. Sozialpolitik für Invaliden, Witwen und Waisen des Ersten Weltkrieges in Deutschland und Italien (1914–1924), Köln 2015.
2 Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates: die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), H. 2, S. 230–277.