A. Woldan u.a. (Hrsg.): Ivan Franko und die jüdische Frage in Galizien

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Titel
Ivan Franko und die jüdische Frage in Galizien. Interkulturelle Begegnungen und Dynamiken im Schaffen des ukrainischen Schriftstellers


Herausgeber
Woldan, Alois; Terpitz, Olaf
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
135 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephanie Weismann, Universität Wien

Der Antisemitismus, die Ukraine und Österreich – ein dankbares Thema für unerschöpfliche Konflikte. Dem „ukrainischen Nationalschriftsteller“ Ivan Franko (1856–1916) wird in Wien an zwei Stellen die Ehre erwiesen. Zum einen in Form einer Büste vor der ukrainischen Kirche Sankt Barbara (seit 2013), zum anderen mit einer Gedenktafel an der Universität Wien, an welcher der Autor 1893 promoviert hatte (seit 1993). 2013 wurde Franko von der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG) des Antisemitismus bezichtigt, mit journalistischer Unterstützung der österreichischen Wochenzeitschrift Profil. Beanstandet wurde, weshalb einer solch zweifelhaften Person ein akademischer Ehrenplatz zugebilligt wird. Der zur Rezension vorliegende Sammelband „Ivan Franko und die jüdische Frage in Galizien“ ist das Ergebnis einer Konferenz, welche 2013 an der Universität Wien organisiert wurde, um diese Vorwürfe wissenschaftlich zu diskutieren und zu prüfen. Anliegen der Tagung mit internationalen Franko-Spezialisten war es, die medial ausgeschlachteten antijüdischen Textstellen zu kontextualisieren sowie Widersprüchlichkeiten bei Franko aufzuzeigen.

Dass sich diese Franko-Debatte an einer Büste bzw. Gedenktafel entfacht hat, ist symptomatisch, geht es doch hier vor allem um die Problematik der unterschiedlichsten Vereinnahmungen von Ivan Franko. Die bekanntermaßen schwierige und verwickelte Rezeptionsgeschichte Frankos, die im Kontext der aktuellen Vorwürfe besonders interessant wäre, wurde – dies sei vorausgeschickt – in diesem Band leider nicht behandelt.

Auf welche konkreten Vorwürfe die Konferenzteilnehmer reagierten, geht lediglich aus dem Beitrag von Yaroslav Hrytsak hervor, welcher direkt auf das Schreiben des Generalsekretärs der IKG eingeht. Insgesamt hat man sich in diesem Band um eine umfassende Beleuchtung des widersprüchlichen Schriftstellers bemüht – in Reaktion auf die geäußerten Vorwürfe: dies gibt dem Sammelband einerseits den thematischen Rahmen vor, andererseits beschränkt er ihn damit auf Stellungnahmen mit Hang zur Rechtfertigung. Die Beiträge belegen jedoch insgesamt überzeugend, wenn auch größtenteils auf textuelle Kleinarbeit um Frankos „Boryslaver Zyklus“ konzentriert, die Vielseitigkeit und eben deshalb auch Ambivalenz des Autors. Einigkeit besteht in allen Beiträgen des Sammelbandes darüber, dass es sich bei Franko um eine schwer zu fassende Persönlichkeit handelt, deren Ambivalenz sich nicht nur hinsichtlich der Frage nach Antisemit oder Judenfreund schwer fassen lässt. Zu vielseitig und widersprüchlich schrieb und wirkte Franko, ganz abgesehen vom schieren Umfang seines Oeuvres. Die Beitragenden sind sich außerdem einig, dass die Textstellen, auf denen die Vorwürfe der IKG basieren, tendenziös extrahiert wurden. Außerdem weisen sie mehrmals darauf hin, dass diese einem literarischen Werk mit notwendigerweise fiktivem Charakter entstammen. Dass die Ansichten einfacher ukrainischer Bauern des 19. Jahrhunderts in den Erzählungen nicht unbedingt die Meinung des Autors widerspiegeln (Yaroslav Hrytsak, Alois Woldan), ist einleuchtend.

Franko war jedoch mehr als nur Schriftsteller. Er wirkte daneben als Übersetzer aus und in mehrere Sprachen, als Wissenschaftler, Literaturhistoriker, Publizist und politischer Aktivist, zudem zwangen Franko auch ökonomische Gründe zu lebhafter Produktion (George Grabowicz). Als bekennender Sozialist hatte Franko aber auch eine politische Agenda, die in die literarische Beschreibung der Ölarbeiter im galizischen Boryslav einfloss. Franko verfasste unter anderem sozialistisch engagierte Literatur und verteidigte hierbei die Interessen von (ukrainischen) Bauern und galizischen Arbeitern. Die bei Franko thematisierte Opposition zwischen ukrainischen Ölarbeitern und jüdischem Kapital mag stereotype Züge tragen, reflektiert jedoch im Kontext Galiziens und seines Ölgeschäfts zum Teil lokale Sozialstrukturen und ist deshalb auch Teil von Frankos sozialistischer Agenda. Massive Kritik an Kirche und Klerus findet hier übrigens genauso ihren Platz (G. Grabowicz, A. Woldan).

Die Autoren des Sammelbandes betonen außerdem etliche differierende Versionen eines Werks, signifikante Umarbeitungen, darüber hinaus Frankos journalistische Arbeiten, die auf aktuelles Tagesgeschehen reagierten und damit naturgemäß eine Menge an widersprüchlichen Positionierungen generierten (Y. Hrytsak). Diese Problematik wird in diesem Sammelband hinreichend aufgezeigt. Überzeugend wird festgehalten, dass Frankos antijüdische Äußerungen kurzlebig, tages- und umstandsabhängig waren, jedoch keinerlei ideologische Entwicklung belegen (Y. Hrytsak). Franko sei also keineswegs ein programmatischer Antisemit, zu Lebzeiten wurde er vielmehr als programmatischer Philosemit wahrgenommen.

Was der Sammelband ebenfalls anspricht (Jevhen Pshenychnyj, Wolf Moskovich, Roman Mnich), ist die Tatsache, dass sich niemand in dieser Region so viel mit jüdischer Thematik auseinandergesetzt hat wie Franko. Seine Beziehung zu jüdischen Persönlichkeiten und Literaturschaffenden sind unter diesen Umständen aufschlussreicher als die Auseinandersetzung um die endlose Frage „welche antisemitischen Stereotype finden wir bei Franko?“. Franko war wahrscheinlich der erste nicht-jüdische Galizier, der Theodor Herzls „Judenstaat“ 1896 rezensiert hatte, ein Werk, das ihn zu seinen eigenen Überlegungen zu einem unabhängigen ukrainischen Staat anregte. Dies betont der Beitrag von W. Moskovich, der sich der Analogie zwischen dem russisch-jüdischen Schriftsteller und Zionisten Vladimir Zeev Jabotinsky und Ivan Franko widmet – zwei Persönlichkeiten, die sich offenbar nie trafen. Doch ergeben sich aus dem Vergleich interessante Parallelen hinsichtlich des Beitrags der beiden zur Formierung ihrer jeweiligen Nationalstaaten. W. Moskovich hält fest, dass Franko für seinen ukrainischen Weg maßgeblich von der jüdisch-zionistischen Idee inspiriert war, während sich kein jüdischer Autor vor Jabotinsky so stark mit ukrainisch-nationalen Angelegenheiten im russischen Zarenreich befasst hat.

Franko war ein typisches Kind Galiziens, als Mehrsprachiger1 war er vor allem als Vermittler tätig, unter anderem als Übersetzer und Herausgeber, darunter auch von jiddischer Literatur. Der Beitrag von J. Pshenichnyj erwähnt, dass sich Franko intensiv mit alttestamentarischen Themen2 sowie jüdischer (jiddischer wie hebräischer) Literatur befasste. Franko übersetze die Lyrik des jiddischen Dichters Wolf Ehrenkranz ins Ukrainische, druckte die Publikationen Hryts’ko Kernerenkos (Grigory Kerners), eines Übersetzers von Simon Frug und Scholem Aleichem aus dem Jiddischen, in seinem Literaturno-naukovyj vistnik ab, und veröffentlichte eigene Übersetzungen von jiddischen Volksreimen. Auch die Zusammenarbeit mit jüdischen Verlagen und Vertretern der zionistischen Bewegung schienen Frankos einzelne antisemitische Schriften nicht zu beeinträchtigen (R. Mnich). All dies wird in dem Band zwar angesprochen, jedoch wäre es höchst aufschlussreich gewesen, diesen Aspekt der Vermittlertätigkeit Frankos noch deutlicher auszuarbeiten und dem simplifizierten Vorwurf des ukrainisch-nationalistischen Antisemiten gegenüberzustellen.

Der Sammelband belegt überzeugend, dass es zu kurzsichtig und auch unbefriedigend ist, Franko lediglich zwischen Philosemitismus und Antisemitismus zu positionieren. Zu vielseitig und widersprüchlich wirkte und schrieb Franko. Jedoch bleibt der Band in seinem Eingehen auf die Vorwürfe der IKG zu sehr an Frankos Texten hängen. Dabei hätten eine deutlichere Thematisierung von Frankos eigener Vermittlungstätigkeit von jiddischer Literatur und seine Auseinandersetzung mit jüdischer Literatur und Geistesgrößen wie Theodor Herzl, Nathan Birnbaum sowie Wolf Ehrenkranz interessante Aspekte gerade im Rahmen des Antisemitismus-Vorwurfs ergeben. Darüber hinaus wäre gerade im Kontext der kritisierten Büste und Ehrentafel Frankos in Wien die Geschichte seiner Vereinnahmung(en) – zu Lebzeiten und über die Sowjetunion bis in die unabhängige Ukraine inklusive seiner Ausläufer nach Wien – aufschlussreich gewesen.

Anmerkungen:
1 Siehe Stefan Simonek, Ivan Franko und die Moloda Muza. Motive in der westukrainischen Lyrik der Moderne, Köln 1997.
2 Siehe auch Asher Wilcher, Ivan Franko and Theodor Herzl: to the Genesis of Franko’s „Mojsej“, in: Harvard Ukrainian Studies 6 (1982), S. 233–243.