H. Camarade u.a. (Hrsg.): Résistance, dissidence et opposition en RDA

Cover
Titel
Résistance, dissidence et opposition en RDA 1949–1990.


Herausgeber
Camarade, Hélène; Goepper, Sibylle
Reihe
Histoire et civilisations
Erschienen
Anzahl Seiten
403 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Emmanuel Droit, Geschichte, Centre Marc Bloch

Der von Hélène Camarade und Sibylle Goepper herausgegebene Band hat zum Ziel, in französischer Sprache einen möglichst breiten Überblick über die Forschung zu Widerstand, Dissidenz und Opposition in der DDR von 1949 bis 1990 zu bieten. Hervorgegangen ist er aus der im März 2013 an der Universität Bordeaux abgehaltenen Konferenz „Résistance et opposition en RDA. Tentatives de conquête de l’espace public“. Der Band versammelt Beiträge von etablierten deutschen und französischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit unterschiedlichen historiografischen und disziplinären Hintergründen: französische Germanistinnen und Germanisten mit kulturgeschichtlichem Schwerpunkt und französische und deutsche Historikerinnen und Historiker, die eher an einer Sozialgeschichte der SED oder einer Politikgeschichte der Opposition und der Stasi arbeiten. Darüber hinaus haben Camarade und Goepper französische Experten für die Geschichte des Widerstands im „Dritten Reich“, im Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg (Gilbert Merlio, Olivier Wieviorka, Jacques Semelin) eingeladen, im Rahmen des Bandes in einen Dialog über vergleichende Herangehensweisen und mögliche Transfers von Konzepten zu treten.

Eine solche Publikation steht zum einen in der Kontinuität der Archivrevolution der frühen 1990er-Jahre. Zum anderen steht sie im Kontext einer – seit der Pionierarbeit von Karl-Heinz Fricke Mitte der 1980er-Jahre1 – sehr dynamischen deutschen Historiographie zu Opposition und Widerstand in der DDR. Anstelle einer Zusammenfassung jedes einzelnen Beitrags scheint es hier sinnvoller, die wichtigsten wissenschaftlichen Fragestellungen dieses Sammelbands darzulegen. Die erste ist konzeptueller Natur: Wie können die verschiedenen Formen von Opposition eingeordnet werden? Die zweite Fragestellung betrifft chronologische Aspekte: Zu welchem Zeitpunkt der DDR-Geschichte lassen sich Praktiken des Widerstands oder der politischen Opposition beobachten? Wie entwickeln sich im Laufe der Zeit diese verschiedenen Verhaltensweisen und deren Bekämpfung durch das kommunistische Regime?

Das erste Verdienst dieses für ein französischsprachiges Publikum konzipierten Sammelbands ist, dass er sich der heiklen Frage nach der Definition von Phänomenen annimmt, die unter den Etiketten Widerstand, Opposition und Dissidenz zusammengefasst sind. Hélène Camarade, die sich auf ihre Forschungen zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus2 stützen kann, stellt gleich in der Einführung den Nutzen der drei Schlüsselkonzepte Widerstand, Opposition und Dissidenz infrage. Für sie sind die drei Begriffe insbesondere deshalb problematisch, weil sie zu global gefasst seien. Die wichtigste heuristische Schwäche des Begriffspaars „Opposition/Widerstand“ bestehe darin, dass es die Idee einer Dichotomie von Staat und Gesellschaft postuliert. Diese führe zu einer ausschließlich politischen Deutung des Verhaltens der Akteure. Hier wäre es, so Camarade, sinnvoll, ein größeres Augenmerk auf die Interaktionen zwischen Herrschenden und Beherrschten zu legen. So ließe sich besser nachvollziehen, wie die politische Macht Normen schafft, die Formen der Opposition „ins Leben rufen“. Auch eine vergleichende und transnationale Perspektive wäre aufschlussreich, um die Schwäche der Opposition in der DDR im Vergleich zu Polen oder zur Verbreitung von Ideen und politischen Projekten innerhalb des Ostblocks3 zu verstehen.

Im Allgemeinen liegt das Interesse der deutschen Beiträgerinnen und Beiträger vor allem auf dem Phänomen der politischen Opposition. So widmet sich Mike Schmeitzner den ersten Formen von Opposition und Widerstand in der SBZ (1945–1949). Schmeitzner differenziert zwischen „demokratischer Opposition“ und „demokratischem Widerstand“ um zu zeigen, wie die Vertreterinnen und Vertreter der demokratischen Parteien sich dazu gezwungen sahen, zwischen 1945 und 1950 ihre Position in der Öffentlichkeit zu ändern. Demgegenüber interessieren sich die französischen Autorinnen und Autoren eher für kultur- und sozialgeschichtliche Fragestellungen mit Augenmerk auf einzelne oder kollektive Akteure (Figuren der Dissidenz, Arbeiter in der SED, Künstler, die alternative Subkulturen tragen) und deren Positionierung in repräsentativer Öffentlichkeit und Ersatzöffentlichkeit. In einer sozio-politischen Perspektive greift Michel Christian sehr überzeugend den Begriff des Eigen-Sinns auf, den Alf Lüdtke ursprünglich im Kontext der Lage der Arbeiter in ostdeutschen Fabriken im ausgehenden 19. Jahrhundert und während des Nationalsozialismus geprägt hatte. Christian zeigt, wie der „Eigen-Sinn“ gewinnbringend auf die Untersuchung der Haltung der Arbeiter angewandt werden kann, die vor dem Hintergrund des 17. Juni 1953 Mitglied der SED waren. Analog untersucht die Germanistin Elisa Goudin die Ostberliner Kulturhäuser der 1980er-Jahre als „Archipel der Soziabilität“ (S. 211), die bestimmte Handlungsspielräume für subversive Opposition eröffneten.

Die zweite Stärke des Bands liegt darin, dass er die Historizität von Widerstand, Opposition und Dissidenz innerhalb wechselnder politischer und gesellschaftlicher Kontexte untersucht. Mit der chronologisch-thematischen Struktur des Bandes wollen Camarade und Goepper aufzeigen, wie sich verschiedene Formen dieser Verhaltensweisen ablösen oder parallel zueinander bestehen konnten. Der erste Teil, der die Jahre 1945–1961 abdeckt, fokussiert auf Formen des politischen Widerstands auch jenseits des 17. Juni 1953. So greift etwa das Interview mit Thomas Ammer die Geschichte des Eisenberger Kreises auf, eine aus fünfzehn Jugendlichen bestehende Gruppe, die nach dem Vorbild der „Weißen Rose“ von 1953 bis 1958 illegale Aktionen gegen das SED-Regime organisierte.

Der zweite Teil widmet sich dem Phänomen der Dissidenz von 1956 bis 1990. Neben den Beiträgen von Bernd Florath über Havermann und Biermann und von Anne-Marie Pailhès über Bahro zeigt die Untersuchung von Hélène Yèche über Christoph Hein auf, wie dieser Schriftsteller das Etikett „Dissident“ zurückwies, um sich besser als Autor am Rande des Systems definieren zu können. Teil drei und vier beschäftigen sich mit den 1970er- und 1980er-Jahren und verbinden empirische Studien über die politische Opposition (mit besonderem Augenmerk auf Samizdats und „dialog“-Heften) mit Untersuchungen von Kultur als gesellschaftlichem Gegenraum. Bedauerlich ist, dass kein Beitrag die 1960er-Jahre abdeckt. Wird doch gerade in diesem Jahrzehnt die Jugend immer stärker zum „inneren Feind“ erklärt und vom Regime als Problem gesehen.4

Trotz dieser Lücken erfüllt dieser Sammelband voll und ganz sein doppeltes Ziel: zum einen ein historiografisches Panorama der deutschen und der französischen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Gegenstand zu präsentieren und auf dieser Basis die etablierten Begriffe neu zu diskutieren. Zum anderen gelingt es, einen deutsch-französischen wissenschaftlichen Austausch zu schaffen, der die Übereinstimmungen und Divergenzen in der Geschichtsschreibung der „zweiten deutschen Diktatur“ aufzeigt. Festgehalten werden kann: Nach wie vor interessiert sich die deutsche Historiographie – zumindest in Gestalt der in diesem Band vertretenen Beiträger – mehr für die politische Opposition, während die französische Germanistik dem Spannungsverhältnis zwischen kulturellen und künstlerischen Produktionen einerseits und dem politischen und öffentlichen Sphären nachgeht.

Anmerkungen:
1 Karl Wilhelm Fricke, Opposition und Widerstand in der DDR. Ein politischer Report, Köln 1984.
2 Hélène Camarade, Écritures de la résistance. Le journal intime sous le IIIe Reich, Toulouse 2007.
3 Gregor Feindt, Auf der Suche nach politischer Gemeinschaft. Oppositionelles Denken zur Nation im ostmitteleuropäischen Samizdat 1976–1992, Berlin 2015.
4 Dorothee Wierling, Die Jugend als innerer Feind. Konflikte in Erziehungsdiktatur der sechziger Jahre?, in: Hartmut Kaelble / Jürgen Kocka / Hartmur Zwahr (Hrsg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart, 1994, S. 404–425. S.a. Emmanuel Droit, Vorwärts zum neuen Menschen? Die sozialistische Erziehung in der DDR (1949–1989), Köln 2014.