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Titel
Rechtstrieb. Schulden und Vollstreckung im liberalen Kapitalismus 1800–1900


Autor(en)
Suter, Mischa
Erschienen
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Monika Wienfort, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Während in der deutschsprachigen Frühneuzeitforschung kulturanthropologische Forschungsfragen und -methoden seit langem einen festen Platz haben, scheint die Verwendung solcher Ansätze für das späte 19. Jahrhundert deutlich schwieriger. Je eindeutiger europäische (Regional-)Gesellschaften sich durch Industrialisierung und Urbanisierung zu nationalen Massengesellschaften wandelten, desto problematischer wird eine Perspektive, der eine Interpretation der kulturellen Bedeutung von rechtlichen Verfahren, Dokumenten und Gegenständen in qualitativer Hinsicht viel wichtiger ist als eine klassische sozial- und wirtschaftshistorische Analyse. Mischa Suter zeigt mit seiner in jedem Kapitel interessanten und anspruchsvollen Untersuchung über das Institut der Zwangsvollstreckung (das ist „Rechtstrieb“) in der Schweiz im 19. Jahrhundert, dass es sehr wohl gelingen kann, mit einer kulturanthropologischen Betrachtungsweise, die – nicht überraschend – vor allem von Marcel Mauss’ Gabentauschmodell geprägt ist, neue Erkenntnisse über kulturelle Eigenarten einer bürgerlich-liberalen Gesellschaftsordnung zu gewinnen. Suter nimmt dabei nicht die Erfolgreichen in den Blick, sondern das Scheitern wirtschaftlicher wie bürgerlicher Existenz, das sich in Insolvenz und Konkurs wie im „Falliten“ als Figur des Zahlungsunfähigen äußert.

In seiner innovativen Untersuchung geht Suter von einer rechtlichen Besonderheit in der Schweiz aus. Die Vollstreckung von Schulden ließ sich hier vorwiegend administrativ, durch die politischen Gemeinden betreiben. Die Mitwirkung der Justiz war im Regelfall nicht erforderlich. Damit kamen jenseits der gesetzlichen Verfahrensbestimmungen über Insolvenz und Konkurs auch die Interessen der Gemeinden in den Blick, die in den agrarisch wie industriell geprägten Regionen ein persönlich-individuelles Bild vom meist männlichen Schuldner entwarfen. Dabei konnte die moralische Unterscheidung zwischen den „unverschuldet“ Armen und denjenigen, deren Handlungen und Einstellungen (Leichtsinn, Verschwendung) man für die Zahlungsunfähigkeit verantwortlich machte, Konsequenzen im Verfahren haben. Außerdem hatten die Gemeindebeamten im Regelfall die Interessen der eigenen Armenfürsorge im Blick. Aus dieser Perspektive schien es oft sinnvoller, Zahlungsaufschübe und Vergleiche zwischen Gläubigern und Schuldnern zu erreichen.

Eine Art Scharnierfunktion zwischen früher und später Moderne übernimmt dabei das Konzept der „Ehre“, das in unterschiedlichen Ausprägungen begegnet. Insolvente verheiratete Männer verloren die eheliche Vormundschaft, Besitz der Ehefrauen (Frauengut) wurde nun durch einen Vormund verwaltet. Das Wahlrecht wurde ebenfalls entzogen. Eingaben der betroffenen Männer (Landwirte, Gewerbetreibende, Arbeiter) verwiesen weniger auf die materiellen Folgen dieses Rechte- und Partizipationsentzugs als auf den Verlust bürgerlicher Ehre als Mann und Familienvorstand. Sowohl für besitzende Landwirte, die sich plötzlich und unerwartet mit dem Insolvenzverfahren konfrontiert sahen als auch für stets prekär beschäftigte Handwerker zeigte der Verlust der Ehrenrechte den empfindlichen Statusverlust an. Allerdings hielt die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts mit ihrer geringen Lebenserwartung und hohen Sterberaten eine Hoffnung bereit: Eine Erbschaft konnte die wirtschaftliche Sanierung bedeuten, gegen das individuelle Versagen oder die wirtschaftlichen Konjunkturen ließen sich Familie und Verwandtschaft als Agenturen der Sicherheit begreifen.

Die Arbeit leistet schließlich auch einen Beitrag zu einer europäisch vergleichenden Geschichte des Pfandkredits, in der das Leihhaus und die Pfänder als Gegenstände des persönlichen Gebrauchs besondere Rollen spielen. Besonders interessant erscheint mir der Befund, dass letztlich nur ca. sieben Prozent der Pfänder versteigert wurden. Gerade für den Haushalt der unterbürgerlichen Gruppen im 19. Jahrhundert hatte das Pfandhaus als regelmäßige aber vorübergehende Station für beweglichen Besitz eine oft noch unterschätzte Bedeutung.

Die Organisation der Zwangsvollstreckung innerhalb eines gemeindlichen Liberalismus in der Schweiz stellt die These von einer unaufhaltsamen staatlichen Durchdringung von Wirtschaft und Gesellschaft im 19. Jahrhundert auf den Prüfstand. Die „Verstaatlichung des Sozialen“ fand möglicherweise dort ihre Grenze, wo, wie in der Schweiz, nicht bloß in der Politik verhältnismäßig bruchlos an vorindustrielle Verhältnisse angeknüpft werden konnte.