: It's Madness. The Politics of Mental Health in Colonial Korea. Berkeley 2016 : University of California Press, ISBN 978-0520289307 225 S. $ 65.00

: The Hidden Patients. North African Women in French Colonial Psychiatry. Köln 2016 : Böhlau Verlag, ISBN 978-3-412-50201-0 320 S. € 50.00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marietta Meier, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Aus Scham und Angst vor sozialer Ausgrenzung sind psychische Störungen von Angehörigen in den meisten asiatischen Ländern ein Tabu. In Korea begann man erst in den 1980er-Jahren, als sich Kernfamilien nicht mehr selbst um psychisch Kranke kümmern konnten, diese in größerem Ausmaß zu hospitalisieren. Noch heute bleiben allerdings viele psychische Störungen unbehandelt.

Nach Yoo ist dieser „starke Widerstand gegenüber westlichen, medikalisierten Zugängen zu psychischer Krankheit und die Präferenz für traditionelle, volkstümliche Interpretationen“ in eine lange Geschichte eingebettet, die eng mit dem Vermächtnis des japanischen Kolonialismus und der dramatischen Begegnung Koreas mit der Moderne verflochten ist“ (S. 5f.). Der Assoziierte Professor für koreanische Sprache und Literatur analysiert in seiner Studie, wie die koreanische Gesellschaft versuchte, ungewohnten, bizarren oder verstörenden Verhaltensweisen Sinn zuzuschreiben. Er möchte einen Sedimentationsprozess aufzeigen, der ein Erinnerungspalimpsest hervorbrachte: Inskriptionen neuer Interpretationen, die ältere teilweise zum Verblassen, aber nie völlig zum Verschwinden brachten. Am Ende der japanischen Kolonialherrschaft1 lässt sich schließlich ein Konglomerat verschiedener Versatzstücke feststellen: Resilienzen der traditionellen koreanischen Volkskultur, Ideen der traditionellen chinesischen Medizin sowie Elemente der modernen Psychiatrie.

Das Thema psychische Störungen ist in der koreanischen Geschichtswissenschaft noch kaum erforscht, zum einen wohl wegen der schlechten Quellenlage, zum anderen weil es sich in den vorhandenen Quellen – beispielsweise Regierungsberichte, Klinikakten, Zeitungsartikel, Romane und Autobiographien – schwer fassen lässt. Yoo findet jedoch, dass diese durchaus Einblicke in die Art und Weise erlaubten, wie die vielschichtigen Narrative des Palimpsests geformt wurden (S. 10f.).

„It’s Madness. The Politics of Mental Health in Colonial Korea“ enthält neben einer Einleitung und einem Epilog vier Kapitel, die in chronologischer Reihenfolge gegliedert sind. Das erste Kapitel untersucht die traditionellen, volkstümlichen Erklärungen für Verhaltensweisen, die als gefährlich und unangebracht galten. Im koreanischen Schamanismus wurden unerklärbare „Krankheiten“ als natürliche Konsequenz von menschlichen Interaktionen mit der Geisterwelt betrachtet. Im Gegensatz zum Schamanismus trennten die traditionelle chinesische und koreanische Medizin, die sich aus ersterer entwickelte, nicht zwischen Körper und Geist, weshalb sie Wahnsinn mit einem holistischen Ansatz behandelten. Die westliche Medizin wurde ab Ende des 19. Jahrhunderts durch Missionare und die japanische Kolonialmacht (siehe Anmerkung 1) eingeführt. Das neue Regime der westlichen Psychiatrie unterschied sich stark von den bisherigen Behandlungsansätzen. Nahm man vorher Kranke, so Jon Yoo, als Subjekte wahr, die zu ihren Familien zurückkehrten, wenn die akuten Symptome verschwunden waren, habe die moderne Medizin sie hingegen zu Untersuchungsobjekten gemacht, die interniert werden mussten.

Kapitel 2 handelt von der Entstehung und dem Wandel der koreanischen Psychiatrie, wobei zwischen Missionsspitälern und Institutionen der japanischen Kolonialmacht unterschieden wird. Da der Schwerpunkt der Missionsspitäler auf der Heilung von Körper und Seele lag, versuchten christliche Missionare bei der Behandlung psychisch Kranker, Religion und Medizin miteinander zu verbinden. In den Kliniken der Kolonialregierung – 1913 wurde die erste psychiatrische Abteilung eröffnet – konzentrierte sich das medizinische Personal demgegenüber zunehmend auf Diagnose und Forschung. Die Entscheidung der Kolonialregierung, keine Ressourcen für die Versorgung psychisch Kranker bereitzustellen, hatte schwerwiegende Folgen: Die koreanische Bevölkerung brachte psychiatrische Institutionen nicht mit Behandlung, sondern mit Untersuchung und Disziplin in Verbindung.

Kapitel 3 befasst sich mit emotionalen Zuständen, die Koreaner für ihre sozialen Beziehungen, Erfahrungen und lokalen Kontexte typisch hielten. Jon Yoo zeigt, dass anormale Verhaltensweisen fehlgeschlagenen emotionalen Zuständen zugeschrieben wurden, beispielsweise einem Mangel an emotionaler Bindung oder fehlendem Taktgefühl, das starke Wut oder Scham hervorrief. Diese Konstrukte waren tief in der koreanischen Kultur verwurzelt, erhielten aber im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss des japanischen Kolonialismus, neuen psychiatrischen Wissens, der Entstehung einer modernen bürgerlichen Kultur und eines zunehmenden Individualismus neue Bedeutung und Relevanz. Yoo arbeitet drei Gruppen von Personen heraus, die psychisch als besonders vulnerabel galten: Arme, Frauen (vor allem junge Ehefrauen und Mütter) und männliche koreanische Schüler. Er kommt zu dem Schluss, dass Koreaner sehr große Probleme damit hatten, zwischen verschiedenen, oft widersprüchlichen emotionalen Regimes zu navigieren.

Kapitel 4 analysiert den Diskurs über psychische Krankheit. Um die öffentliche Gesundheit zu regulieren, wurden unter der japanischen Kolonialherrschaft erstmals moderne Formen der Überwachung angewandt. Im Zentrum des Kapitels steht das Zusammenspiel zwischen wissenschaftlichem Wissen und den sozialen Imperativen einer kolonisierten, sich modernisierenden Nation, die darauf abzielte, störende Elemente der Bevölkerung zu kontrollieren. Der koreanische Gouverneursgeneral berichtete zwischen 1910 und 1942 von gut 54.000 Suiziden. Während solche Statistiken in der koreanischen Bevölkerung zu einem Krisengefühl führten, betrachteten die Kolonialbehörden den Anstieg der Suizidrate als einen Indikator dafür, dass ihr Modernisierungsprojekt funktionierte. Aus ihrer Sicht waren Suizide ein Nebenprodukt des Wandels, dem sich Korea unterziehen musste. Die Medien wiederum verstanden Suizide als typisches Zeichen für die tragischen Folgen der kolonialen Moderne, die die wirtschaftlichen Bedingungen und die koreanischen Sitten (vor allem im Bereich der Ehe und Familie) veränderten.

Der Epilog analysiert einen Aufsehen erregenden Mordfall: 1933 fand man in Seoul den abgetrennten Kopf eines Kleinkindes. In den Medien wurde täglich über die Ermittlungen des Verbrechens berichtet. Die zeitgemäß scheinenden Hypothesen – der Mord sei entweder der Racheakt einer eifersüchtigen Ehefrau oder Konkubine oder von einem psychisch Kranken begangen worden, der kleine Kinder entführe und umbringe – führten allerdings in die Irre. Aufgedeckt wurde der Mord erst, als die Polizei einem Gerücht nachging, das Verbrechen stehe mit einem schamanischen Heilungsritual in Zusammenhang. Der Epilog ist der Höhepunkt der Studie, weil es dem Autor hier mehr oder weniger gelingt, zumindest einen Teil der heterogenen Stränge zusammenzubringen, die er in seinem Buch verfolgt. Warum so viele Zeitepochen (von 1400 bis zur Gegenwart) und Quellen analysiert werden, deren Zusammenhang mit dem Thema Wahnsinn bei der Lektüre nicht unbedingt klar wird, zeigt sich erst am Beispiel des Mordfalls. Hier wird Yoos einleitend formulierte, durchaus einleuchtende These einsichtig, dass sich die verschiedenen Bedeutungsschichten von Wahnsinn in Korea überlagerten und nach wie vor miteinander zusammenspielen.

Die Klammer, die das Buch zusammenhalten soll, ist der Wahnsinn. „Madness“ taucht in jeder Kapitelüberschrift auf. Nur: Wenn es tatsächlich in jedem Kapitel um Wahnsinn geht, müsste dann nicht das Etikett an sich problematisiert werden? Wird alles unter demselben Begriff subsumiert, liegt es auf der Hand, dass Wahnsinn im Schamanismus etwas anderes meint als für christliche Missionare, die während der Kolonialzeit eine psychiatrische Versorgung aufbauten, dass in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts andere emotionale Ausnahmezustände zur Sprache kommen als in Sensationsberichten der Massenpresse. Aus Sicht einer westeuropäischen Historikerin wäre es deshalb gewinnbringender, möglichst genau herauszuarbeiten, was Wahnsinn im jeweiligen Kontext meinte, und allfällige Verbindungen zwischen verschiedenen Bedeutungen zu analysieren, als Versatzstücke aus sechs Jahrhunderten zu präsentieren und zu postulieren, dass irgendwie alles mit allem zusammenhängt.

Um Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit oder Wahnsinn geht es auch in Nina Salouâ Studers Buch, allerdings für einen anderen geographischen Raum – den Maghreb – und eine viel kürzere Zeitperiode, die sich vom Ende des 19. Jahrhunderts bis Anfang der 1960er-Jahre erstreckt und damit die Jahrzehnte umfasst, in denen die französische Kolonialpsychiatrie in Nordafrika am aktivsten war. Die Geschichte muslimischer Psychiatriepatientinnen, die Studer vorranging interessiert, ist bisher noch kaum erforscht. Im Unterschied zu Yoos Studie handelt es sich hier um eine geschichtswissenschaftliche Qualifikationsarbeit, die einen ausführlichen Anmerkungsapparat und einen umfangreichen Anhang mit Kurzbiographien verschiedener Kolonialpsychiater, Statistiken und Grafiken aufweist und durch ein Glossar und ein Register abgeschlossen wird.

Studer zeigt, dass es für Psychiater noch erheblich schwieriger war, Wahnsinn und Gesundheit voneinander abzugrenzen, wenn Ärzte und Patienten nicht aus demselben Kulturraum stammten. Nochmals komplexer schien ihnen die Frage, welche muslimischen Frauen als krank gelten mussten und unter welchen Störungen sie eigentlich litten. Das Buch geht deshalb der Frage nach, welche muslimischen Frauen in den Blick der französischen Kolonialpsychiatrie kamen, über welche publiziert wurde und welche ‚verborgen‘ blieben.

Die Frage, ob spezifisch nordafrikanische Formen des Wahnsinns existierten, wurde in einem breiten Spektrum französischer Schriften diskutiert: von rechtlichen und medizinischen Fachartikeln über Publikationen von Wissenschaftlern, die sich an ein breites Publikum wandten, bis zur Kolonialpresse, gesellschaftsanthropologischen und literarischen Texten. Studer analysiert vor allem Texte von Kolonialärzten und Psychiatern, die sich an ihre Fachkollegen richteten. Sie geht den Stimmen muslimischer Frauen nach, den medizinischen und orientalistischen Topoi in der Behandlung und Beschreibung muslimischer Patientinnen, den Einflüssen breiterer politischer und wissenschaftlicher Theorien auf diese Topoi sowie der Frage, wie sich Topoi und Theorien im Laufe der Zeit veränderten.

Das Interesse der französischen Kolonialpsychiatrie im Maghreb kann grob in zwei Phasen eingeteilt werden. Zwischen 1845 und den 1930er-Jahren wurden europäische und muslimische Patienten aus dem Maghreb in erster Linie in französische Anstalten gebracht. In den 1930er-Jahren wurden die ersten psychiatrischen Anstalten für muslimische Patienten im Maghreb gebaut, Psychiater begannen zunehmend, in Nordafrika zu studieren und zu arbeiten. Der Einfluss der Kolonialpsychiater wuchs deshalb und in den 1940er- und 1950er-Jahren gelang es der so genannten „École d’Alger“ sogar, den psychiatrischen Diskurs in Frankreich zu dominieren.

Das Buch enthält fünf thematisch gegliederte Kapitel, die auf die verschiedenen Stadien psychiatrischer Institutionalisierung im Maghreb eingehen und den Weg muslimischer Frauen durch diese Institutionen verfolgen. Kapitel 1 konzentriert sich auf die französischen Konzepte von weiblicher muslimischer Normalität und diejenigen muslimischen Frauen, die von den Institutionen der Kolonialpsychiatrie ausgeschlossen waren. Es zeigt, dass die Vorstellungen, die die Kolonialpsychiater von der nordafrikanischen Gesellschaft hatten, nicht nur die Behandlungen und Texte über muslimische Patientinnen beeinflussten, sondern auch die Erklärungen, weshalb die Zahl solcher Patientinnen so klein war. Kapitel 2 geht den Mechanismen nach, aufgrund derer muslimische Frauen in die Institutionen der Kolonialpsychiatrie eintraten. Es untersucht, wer aus welchen Gründen zur Patientin wurde und wie sich diese Selektionsmethoden auf die Wahrnehmung auswirkte, die Muslime von der französischen Psychiatrie hatten. Kapitel 3 behandelt diejenigen muslimischen Patientinnen, die in französischen Anstalten aufgenommen wurden, und vergleicht deren Diagnosen, Heilungsquote und Todesrate mit denjenigen anderer Patientengruppen. Ziel ist dabei zu überprüfen, ob es für die Aussagen, die Kolonialpsychiater über muslimische Patientinnen, deren Symptome und Diagnosen machten, eine statistische Evidenz gab. Kapitel 4 untersucht, wie muslimische Patientinnen in den kolonialen Institutionen behandelt wurden. Kam es zu medizinischen Therapien? In welcher Reihenfolge wurden diese angeordnet? Lassen sich Unterschiede zu anderen Patientengruppen feststellen? Kapitel 5 verfolgt die Frage, weshalb gewisse Diagnosen, die in Europa verbreitet waren, bei muslimischen Frauen nicht gestellt wurden.

Der Titel „The Hidden Patients“ spielt auf drei Faktoren an. Erstens kommen muslimische Patientinnen in den untersuchten Quellen kaum vor, obschon es in den kolonialen Institutionen durchaus solche Patientinnen gab. Der Fokus der Kolonialpsychiatrie lag auf den Themen krimineller Wahnsinn und muslimische Normalität, was nach Studer dazu führte, dass die klinische Realität verzerrt dargestellt wurde und gewisse Themen kaum zur Sprache kamen. Zweitens wurde die tiefe Zahl muslimischer Patientinnen von den Kolonialpsychiatern gerne damit erklärt, dass es für ehrbare muslimische Familien undenkbar war, ihre Frauen in einem „gemischten“ Spital unterzubringen, wo sie im wörtlichen Sinn von Männern entschleiert, untersucht und behandelt worden wären. Drittens stellten französische Psychiater in der späten Kolonialzeit die These auf, primitive muslimische Gesundheit sei muslimischem Wahnsinn zu ähnlich, als dass letzterer für sie erkennbar sei.

„The Hidden Patients“ kritisiert den zeitgenössischen akademischen Diskurs über muslimische Frauen im kolonialen Maghreb und die Art und Weise, wie psychiatrisches Wissen über weibliche Vernunft und psychische Gesundheit hergestellt wurde. Studer macht den französischen Kolonialpsychiatern drei Vorwürfe: die Fokussierung auf eine muslimische Normalität, die blinden Flecken des akademischen Wissens und den Graben zwischen diesem Wissen und der medizinischen Praxis. Studer wertet allerdings in ihrem Buch nicht nur,2 sie vertritt auch bestimmte – aus Sicht der Rezensentin problematische – Vorstellungen, welche Art von Wissen wie konstituiert werden soll, um als ‚wirkliches‘ Wissen zu gelten. Nimmt man die neuere Forschung zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte und der europäischen bzw. angelsächsischen Psychiatrie auf, stellen sich folgende Fragen: Wann und wie wird in der Medizin oder der Psychiatrie welche Art von Wissen produziert? Wie wird der Zusammenhang zwischen Wissen und Erfahrung konzipiert? Und wie lässt sich auf Basis welcher Quellen herausarbeiten, auf welche Weise Differenzkategorien wie Geschlecht, Ethnizität, Religionszugehörigkeit, Bildungsstand oder ökonomischer Status interagierten, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen?

Die Studien von Yoo und Studer zeigen, dass die Geschichte des Wahnsinns ein breites Feld ist – erst recht, wenn unterschiedliche Zeitepochen, geographische Räume und Kulturen berücksichtigt werden sollen, ohne die Ergebnisse und theoretisch-methodischen Diskussionen in verschiedensten Forschungsbereichen zu vernachlässigen. Es gibt also noch viel zu tun.

Anmerkungen:
1 Korea wurde 1905 japanisches Protektorat und war 1910–1945 eine Kolonie Japans.
2 Vgl. beispielsweise den letzten Satz des Fazits: „The shortcoming of colonial psychiatry was a failure to perceive the presence of Muslim women […].“ (S. 247)