P. Schölnberger: Das Anhaltelager Wöllersdorf 1933–1938

Titel
Das Anhaltelager Wöllersdorf 1933–1938. Strukturen – Brüche – Erinnerungen


Autor(en)
Schölnberger, Pia
Reihe
Politik und Zeitgeschichte 9
Erschienen
Wien 2015: LIT Verlag
Anzahl Seiten
427 S.
Preis
€ 54,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Eminger, Referat für Zeitgeschichte, Niederösterreichisches Landesarchiv

Sie war ein oft beklagtes Desiderat der österreichischen Zeitgeschichtsforschung: die kritische Darstellung des weitaus größten und am längsten bestehenden Anhaltelagers der bürgerlichen Diktatur im Österreich der 1930er-Jahre.1 Tausende Männer – Nationalsozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten – wurden hier festgehalten. Das im Herbst 1933 eröffnete Lager Wöllersdorf steht emblematisch für den repressiven Charakter des Regimes; die parteipolitisch gespaltene Erinnerung daran sorgt bis heute für Kontroversen in der Alpenrepublik.

Die vorliegende Arbeit ist die Druckfassung der 2012 an der Universität Wien approbierten Dissertation der Autorin. Sie ist in drei Abschnitte gegliedert und schließt mit einer Darstellung des Umgangs mit dem Lager im kollektiven Gedächtnis der Zweiten Republik. Im Fazit diskutiert die Autorin die Einordnung des Anhaltelagers in die Geschichte der Lager des 20. Jahrhunderts. Der erste Teil der Studie rekapituliert die politischen Rahmenbedingungen der Lagereröffnung und untersucht die Rechtsgrundlagen der Anhaltung. Der zweite und umfangreichste Teil widmet sich der Anhaltepraxis. Darin werden Lebensbedingungen und Erfahrungen der Angehaltenen sowie das Verhältnis zwischen Wachmannschaften und Häftlingen analysiert. Der dritte Teil der Arbeit beleuchtet die Lagererfahrungen der wichtigsten politisch geschiedenen Häftlingsgruppen. Ein wichtiger Aspekt gilt darüber hinaus dem Vergleich mit dem KZ Dachau in NS-Deutschland, das etwa sechs Monate vor Wöllersdorf eröffnet worden war.

Gesetzliche Grundlage für die Einweisung nach Wöllersdorf war die Anhalteverordnung vom 23. September 1933. Sie sah die „Verhaltung sicherheitsgefährlicher Personen zum Aufenthalte in einem bestimmten Orte oder Gebiete“ (S. 13) vor. Der Kreis der Betroffenen war weit gefasst. Er umfasste Personen, die als Regimegegner galten oder der Gegnerschaft nur verdächtig waren, ohne sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht zu haben. Darüber hinaus inkludierte er Personen, die wegen politischer Delikte bereits polizeilich und strafgerichtlich abgestraft worden waren. Durch die Anhaltung wurden diese ein drittes Mal bestraft.

Präzise arbeitet die Studie die Unterschiede zwischen dem Anhaltelager der Regierungsdiktatur und den Konzentrationslagern in Deutschland heraus. Das Anhaltelager war keine „totale Institution“ in einer Sphäre eigenen Rechtes, wo Terror, Misshandlung und mörderische Zwangsarbeit zum Alltag zählten. Die Lagerkommandantur unterstand dem Staatspolizeilichen Büro im Innenministerium und hatte keine selbständige Entscheidungsbefugnis. Kontakte zwischen innen und außen sowie zwischen den politisch unterschiedlichen Häftlingsgruppen im Lager waren immer möglich, körperliche Übergriffe von Wachen auf Häftlinge selten. Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung waren annehmbar. Arbeiten mussten im Lager nicht zu allen Zeiten und auch dann nur von einem Teil der Angehaltenen verrichtet werden.

Die relativ guten Haftbedingungen dürfen über die oft sehr belastenden Auswirkungen der Anhaltung nicht hinwegtäuschen. Es gab Häftlingsproteste in Form von Hungerstreiks und Suizidversuchen. Für den sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Rudolf Posch kam jede Hilfe zu spät. Er erhängte sich am Rohr einer Wasserspülung. Die Ungewissheit über die Dauer der Anhaltung machte vielen Häftlingen sehr zu schaffen. Dazu kamen der Verlust des allenfalls vorhandenen Arbeitsplatzes durch die Abwesenheit und der Entfall des Einkommens für die Familie.

Die Bewachung oblag Gendarmerie, Bundesheer und ehemaligen Paramilitärs des Freiwilligen Schutzkorps. Letztere waren für ihre mitunter gehässige Strenge gegenüber den Internierten bekannt. Da sich auch Zwistigkeiten zwischen ihnen und den anderen Bewachungskörpern häuften, wurden sie Mitte 1934 abgezogen. Die relativ häufigen geglückten Fluchten aus Wöllersdorf verwiesen auf „schlampige Zustände“ im Lager (S. 250) und auf Fälle von Komplizenschaft zwischen Gendarmen und nationalsozialistischen Häftlingen. Für die pauschal behauptete NS-Sympathie der Gendarmen (S. 182) fehlen aber empirische Belege. Besonders bemerkenswert ist der Befund, dass im Gegensatz zur rechtslastigen Praxis der Justiz die Behandlung linker und nationalsozialistischer Häftlinge durch die Wachmannschaften in Wöllersdorf ähnlich gewesen sein dürfte. Allerdings wurde die Anhalteverordnung gegen eine Gruppe der Linken weiter ausgelegt, als auf jede andere Häftlingskategorie. Als „Februarkämpfer“ wurden vielfach auch Sozialdemokraten in Anhaltelager verbracht, die sich in keiner Weise an den Kampfhandlungen beteiligt hatten. Die einzige Begründung für die Anhaltung lautete, dass sie eine führende Stellung in der Partei innegehabt hatten, als diese noch legal existiert hatte.

Am 17. Oktober 1933 kamen die ersten Häftlinge in Wöllersdorf an. Es waren Nationalsozialisten aus der Steiermark; unter ihnen die einzige Frau, die je in Wöllersdorf inhaftiert war. Sie war nur wenige Tage im Lager. Nach dem Bürgerkrieg zwischen Regime und dem illegalen Republikanischen Schutzbund im Februar 1934 füllte sich das Lager mit Sozialdemokraten. Mitte Juli desselben Jahres unternahmen die Nationalsozialisten einen missglückten Putschversuch, bei dem Bundeskanzler Dollfuß ermordet wurde. Danach waren die NS-Anhänger in Wöllersdorf deutlich in der Überzahl. Die Belagstärke erreichte mit mehr als 5.000 Häftlingen ihren Höchststand.

Das Regime erwartete weitere Terrorwellen und vergrößerte das Lager. Im Februar 1935 umfasste es auf einer Gesamtfläche von etwa 450.000 Quadratmetern drei Teillager mit über vierzig Objekten. Doch die neuen Gebäude wurden nicht gebraucht. Der Großteil der Sozialdemokraten war zermürbt, die Nationalsozialisten waren durch den gescheiterten Putsch vorübergehend geschwächt. Auch aus Gründen der Imageverbesserung entschied sich das Regime nun für mehrere Begnadigungswellen; bei der Amnestierung von Nationalsozialisten spielte zusätzlich der Wunsch nach Verbesserung der Beziehungen zu NS-Deutschland eine Rolle. Im Sommer 1935 befanden sich nur noch 400 Angehaltene in Wöllersdorf. Das Juliabkommen zwischen Österreich und dem Deutschen Reich 1936 brachte eine weitere Reduzierung der nationalsozialistischen Häftlinge. Später wurden allmählich auch Linke entlassen. Anfang 1937 war der Häftlingsstand auf 45 Personen gesunken. Das Diktat Hitlers in Berchtesgaden am 12. Februar 1938 leitete das Ende des Anhaltelagers ein. Sechs Tage später war das Lager leer.

Die schwierige Frage nach dem Verhältnis der Häftlingsgruppen zueinander muss die Autorin vorerst offen lassen. Ob es etwa zu Annäherungen oder gar zur Bildung einer „Schicksalsgemeinschaft“ zwischen Linken und Nationalsozialisten in Wöllersdorf kam, ist weiterhin ungewiss. Fest steht lediglich, dass der Aufenthalt in Wöllersdorf vielfach eine Festigung des ideologischen Zusammenhaltes der jeweiligen regimegegnerischen Gruppierung zur Folge hatte. Die Diktatur machte sich darüber bald keine Illusionen mehr.

Angesichts der Tatsache, dass längere Haftzeiten in Wöllersdorf vom NS-Regime mit der höchsten Parteiauszeichnung belohnt wurden, verwundert der relativ milde Umgang mit den Lagerkommandanten in der NS-Zeit. Nur zwei von ihnen kamen ins KZ Dachau, wurden aber noch während der NS-Zeit wieder entlassen. Die übrigen wurden pensioniert.

Problematisch war der Umgang der Zweiten Republik mit der Frage der Anerkennung von Opfern der Diktatur vor 1938 und der NS-Terrorherrschaft. So wurden etwa die beiden Lagerkommandanten von Wöllersdorf, die deshalb in KZ-Haft gewesen waren, ebenso wie ihre ehemaligen Häftlinge nach dem Opferfürsorgegesetz als „Opfer des Kampfes um ein freies, demokratisches Österreich“ anerkannt. Daneben kam es auch zu einer völlig unangemessenen Gleichsetzung der Anhaltelager mit nationalsozialistischen Vernichtungslagern, die das Schicksal rassisch Verfolgter grob relativierte. „Wöllersdorf war nicht Auschwitz“, musste daher der Politikwissenschaftler Anton Pelinka in der sozialistischen Programmzeitschrift „Die Zukunft“ 1970 klarstellen (S. 357).

Pia Schölnberger hat ein akribisch recherchiertes, informatives und überzeugend gegliedertes Buch vorgelegt. Die gut lesbare Arbeit besticht durch das hohe Niveau der Quellenkritik, was etwa bei der Dekonstruktion der je nach Häftlingsgruppe unterschiedlichen „Wöllersdorf-Narrative“ (S. 186–191) besonders eindrucksvoll unter Beweis gestellt wird. Die konsequente Vermeidung einer statischen Betrachtung ermöglicht eine differenzierte Bewertung der viereinhalbjährigen Lagergeschichte. Zu den großen Verdiensten des Buches zählen ferner der kompakte Überblick über Exekutive und legistische Instrumentarien der Diktatur, die vergleichende Perspektive zum KZ Dachau, die Heranziehung internationaler Presse- und Kommissionsberichte und die gewinnbringende Analyse der erstaunlich zahlreich vorhandenen Erinnerungsliteratur ehemaliger Häftlinge. Manchmal geht der enorme Materialreichtum auf Kosten von Orientierung und Analyse. Mehr resümierende Passagen hätten hier Abhilfe geschaffen. Im dritten Teil führt die ausführliche Darstellung der illegalen Bewegungen und des Juliabkommens von 1936 phasenweise zu weit weg vom Thema.

Diese kleinen Einwände können den positiven Gesamteindruck der verdienstvollen Arbeit nicht trüben. Das Buch beseitigt nichts weniger als ein Desiderat und liefert der immer noch emotional geführten Diskussion über den Charakter des Herrschaftssystems 1933–1938 neue Erkenntnisse. Zeithistoriker/innen wie andere Geschichtsinteressierte werden der Autorin dankbar sein.

Anmerkung:
1 Maßgeblich war bislang Gerhard Jagschitz, Die Anhaltelager in Österreich, in: Ludwig Jedlicka / Rudolf Neck (Hrsg.), Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927 bis 1938, Wien 1975, S. 128–151; rezente Arbeiten in Aufsatzform liegen vor von Kurt Bauer, Zum Entstehen der Anhaltelager 1933/34, in: Ingrid Böhler u.a. (Hrsg.), 7. Österreichischer Zeitgeschichtetag. 1968 – Vorgeschichten – Folgen. Bestandsaufnahmen der österreichischen Zeitgeschichte, Innsbruck u.a. 2010, S. 825–836; ders., Die Anhaltehäftlinge des Ständestaates (1933–1938), <http://www.lbihs.at/Bauer_Anhalteprojekt_Infos.pdf> (19.02.2016).

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