O. Auge u.a. (Hrsg.): Ambiguität im Mittelalter

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Titel
Ambiguität im Mittelalter. Formen zeitgenössischer Reflexion und interdisziplinärer Rezeption


Herausgeber
Auge, Oliver; Witthöft, Christine
Reihe
Trends in Medieval Philology 30
Erschienen
Berlin 2016: de Gruyter
Anzahl Seiten
VIII, 346 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Scheller, Historisches Institut, Universität Duisburg-Essen

Ambiguität gehört zu den Begriffen, die gegenwärtig von den Kulturwissenschaften besonders intensiv diskutiert werden. Zwar stammt der Begriff der Ambiguität bereits aus der antiken Rhetoriktheorie und ist schon seit längerem ein fester Bestandteil des Instrumentariums der Sprach- und Literaturwissenschaften. Für die historischen Disziplinen, unter ihnen die Geschichte des Mittelalters, wurde Ambiguität jedoch erst zu einer neuen Herausforderung, als der Münsteraner Islamwissenschaftler Thomas Bauer 2011 sein Buch „Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams“1 veröffentlichte und in diesem die These vertrat, dass Kulturen und Epochen sich in starkem Maße dadurch unterschieden, wie Menschen Ambiguität empfänden und damit umgingen.

Der vorliegende Band hat zwei Ziele, die Herausgeberin und Herausgeber in ihrer Einleitung (S. 1–17) klar umreißen. Zum einen soll er eine „vermeintliche, Ambiguitätsferne‘ der mittelalterlichen Kultur und Literatur auf den Prüfstand stellen.“ Zum anderen gibt er einen Überblick über das „breite Spektrum an Diskursen und Wissenskontexten der Ambiguität“ (S. 2) auf der Basis theoretischer Exkurse und von Fallbeispielen aus Literaturwissenschaft, Islamwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte.

Der Band gliedert sich in drei Abschnitte, die Beiträge zu Rhetorik und Texthermeneutik (Bauer, Meier, Friedrich), literaturhistorischer Ambiguität (Münkler, Hammer, Witthöft, Quast, Reuvekamp-Felber) und kulturhistorischer Ambiguität (Müller, Althoff, Israel, Studt, Schürer) versammeln. Zwei Grundfragen werden dabei aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven immer wieder behandelt oder zumindest angeschnitten.

Die erste ist die Frage nach dem Inhalt des Begriffs der Ambiguität. Denn dieser „ist, was er beschreiben soll“, nämlich mehrdeutig (Marina Münkler, S. 114). Mit Ambiguität bezeichnen Linguistik, Rhetorik, Literatur- und Kunstwissenschaft Unterschiedliches. Dabei umfasst das Spektrum der Begriffsinhalte Bedeutungen wie Zweideutigkeit, Doppeldeutigkeit, Uneindeutigkeit, Mehrdeutigkeit, Vieldeutigkeit, Rätselhaftigkeit und Vagheit. Um dem Begriff der Ambiguität ein klareres Profil zu geben, hat man daher wiederholt versucht, ihn auf seine ursprüngliche Bedeutung zurückzuführen und für Phänomene der Zwei- oder Doppeldeutigkeit zu reservieren (lat. ambiguitas, von lat. ambo, beide). Mehrere Beiträge beschreiten diesen Pfad (z.B. der von Christiane Witthöft, S. 179–202).

Die zweite Grundfrage ist die Frage nach dem Verhältnis von Alltags- und Sonderkommunikationen. „Ambiguitäten können innerhalb der sozialen Interaktion als Defizienzphänomen erlebt werden, […] sie können unter sonderkommunikativen Bedingungen, zu denen die literarische Kommunikation gerechnet wird, aber auch als ‚ästhetische Produktivkraft‘ dienen.“ (Marina Münkler, S. 123) Welche Rückschlüsse ermöglichen Phänomene wie narrative oder rhetorische Ambiguität also hinsichtlich des Stellenwerts von Ambiguität in „Kultur“ und „Gesellschaft“?

Thomas Bauer (S. 21–47) beleuchtet anhand der Werke des Dichters und Korangelehrten Ibn Abī l-Iṣbaʿ (1189–1256) Stilphänomene der arabischen Rhetorik, die durch Ambiguität charakterisiert sind und formuliert dabei abermals seine These von der hohen Ambiguitätstoleranz der zeitgenössischen arabischen Gesellschaften. Der Beitrag von Christel Meier (S. 49–82) zeigt, dass Ambiguität in der westlichen Tradition der Bibelexegese gleichfalls positiv besetzt war. Hatte doch bereits der Kirchenvater Augustinus die Kritik der antiken Rhetorik an ambiguitas bzw. ambipholia für „verba propria“ reserviert, für die übertragende Rede der Bibel obscuritates et ambiguitates „nicht mehr als sprachliches Defizit, sondern als Potential begriffen, das durch angemessenes Zeichenverständnis zu entschlüsseln ist.“ (S. 57f.)

Udo Friedrich widmet sich der Metapher als „Figur genuiner Ambiguität“ im Mittelalter (S. 83–109). Dabei legt er den Gedanken zugrunde, dass die Rhetorik ihre Geltungsansprüche aus kulturellen Erfahrungen bezieht, die gleichermaßen durch empirische Regemäßigkeit wie durch Kontingenz charakterisiert sind. Dem binär strukturierten Feld der Logik stelle sie daher ein Feld von Geltungsansprüchen entgegen, in dem nicht nur das tertium datur gelte, sondern auch je nach Situation das gleiche Argument in gegenläufiger Richtung verwendet werden könne.

Auf der Basis einer umfassenden Erörterung der verschiedenen Ambiguitätskonzepte in den Kulturwissenschaften profiliert Marina Münkler (S. 113–156) das Konzept der narrativen Ambiguität und wendet es auf die 1587 erschienene „Historia“ von D. Fausten an. Dabei sieht sie narrative Ambiguität vor allem als Folge „der Komplexität narrativer Konstruktionen, in denen sich Erzählstimmen, Figurenperspektiven und die Polysemie der Sprache, insbesondere die historisch wechselvolle Semantik von Begriffen, überschneiden und dadurch Lesarten ambiguisieren.“ (S. 128).

In Abgrenzung von differenzlogischen Konzeptionen versucht Andreas Hammer (S. 157–178) „Heiligkeit als Ambiguitätskategorie“ zu fassen. Sie mache das Unverfügbare dann nicht mehr nur in einer paradoxen Weise verfügbar, sondern ermögliche in der subjektiven Erfahrung auch eine Überbrückung der Differenz von Immanenz und Transzendenz.

Im Beitrag von Christiane Witthöft (S. 179–202) geht es an den Beispielen des Paradiessteins im Straßburger Alexander und der Doppelfigur der Frau Welt um Sinnbilder der Ambiguität in der mittelalterlichen Literatur, die in den unterschiedlichen Erzählkontexten den Protagonisten der Erzählung „das 'Sowohl als auch' ihrer Lebensführung und Normenwelt“ angesichts der Bipolarität von Weltverhaftetheit und Weltentsagung vor Augen führt.

Bruno Quast (S. 203–218) zeichnet Ambiguitäten des Wildheitsdiskurses im „Fortunatus“ (1509) nach, in dem Wildheit einerseits für den gesellschaftlichen Niedergang steht und gleichzeitig als Voraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg erscheint. Timo Reuvekamp-Felber (S. 219–237) plädiert für eine Neuausgabe des Erec Hartmanns von Aue, die diesen nicht in unangemessener Weise vereindeutigt. Der Beitrag von Matthias Müller (S. 241–272) behandelt den Iwein-Zyklus auf Schloss Rodenegg in Südtirol, der Anfang des 13. Jahrhunderts von den Herren von Rodank, Ministerialen des Bischofs von Brixen, in Auftrag gegeben und 1973 bei Restaurationsarbeiten wieder entdeckt wurde, als „Visualisierung der Ambiguität des höfisches Artusritter-Ideals“ (S. 243).

Gerd Althoff (S. 273–285) analysiert Ambiguitätsphänomene in der adligen Kommunikation unter Anwesenden im 11. Jahrhundert auf der Basis der Chronik des Thietmar von Merseburg. Dabei kommt er zu der Einschätzung, dass ambigue Kommunikation, in der die Akteure bewusst Deutungsspielräume offenließen und nicht bis zum Letzten Klarheit schafften, „in ehrbewusster Gesellschaft die wichtige Funktion (erfüllte), Konflikte zu vermeiden und das Gesicht der beteiligten zu wahren." (S. 284) Der Beitrag von Uwe Israel (S. 287–304) untersucht, „inwiefern in Bezug auf den mittelalterlichen Gerichtszweikampf und das Gottesurteil Uneindeutigkeiten zu beobachten sind“ (S. 288). Dass die Menschen im Mittelalter unterschiedliche Methoden der Wahrheitsfindung akzeptierten, könne als Indiz für eine Ambiguitätstoleranz des Mittelalters gewertet werden.

Birgit Studt (S. 305–316) untersucht Ambivalenzen von Norm und Abweichung anhand der Figur des Helden und wertet hierfür die Lebensbeschreibung des fränkischen Adligen Wiwolt von Schaumberg aus, die 1507 entstand. Um Uneindeutigkeiten im „Adversus iudeos et gentes“-Traktat des Florentiner Humanisten Gianozzo Manetti (1396–1459) geht es im Beitrag von Markus Schürer (S. 317–337). Diese bestehen nicht zuletzt in der zwiespältigen Bewertung der Juden: positiv gegenüber dem biblischen Judentum aufgrund seines Status als heilsgeschichtlichem Vorläufer des Christentums, abwertend gegenüber dem nachbiblischen Judentum.

Vor allem die Beiträge aus den Literaturwissenschaften zeigen, dass die bisherige Forschungsmeinung, Ambiguität sei vornehmlich ein Epochenkennzeichen der Moderne, dringend revisionsbedürftig ist. Die Bedeutung des Bandes besteht jedoch vor allem darin, dass er seinem Anspruch, die Breite der gegenwärtigen kulturwissenschaftlichen Diskussion zu Ambiguität abzubilden, in beindruckender Weise gerecht wird. Vor allem die Beiträge von Christel Meier, Udo Friedrich und Marina Münkler leisten hier Grundlegendes. Dass in einigen Beiträgen eher die Grenzen des heuristischen Potentials des Ambiguitätsbegriffs für die Analyse des jeweiligen Gegenstandes deutlich werden, tut dem keinerlei Abbruch. Im Gegenteil: Es ist ein wichtiges Ergebnis der kritischen Bestandsaufnahme, die Herausgeberin und Herausgeber intendieren. Für alle, die sich künftig mit Phänomenen der Ambiguität und dem Umgang mit ihnen im Mittelalter und darüber hinaus beschäftigen werden, ist der Band daher eine unverzichtbare Lektüre.

Anmerkung:
1 Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Frankfurt am Main 2011.

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