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Titel
Stammheim. Eine moderne Haftanstalt als Ort der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF


Autor(en)
Bergstermann, Sabine
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 112
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 338 S.
Preis
€ 44,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gisela Diewald-Kerkmann, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Liest oder hört man den Begriff „Stammheim“, fragt man sich, ob – gerade angesichts der kaum noch zu überschauenden Literatur zur Roten Armee Fraktion (RAF) – wirklich neue Erkenntnisse zutage gebracht werden können. Der Hochsicherheitstrakt Stammheim ist zu einem feststehenden Terminus in der Rechtsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland geworden, sodass die in den Medien formulierten Fragen berechtigt erscheinen: „Ist also die eigens konstruierte Trutzburg auf dem ehemaligen schwäbischen Rübenacker nur mehr Reflex auf ein außerordentliches Sicherheitsrisiko – oder nicht schon Beton gewordenes Vorurteil?“, hieß es bereits 1975 im „Spiegel“.1 Und im Rückblick fragte etwa die „Süddeutsche Zeitung“ 2012, ob Stammheim ein „tödlicher Ort“ gewesen sei.2 Obwohl sich in diesem Gefängnis von 1972 bis 1977 nur einzelne RAF-Mitglieder befanden – vor allem die Führungsriege Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe –, hat keine andere Justizvollzugsanstalt in der bundesdeutschen Gesellschaft eine ähnliche Symbolwirkung erzielt. Sabine Bergstermann bietet hierfür in der leicht überarbeiteten Fassung ihrer Münchner Dissertation mehrere Erklärungen an: erstens die Prominenz der Mitglieder, zweitens die Doppelfunktion Stammheims als Justizvollzugsanstalt und Gerichtsort, drittens der parallele Zeitpunkt der Verlegung Baaders und Raspes nach Stammheim, der Tod des RAF-Mitglieds Holger Meins im November 1974 sowie die Verschärfung der Strafprozessordnung, viertens die Einbindung bekannter Persönlichkeiten als Fürsprecher der Terroristen. Zu nennen ist dabei nicht zuletzt Jean-Paul Sartre, der 1974 Baader in Stammheim besuchte (S. 255).

Vor diesem Hintergrund geht es in der Studie unter anderem um folgende „Leitfragen“: „Welche gesellschaftspolitischen Entwicklungen waren kennzeichnend für die 1960er und 1970er Jahre? Welche Diskurse über die zentralen Aufgaben der Staatlichkeit waren dominant und wie veränderten sich diese? Wie gelang es den in Stammheim untergebrachten RAF-Mitgliedern, trotz Inhaftierung ihren Führungsanspruch auch gegenüber der ‚zweiten Generation‘ aufrechtzuerhalten […]? Wie reagierten Gesetzgeber und Behörden in den 1970er Jahren auf das bis dato unbekannte Phänomen ‚Terrorismus‘? […] Wie verhandelten radikale Linke und Konservative den Ort Stammheim diskursiv?“ (S. 7f.) Es soll nachvollzogen werden, wie sich Stammheim von einem „Reformgefängnis“ zur „Hauptstadt der RAF“ entwickeln konnte. Zugleich sollen die gesellschaftlichen und politisch-historischen Rahmenbedingungen verdeutlicht werden. In Anlehnung an das ursprünglich in der Humangeographie und in der raumbezogenen Soziologie entwickelte „Place-Konzept“ werden Räume nicht nur als bloße „Container“ für die Anordnung von Gegenständen und menschlichem Verhalten verstanden, sondern als „Ursache und Produkte von Handlungen, von Diskursen, von Institutionen“ (S. 10). Somit ist für die Verfasserin „Raum in einer historischen Analyse“ mehr und auch etwas anderes als allein eine physische Ausdehnung (was im weiteren Verlauf der Argumentation allerdings kaum wieder aufgegriffen wird). Darüber hinaus ist die breite Quellenbasis der Arbeit erwähnenswert: Zahlreiche Archivbestände der Generalbundesanwaltschaft beim Bundesgerichtshof, des Justiz- und des Innenministeriums Baden-Württemberg, Privatsammlungen und Druckschriften wurden ausgewertet.

Die Studie ist in neun Kapitel gegliedert. Während im ersten Teil Fragestellung, Forschungsinteresse, methodische Aspekte, Quellen, Literatur und Struktur der Arbeit differenziert erläutert werden, geht es im zweiten Kapitel um die Konstituierung der RAF, die Strafrechtsreform als Gesellschaftsreform sowie um die „innere Sicherheit“ als neuer Diskurs. Die umstrittene Organisation des Haftvollzugs, überhaupt das Gefängniswesen in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er- und 1960er-Jahren, die Gefängnisskandale wie auch die Kritik an der Zielsetzung des Strafvollzugs während dieser Zeit stehen im Zentrum des dritten Kapitels. Dabei weist die Verfasserin auf die überfüllten Gefängnisse, schlechten Haftbedingungen und die Lage der Inhaftierten hin, aber auch auf die wiederholten Übergriffe auf Gefangene. Betrachtet man die zahlreichen gesellschaftlichen Zuschreibungen Stammheims in den 1970er-Jahren, wirkt es schon fast irritierend, dass gerade diese Justizvollzugsanstalt in den 1960er-Jahren als Inbegriff einer „modernen Haftanstalt“ verstanden wurde. „Der Modernitätsanspruch bezog sich sowohl auf die neuartigen Sicherheitstechnologien und -maßnahmen, die dort zum Einsatz kamen, als auch auf die Unterbringung der Gefangenen, die human und menschenwürdig sein sollte.“ (S. 73)

Gerade im vierten Kapitel („Vor Stammheim: Haftbedingungen und Strategien der RAF“) und im fünften („In Stammheim: Privilegien der RAF“) kristallisieren sich die Stärken der Arbeit heraus. Bergstermann stellt fest, dass kaum eine andere Frage im Kontext des linksextremistischen Terrorismus so umstritten gewesen sei wie diejenige nach den Haftbedingungen der sogenannten ersten RAF-Generation. Treffend schreibt die Autorin, dass die Entwicklung, die schließlich zu einer Privilegierung der Gefangenen in Stammheim führte, nur vor dem Hintergrund der Haftbedingungen zu erklären sei, denen Meinhof, Ensslin, Baader und Raspe zuvor in den Jahren 1972 bis 1974 ausgesetzt gewesen seien (S. 87). Diese Tatsache ist von zentraler Bedeutung, da sie relativ häufig ausgeklammert bleibt und folglich Stammheim isoliert respektive losgelöst vom zeithistorischen Kontext betrachtet wird. Die Richter am Bundesgerichtshof ordneten bereits 1972 – unmittelbar nach der Festnahme von Baader, Meinhof, Ensslin, Raspe und Meins – eine „strenge Einzelhaft“ an, wobei nach heutigem Forschungsstand die Haftbedingungen Meinhofs (aber auch Astrid Prolls) sich erheblich härter gestalteten als diejenigen der anderen RAF-Mitglieder. Exemplarisch für den Zeitraum von 1971 bis 1974 können die Haftbedingungen von Proll, Meinhof und Ensslin herangezogen werden, die ihre Untersuchungshaft teilweise im „Toten Trakt“ des Gefängnisses Köln-Ossendorf verbüßten. Bei diesem Trakt handelte es sich um einen abgetrennten Teil des Gefängnisses, in dem die benachbarten Zellen des ganzen Flügels von Häftlingen geräumt worden waren. Proll war das erste RAF-Mitglied, das längere Zeit hier isoliert einsaß, was schließlich im Laufe des Prozesses im Jahre 1974 ihre Verhandlungsunfähigkeit zur Folge hatte. Meinhof verbrachte neun Monate in Köln-Ossendorf, und auf Antrag des Generalbundesanwalts wurde auch Ensslin am 5. Februar 1974 von der JVA Essen in den „Toten Trakt“ nach Köln verlegt. Ensslin und Meinhof kamen erst im April 1974 nach Stammheim, Baader und Raspe folgten im November 1974.

Hierauf aufbauend geht es im sechsten Kapitel nicht nur um die Strafrechtsverschärfung und die staatlichen Reaktionen, sondern auch um die Strategie der Verteidiger und die gesamte Prozessführung. Tatsächlich muss als Novum in der deutschen Rechtsgeschichte berücksichtigt werden, dass im Zusammenhang mit dem Stammheim-Verfahren gegen RAF-Mitglieder – wie der Jurist Uwe Wesel festgestellt hat – „innerhalb von nur vier Jahren sechs Gesetze mit insgesamt 27 Einschränkungen durch den Gesetzgeber beschlossen“ wurden (S. 162). Allerdings muss die in diesem Kapitel aufgestellte These Bergstermanns, dass erst das Engagement einiger RAF-Verteidiger die Konstituierung der „zweiten Generation“ ermöglicht habe (S. 169), kritisch hinterfragt werden. Betrachtet man unter Hinzuziehung weiterer Quellen die komplexe Entwicklungsgeschichte der sogenannten zweiten RAF-Generation, wird deutlich, dass diese Zuschreibung einer analytischen Überprüfung nicht standhält. Stärker als bisher müssen beispielsweise radikale Milieus als politische Akteure und Rekrutierungsbasen mitberücksichtigt werden. Die staatlichen Repressionen richteten sich eben nicht nur gegen Mitglieder von Gewaltgruppen, sondern auch gegen etliche Sympathisanten bzw. „gegen den sogenannten ‚Sympathisantensumpf‘, wobei sich in dieser aufgeheizten politischen Stimmung […] die große Mehrheit linker Gruppen weder auf die Seite der Terroristen noch auf die des Staates schlagen“ wollte.3 Gerade aus diesen Milieus lösten sich einzelne Personen und schlossen sich den vor allem ab 1972/73 gebildeten Anti-Folter-Komitees und Rote- sowie Schwarze-Hilfe-Organisationen an.

Aber zu Recht stellt die Verfasserin fest, dass am Ende des Stammheim-Strafverfahrens zwar ein Urteil ergangen sei, dieses jedoch niemals rechtskräftig wurde, sodass der Prozessverlauf die in ihn gesetzten Erwartungen keineswegs erfüllt habe. Auch nach einer fast zweijährigen Verhandlungsdauer sei es nicht möglich gewesen, den Angeklagten ihre Tatbeteiligung zweifelsfrei nachzuweisen (S. 201). Vielmehr hätten die RAF-Gefangenen, wie Bergstermann unter Bezugnahme auf Michael Sontheimer in ihrem Resümee schreibt, „dem Gefängnis ‚für immer einen Stempel‘ aufgedrückt, es zum ‚Symbol der bleiernen Zeit‘, zum ‚Sinnbild für den Krieg der RAF gegen die BRD‘ gemacht“ (S. 307f.).

Verstärkt wird seit einigen Jahren ein Abriss des Zellenblocks I diskutiert und damit des Komplexes, in dem die RAF-Mitglieder inhaftiert waren. Aber selbst im Fall eines Abrisses wird Stammheim voraussichtlich seine Symbolwirkung nicht verlieren. So verweist die Autorin auf vier Ebenen der Erinnerung. Erstens überdauere Stammheim als „das RAF-Gefängnis“, zweitens als einer der bekanntesten Prozessorte der bundesdeutschen Geschichte. Drittens würden die zahlreichen Widersprüche und Fragen im Zusammenhang mit dem Tod der RAF-Gefangenen bis heute nachwirken. Viertens bleibe Stammheim bedeutsam, weil diese JVA der erste Gefängnisneubau in der Bundesrepublik gewesen sei, der Sicherheit und Humanität vereinen sollte – „und dieser Anspruch, zumindest im Fall der RAF-Häftlinge, scheiterte“ (S. 298).

Einzelne kritische Anmerkungen mindern den Wert der vorliegenden Studie nicht. Insgesamt handelt es sich um eine aufschlussreiche Arbeit über eine (in ambivalentem Sinne) „moderne Haftanstalt“ als Ort der Auseinandersetzung zwischen einer terroristischen Gruppe und staatlichen Instanzen. Wichtige Fragen werden systematisch herausgearbeitet und die Antworten überzeugend gebündelt.

Anmerkungen:
1 BM [= Baader / Meinhof]: Die Materialschlacht, in: Spiegel, 19.05.1975, S. 32–46, hier S. 33, <http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41496527.html> (10.11.2016).
2 Catrin Lorch, Ein tödlicher Ort, in: Süddeutsche Zeitung, 19.11.2012, <http://www.sueddeutsche.de/kultur/fotografien-vom-raf-gefaengnis-stammheim-ein-toedlicher-ort-1.1526943> (10.11.2016).
3 Dieter Rucht, Das alternative Milieu in der Bundesrepublik. Ursprünge, Infrastruktur und Nachwirkungen, in: Sven Reichardt / Detlef Siegfried (Hrsg.), Das Alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa 1968–1983, Göttingen 2010, S. 61–86, hier S. 74.