C. Defrance: Verständigung und Versöhnung

Cover
Titel
Verständigung und Versöhnung nach dem «Zivilisationsbruch»?. Deutschland in Europa nach 1945


Herausgeber
Defrance, Corine; Pfeil, Ulrich
Erschienen
Brüssel 2016: Peter Lang/Brussels
Anzahl Seiten
854 S.
Preis
€ 72,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jost Dülffer, Historisches Institut, Universität zu Köln

Wie soll man Versöhnung definieren? Das Coverbild zeigt eine Metallskulptur auf zwei Sockeln, auf der zwei Menschen stehen, deren Oberkörper verschmolzen und deren Gesichter ganz nahe sind. Man erfährt, dass diese „Umarmung als Zeichen der Versöhnung“ von Sigbert Amler an der KZ- und Begegnungsstätte Ladelund in Schleswig-Holstein steht. Die Herausgeber sehen in Versöhnung „ein Konzept mit vielen Facetten“, wenn sie mit kurzem historischen Ausholen dem semantischen Wandel nach 1945 nachgehen, nicht jedoch erwähnen, dass die Conciliation internationale (Estournelles de Constant und andere) und der Internationale Versöhnungsbund schon ältere Traditionen im Rahmen von Pazifismus abbildeten. Corine Defrance und Ulrich Pfeil kommen ihrerseits zu einer analytischen Definition und verstehen „Versöhnung als ein[en] Prozess sich wandelnder Emotionen und Gefühlshaltungen mit politischen und sozio-kulturellen Komponenten“ (S. 35). Das sei ein Produkt sehr unterschiedlicher Vorgänge, die im Einzelnen gelistet werden. Konkret heißt dies, dass die Autoren und Autorinnen im Band jeweils andere Aspekte aufgreifen, benutzen und weitere Umschreibungen des Begriffs hinzufügen. Sie laufen darauf hinaus, dass schreckliche Vorgänge, Erlebnisse im Bewusstsein der Menschen in bessere umgewandelt wurden, der Zivilisationsbruch der NS-Herrschaft gibt die Richtung an. Viele Autoren betonen über ihr engeres Thema hinaus die religiösen Ursprünge des Vorgangs. Gerade weil Versöhnung so proteusartig ist, dürfte sinnvollerweise wohl noch der neutralere Begriff der Verständigung im Titel hinzugekommen sein.

Einen Band mit 35 Beiträgen vorzustellen, muss sich auf Konzeption und ausgewählte Einzelbeiträge erstrecken. Es gibt fünf große Abschnitte, die jeweils von einem Sachkenner oder einer Sachkennerin bilanziert werden. Man hat den Eindruck, dass dies nachträglich geschehen ist und nicht vorab für eine Strukturierung des jeweiligen Abschnitts sorgte. Erstens sind dies symbolische Gesten. Darunter finden sich die üblichen zentralen wie die zwischen Adenauer und de Gaulle, Kohl und Mitterrand, die missglückte von Bitburg zwischen Kohl und Reagan. Hinzu kommt der Friedensgruß von Kreisau und in kritischer Sicht die DDR-Konstruktion der Brücken der Freundschaft und damit die programmatische „Völkerfreundschaft“ im anderen deutschen Staat, der sonst leider wenig vorkommt. Zweitens werden zehn Erinnerungs- und Gedenkorte präsentiert, die fast alle bereits breit in der Forschung behandelt werden, denen die Autor/innen aber doch gelegentlich noch neue Aspekte abgewinnen. Im Kern handelt es sich um Orte, an denen an von deutscher Seite begangene Verbrechen erinnert wird und zwar für je eines exemplarisch für eines der betroffenen europäischen Länder; hierher gehört auch das eingangs genannte Ladelund als Deportationsort für Niederländer (Christine Gundermann). Bei Dachau sind es nur die Anfänge der Evangelischen Versöhnungskirche, die anderen Beiträge sind eher überblicksartig gehalten. Aus dem Rahmen fällt ein Beitrag für die Kooperation am Oberrhein zwischen Deutschland, der Schweiz und Frankreich, bei welcher auf die institutionelle Entwicklung der Nachkriegskommunikation abgehoben wird; Versöhnung? Im dritten Abschnitt stehen Organisationen und Institutionen im Fokus. Das muss eine gewisse Beliebigkeit haben, ist aber gut ausgewählt. Gerade diese Beiträge sind sehr unterschiedlich angelegt, setzen auch – sehr differenziert – viele Fragezeichen hinter den Versöhnungsbegriff. Ob es angebracht war, einen Mitarbeiter des Volksbunds deutscher Kriegsgräberfürsorge zu gewinnen oder zur Stiftung Vertreibung einen jahrzehntelangen publizistischen Kritiker gerade dieses Teils an Erinnerungskultur, sei dahingestellt. Leider klammert der Direktor des deutsch-russischen Museums in Karlshorst Jörg Morré die DDR-Zeit völlig aus. Originell ist die Behandlung von § 96 des Bundesvertriebenengesetzes, in dem es um die Pflege der Kultur von Flüchtlingen und Vertreibungen geht (Catherine Perron). Nochmals komplexer im Ansatz wird Kapitel vier über Aktionsfelder und Handlungsformen, von Birgit Schwelling einleitend kategorial zusammengehalten. Viel zu groß ist der Anspruch, über beide große Konfessionen über den ganzen Zeitraum etwas Spezifisches sagen zu wollen. Städtepartnerschaften, Schulbuchgespräche, Gedenkreden und Verträge im Allgemeinen sind hier Stichworte. Spannend, wenn auch kaum zum Oberthema gehörig sind Nicolas Molls skeptische Aussagen über die nur sehr begrenzt mögliche, aber versuchte Übertragung von Erfahrungen des deutsch-französischen Ausgleichs auf das ehemalige Jugoslawien. Bei Friedensforschung und Friedenspädagogik (Fünftes Kapitel) setzen die Herausgeber/innen bereits in der Überschrift ein Fragezeichen. Breit in die Gesellschafts- und Kulturgeschichte bettet Holger Nehring die Friedensforschung von den 1960er- bis 1980er-Jahren ein – ein herausragender Aufsatz – , während Bernhard Moltmann für die entsprechende Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung ernüchternd konstatiert, man habe sich mehr mit akuten Kriegsbedrohungen als mit Versöhnung beschäftigt, während für die Berghof-Stiftung Beatrix Austin (auch hier leider eine Mitarbeiterin der Stiftung) Versöhnung vorsichtig bejaht.

Was bleibt angesichts der handbuchartigen Vollständigkeit? Natürlich Ambivalenzen. Es wird deutlich, dass viele Versöhnungsansätze glückten, Marksteine, Ausdruck darstellten. Vielfach wird hervorgehoben, dass Rhetorik allein nicht ausgereicht habe, nur eingebettet in einen vorangehenden und begleitenden Prozess Wirkung entfaltete. Dann aber wäre der (gesamt)gesellschaftliche Kontext stärker in den Blick zu nehmen, was manche Autor/innen auch tun. Sehr klar wird herausgearbeitet, dass nach 1945 Verständigung von den Alliierten zunächst verboten war und erst langsam in Gang kam. Überraschend viele Beiträge widmen sich der – immer noch – unvollkommenen Versöhnung der letzten Jahrzehnte. Fast überall wird der verbrecherische Akt, auf dem Versöhnung aufbauen konnte, eingangs beschrieben und sodann das deutsche Paradox beschrieben, dass Versöhnung nur von den anderen kommen konnte. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass etwa Jörg Echternkamp bei den Veteranen ein „Pathos der Versöhnung“ hervorhebt, das sich am liebsten mit dem professionellen Händedruck und der Begnadigung von Verurteilten begnügte.

Dass Aussöhnung neben den moralisch-emotionalen Aspekten auch immer interessegeleitet war, kommt in vielen Beiträgen sehr gut heraus, was die Konjunkturen und den Wandel auch erklärt. Corine Defrance und Tanja Herrmann erarbeiten etwa einen vorzüglichen Überblick über die Städtepartnerschaften, nicht nur der BRD primär mit dem westlichen Europa, sondern auch der DDR mit dem östlichen Teil und denen zwischen beiden deutschen Staaten. Sie fragen skeptisch nach, ob die Versöhnung einen Kernaspekt dieses Themas ausmachte und beurteilen auch diesen Vergangenheitsaspekt ambivalent. Doch dann unterstreichen sie, dass „das Friedensideal in der Geschichte der Städtepartnerschaften immer präsent war“ (S. 602). Nicht nur das: die Autoren und Autorinnen sehen gerade von daher den Friedensnobelpreis für die europäische Union gerechtfertigt. Sollte es in einem solchen historisch-wissenschaftlichen Band aber nicht nur um die kontextabhängige Einbettung solcher Ansätze, oder wie Nehring im Anschluss an Paul Nolte es versucht, um die „soziale Selbstbeschreibung“ (S. 713) der deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg gehen? Anders gewendet: Gerade weil so viele Beiträge sich mit der Präsentation (West-)Deutschlands im und gegenüber dem Ausland beschäftigen: wäre es da nicht angemessen gewesen, diese vielen Einzelelemente von Staatsverständnis in der Staatsrepräsentation1 einmal gedanklich zu bündeln? Ein patchwork von versuchten und durchgeführten Gesten verdiente jedenfalls intensiver in die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik und zum Teil der DDR eingeordnet zu werden.

Entstanden ist somit ein umfassender, handbuchartiger Überblick, der mit dem vagen Begriff der Versöhnung einen guten Teil deutscher Nachkriegserinnerungskultur über weite Strecken innovativ erschließt. Ungleichmäßigkeiten sind dabei wohl unvermeidlich gewesen; der Spagat zwischen Anspruch und Wirklichkeit wurde aber weitgehend geleistet.

Anmerkung:
1 Simone Derix, Bebilderte Politik. Staatsbesuche in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990, Göttingen 2009.

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