IHRA (Hrsg.): Bystanders, Rescuers or Perpetrators?

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Titel
Bystanders, Rescuers or Perpetrators?. The Neutral Countries and the Shoah


Herausgeber
International Holocaust Remembrance Alliance; Guttstadt, Corry; Lutz, Thomas; Rother, Bernd; San Román, Yessica
Reihe
IHRA series 2
Erschienen
Berlin 2016: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 19,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolf Kaiser, Berlin

Der in der Publikationsreihe der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erschienene Band, den Corry Guttstadt, Thomas Lutz, Bernd Rother und Yessica San Román ediert haben, geht auf ein von dieser Organisation unterstütztes Kolloquium zurück, das im November 2014 im Zentrum Sefarad-Israel in Madrid stattfand.

Die Beiträge des Bandes sind fünf Abschnitten zugeordnet, von denen drei über die historischen Vorgänge während der NS-Zeit und zwei über den Umgang mit der Geschichte seit 1945 informieren. Der erste befasst sich mit der durch die nationalsozialistische Verfolgung verursachten Notlage der jüdischen Flüchtlinge und der Politik der Schweiz, der Türkei und Schwedens ihnen gegenüber in der Vorkriegszeit. Im zweiten geht es um die Kriegszeit, als die Juden fast aller Länder Europas vom nationalsozialistischen Völkermord bedroht waren und verzweifelt nach Fluchtmöglichkeiten suchten. Nur für einen geringen Teil der Bedrohten bot sich überhaupt eine Möglichkeit zur Flucht in oder durch neutrale Länder, die allzu oft durch deren Politik erschwert oder verhindert wurde. Die Beiträge des dritten Abschnitts untersuchen die Reaktionen Portugals, Spaniens und der Türkei auf die ultimativen Forderungen des Deutschen Reiches, die eigenen jüdischen Staatsbürger aus den besetzten Ländern „zurückzuziehen“, wenn sie nicht den „allgemeinen Judenmaßnahmen“ unterworfen werden sollten. Im vierten Abschnitt werden nach dem Krieg in Umlauf gesetzte Rettungsmythen und öffentliche Debatten in Spanien, der Türkei und Argentinien im Hinblick auf die damit verbundenen geschichtspolitischen Intentionen analysiert. Im Kontrast dazu werden die umfangreichen historischen Untersuchungen zur Rolle der Schweiz dargestellt, die von deren Regierung in Auftrag gegeben wurden. Der letzte Abschnitt ist der Erinnerungskultur in Staaten gewidmet, die während des Kriegs neutral waren, und der Frage, inwieweit und auf welche Weise die Geschichte des Holocaust dort unterrichtet wird.

Man kann den Band auf unterschiedliche Weise benutzen. Zum einen kann man sich, den genannten Fragestellungen des Bandes folgend, über die Politik einzelner Länder im Längsschnitt informieren. Das empfiehlt sich insbesondere hinsichtlich der Schweiz, Spaniens und der Türkei, denen jeweils vier Beiträge gewidmet sind. Zum zweiten kann man zu den Themen der einzelnen Abschnitte die Politik der untersuchten Länder vergleichen. Das wird durch kurze Einführungen der Herausgeber/innen und zur Vorkriegsperiode sowie zu den Reaktionen auf den Holocaust durch je eine Diskussion erleichtert. Die Diskussionen, für die Haim Avni und Bernd Rother verantwortlich zeichnen, fassen nicht nur Ergebnisse zusammen und setzen sie zueinander in Beziehung, sondern bieten auf der Grundlage einer vergleichenden Betrachtung auch Interpretationen an, die Ursachen und Motive erhellen.

Im einleitenden Aufsatz des Abschnitt über die Vorkriegszeit schildert Susanne Heim die nationalsozialistischen Maßnahmen im Hinblick auf deren Konsequenzen für Juden, die der Verfolgung durch Emigration und Flucht zu entkommen suchten. Zugleich beschreibt sie die überwiegend restriktive Politik anderer Staaten und das Versagen des Völkerbunds gegenüber den jüdischen Flüchtlingen. Insbesondere betont Heim die Auswirkungen der Ausplünderung der Juden zugunsten der wirtschaftlichen Kriegsvorbereitungen des Deutschen Reiches in einer Zeit, als viele Länder die Folgen der Weltwirtschaftskrise noch nicht überwunden hatten.

Insgesamt zeichnen die Beiträge des Bandes ein überwiegend negatives Bild von der Flüchtlingspolitik der neutralen Staaten. Sie zielte zumeist eher auf die Abwehr der Zuflucht Suchenden als auf Hilfe und Rettung. Das gilt auch für demokratische Staaten wie z.B. Schweden. Die Motive dafür sind vielfältig. Negative Einstellungen insbesondere gegenüber Juden aus Osteuropa spielten eine Rolle, aber Antisemitismus war nicht der einzige Grund. Ein Nationalismus, der nach Homogenisierung strebte und sich in Fremdenfeindlichkeit äußerte sowie in der Absicht, den eigenen Arbeitsmarkt abzuschirmen, hatte ebenso großen Einfluss.

Die Forschungsergebnisse der Autoren sind geeignet, in der interessierten Öffentlichkeit verbreitete Annahmen zu korrigieren. Die Behauptung etwa, die Schweiz habe eine besonders restriktive Flüchtlingspolitik praktiziert, wird in den durchaus nicht unkritischen Beiträgen von Salomé Lienert und Ruth Fivaz-Silbermann ebenso in Frage gestellt wie die Auffassung, die Türkei sei ein besonders wichtiges Zufluchtsland für jüdische Flüchtlinge gewesen, die von Corry Guttstadt kenntnisreich widerlegt wird. Während die Schweiz vor Kriegsbeginn etwa 10.000 bis 12.000 jüdische Flüchtlinge aufnahm, emigrierten im gleichen Zeitraum nur wenig mehr als 600 Juden in die Türkei. Der J-Stempel in Pässen deutscher Juden ging nicht auf einen Vorschlag der Schweiz zurück. Allerdings hat die Schweizer Regierung im Zuge von Verhandlungen über die Aufhebung der Visapflicht Ende September 1938 den entsprechenden Vorschlag der deutschen Seite akzeptiert und trägt damit für diese Maßnahme Mitverantwortung, die vielen auch die Aufnahme in andere Länder erschwerte. Dagegen hatte die Türkei schon Anfang Juli 1938 einen Vorschlag unterbreitet, Pässe deutscher Juden zu kennzeichnen – allerdings auf eine nur für die Behörden erkennbare Weise. Auch die Politik der diktatorisch regierten Staaten der iberischen Halbinsel wird von Avraham Milgram und Josep Calvet hinsichtlich ihrer Uneinheitlichkeit und der vor allem durch den Kriegsverlauf bedingten Veränderungen differenziert dargestellt. Portugal und Spanien waren im Wesentlichen Transitländer, weil jüdische Flüchtlinge nur legal einreisen konnten, wenn sie die für die Weiterreise notwendigen Unterlagen vorwiesen. Trotz aller bürokratischen Hürden sind etwa 15.000 Juden auf diesem Weg emigriert. Dagegen haben sich nur wenige sephardische Juden durch Berufung auf die Herkunft ihrer Vorfahren von der iberischen Halbinsel retten können.

Im Hinblick auf die Bewertung der Reaktionen der neutralen Staaten auf den Holocaust geht Claudia Ninhos einleitend der Frage nach, was man dort über die Morde wusste. Sie weist auf die zentrale Rolle der polnischen Exilregierung bei der Vermittlung entsprechender Informationen hin, aber auch auf die Informationsquellen, die die Länder durch ihre diplomatischen Vertretungen im Deutschen Reich und bei dessen Verbündeten besaßen. Und sie führt viele Beispiele für Augen- und Ohrenzeugenberichte an, die Diplomaten, Militärs, Geschäftsleute, Journalisten, Ärzte und andere mitbrachten, die als Bürger neutraler Staaten sogar die besetzten Länder bereisen konnten. Sie wirft aber auch die Frage auf, inwieweit die Regierungen den Berichten Glauben schenkten, die schon 1941 über die Einsatzgruppenmorde informierten und ab 1943 ein immer deutlicheres Bild von der Systematik und dem Ausmaß der Verbrechen zeichneten. Die Verbreitung der Nachrichten in der Öffentlichkeit wurde in der Türkei, Spanien und Portugal strikt unterbunden; aber auch die Regierungen der demokratischen Staaten Schweiz und Schweden behinderten entsprechende Veröffentlichungen.

Auch wenn das Wissen über den Holocaust begrenzt war, musste den Regierungen der neutralen Staaten klar sein, dass ihre jüdischen Bürger in großer Gefahr waren, wenn sie sich in Ländern aufhielten, die von den Nationalsozialisten und ihren Verbündeten beherrscht wurden. Trotzdem blieb die Zahl der Bürger Portugals, Spaniens und der Türkei gering, die in diese Länder ausreisen konnten, nachdem die Nationalsozialisten gedroht hatten, sie zu deportieren, wenn sie nicht ‚zurückgeholt‘ würden. In allen drei Fällen kommen Irene Flunser Pimentel, Bernd Rother und İ. İzzet Bahar zu dem Schluss, dass Juden in größerer Zahl hätten überleben können, wenn die Regierungen mehr Interesse an ihrer Rettung gezeigt hätten.

Der oben erwähnte Gegensatz zwischen verbreiteten Annahmen über die Politik der neutralen Länder und den historischen Tatsachen ist – wie im vierten Abschnitt deutlich wird – keineswegs zufällig entstanden. Vielmehr haben die Regierungen Spaniens und der Türkei, aber auch Argentiniens mit Hilfe in- und ausländischer Medien sehr bewusst Mythen über ihren angeblich großen Beitrag zur Rettung von Juden verbreitet. Jüdische Organisationen unterstützten solche Bemühungen aufgrund von Opportunitätserwägungen. Von besonderer Aktualität ist Pinar Dost-Niyegos Beitrag über die Türkei, der zeigt, wie der Rettungsmythos in den Dienst der Leugnung des Genozids an den Armeniern gestellt wurde und wird.

Im letzten Abschnitt werden die Bemühungen um Holocaust-Erinnerung, Gedenken und Unterricht gewürdigt, aber auch die besonderen Schwierigkeiten benannt, die Komplexität der historischen Bezüge der neutralen Staaten zum Holocaust herauszuarbeiten und deren Relevanz und Aktualität in Öffentlichkeit und Unterricht zu verdeutlichen. Über die pädagogische Vermittlung wird der für das Frühjahr 2017 angekündigte dritte Band der Publikationsreihe der IHRA umfassender informieren; er wird die dazu nicht nur in den ehemals neutralen Ländern vorliegende empirische Forschung vergleichend analysieren.