Titel
Chimäre Europa. Antieuropäische Diskurse in Deutschland (1648-1999)


Autor(en)
Burgdorf, Wolfgang
Reihe
Herausforderungen, Historisch-politische Analysen 7
Erschienen
Anzahl Seiten
267 S.
Preis
Matthias Schnettger, Institut für Europäische Geschichte

Wolfgang Burgdorf ist kein Antieuropäer. Seine Absicht ist, eine neue Seite in der europabezogenen historischen Forschung aufzuschlagen, indem er der insgesamt gut aufgearbeiteten Geschichte der europäischen Einigungspläne die der Gegner dieser Bestrebungen gegenüberstellt. Dass er für diese Studie auf "keinerlei Vorarbeiten" habe zurückgreifen können (S. 18), mag eine kleine Übertreibung sein - natürlich hat die eine oder andere Publikation zu den europäischen Einigungsprojekten und ihrer Rezeption auch die Perspektive der Einigungsgegner berücksichtigt. Was Burgdorf aber leistet, und das ist keineswegs gering zu bewerten, ist eine zusammenfassende Darstellung und Analyse des antieuropäischen Diskurses, wie er sich in den letzten dreieinhalb Jahrhunderten entwickelte. Die Beschränkung auf Deutschland, die im übrigen auch nicht sklavisch eingehalten wird, ist bei einem so ehrgeizigen Vorhaben, mit dem sich der Frühneuzeitler Burgdorf weit ins 19. und 20. Jahrhundert vorwagt, verständlich und wohl auch sinnvoll.

Um es vorweg zu sagen: Burgdorf hat die Aufgabe, die er sich gestellt hat, überzeugend gelöst. Nach einem einführenden Abschnitt über "Die Grundlagen der europäischen Identität" verfolgt er in vierzehn im wesentlichen chronologisch, aber auch unter Berücksichtigung systematischer Gesichtspunkte angeordneten Kapiteln die Entwicklung der Argumentationsstrukturen, die zur Abwehr theoretischer oder praktischer Projekte einer Einigung Europas eingesetzt wurden. Sinnvollerweise liefert der Autor jeweils auch eine knappe Charakterisierung desjenigen Einigungsplans, gegen den die von ihm analysierten Einwände vorgebracht wurden. Überhaupt liegt in der insgesamt gelungenen Kontextualisierung der einzelnen antieuropäischen Äußerungen eine der besonderen Stärken des Buchs. Reizvoll sind aber auch die kurzen Ausflüge in die Gegenwart, die sich Burgdorf immer wieder erlaubt, um die Aktualität der von ihm geschilderten Diskussionen zu illustrieren.

Auf den ersten Blick etwas abrupt beginnt die eigentliche Darstellung mit den deutschen Abwehrreaktionen gegen das expandierende Frankreich Ludwigs XIV. Wenn auch der Begriff "Europa" für die französische Argumentation damals noch keine Rolle spielte, sieht Burgdorf mit der Anknüpfung an das fränkisch-römische Erbe und die Symbolfigur Karl des Großen auf der französischen Seite und dem Abrücken von den fränkischen und der Berufung auf die sächsischen Ursprünge auf der deutschen Seite erstmals Elemente, die den europäisch-antieuropäischen Diskurs in modifizierter Form zum Teil bis in die Gegenwart prägen. Auch die eine europäische Einigung ausschließenden Aspekte der Theorie vom Gleichgewicht der Kräfte werden erörtert. Dennoch hätte man sich hier eine intensivere Auseinandersetzung mit der älteren "Monarchia universalis"-Kritik gewünscht - die einschlägige Publikation Franz Bosbachs fehlt im Literaturverzeichnis.

Breiten Raum widmet Burgdorf den Reaktionen auf St. Pierres Projekt eines "Ewigen Friedens" von 1712, wobei neben den Gefahren einer "Friedhofsruhe" (z. B. Leibniz) und einer "Vereinigung der Despoten" zur Unterdrückung der Nationen (z. B. Forster, Rousseau) vor allem seine mangelnde Praktikabilität gegen den Entwurf des Abbé ins Feld geführt wurde. Mit dem Ende seines St. Pierre-Kapitels leitet Burgdorf zu dem Abschnitt seiner Arbeit über, der mit 7 von 17 Kapiteln den Löwenanteil seiner Darstellung ausmacht und der systematischen Analyse der antieuropäischen Diskurse im Zeitalter der Französischen Revolution, des Empire und der Befreiungskriege gewidmet ist. Während sich die Revolutionsfreunde angesichts einer sich andeutenden französischen Universalrepublik auf eine gemeinsame europäische Vergangenheit im Zeichen der "fränkischen Freiheit" beriefen (Kapitel 5), Napoleon von seinen Anhängern als wiedergeborener Karl der Große gefeiert (Kapitel 6) und ein "Ausbau des deutschen Reichstages zu einer gesamteuropäischen Institution, zu einer Art europäischem Staatenkongress" (S. 97), angedacht wurde, setzten die Gegner einer Vereinigung Europas unter französischer Hegemonie auf eine sächsisch-germanische Tradition mit den Symbolfiguren Hermann und Widukind, die zu Vorläufern im Kampf gegen eine römisch-fränkische/romanisch-französische Bedrohung hochstilisiert wurden (Kapitel 8) - Parallelen zur Zeit Ludwigs XIV. sind unübersehbar.

Neben dem konfessionellen Moment spielte auch die Angst vor dem Verlust der für Europa typischen Vielfalt eine Rolle. Nach den Befreiungskriegen entstand ein von Friedrich von Gentz als "Föderativsystem" charakterisiertes europäisches Staatensystem (S. 129), das sich zwar gegen eine gewaltsame Einigung Europas wandte, aus den Erfahrungen der napoleonischen Epoche aber insofern Konsequenzen zog, als auch ohne einen institutionalisierten europäischen Rat ein "wohletablierter Konsultations- und Interventionsmechanismus" (ebenda) geschaffen wurde, der dem Kontinent immerhin eine ungewöhnlich lange Friedenszeit bescherte, die - abgesehen von einigen Störungen - bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs dauerte. Einen besonderen Strang im antieuropäischen Diskurs vermag Burgdorf in der Diskussion der Völkerrechtslehrer zu erkennen, die nicht bereit waren, das Souveränitätsprinzip, dem sie einen überragenden Stellenwert einräumten, dem Ideal einer europäischen Einigung zu opfern - zumal diese in letzter Konsequenz das Ende ihrer Fachdisziplin bedeutet hätte.

Dem weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts erkennt Burgdorf keine besondere Bedeutung für die Entwicklung des Antieuropa-Diskurses zu, da es keine konkreten Einigungsprojekte mehr gab, auf die dieser hätte reagieren müssen. Allerdings spricht er dem sich entfaltenden Nationalismus antieuropäisches Potential zu. Die Wiederbelebung des Einigungsgedankens nach dem 1. Weltkrieg, rief auch die Einigungsgegner wieder auf den Plan. Eine strukturelle Problematik ist in der Existenz des Völkerbundes zu sehen, dessen Befürworter in einem geeinigten Europa eine Konkurrenz zu dieser Organisation sehen mussten. Aber es fanden sich auch zu jedem einzelnen Europaprojekt der Zwischenkriegszeit je nach seiner Ausrichtung spezifische Gegner. So stieß das Briand-Memorandum von 1930 auf den Widerstand der nationalistischen Rechten in Deutschland und lehnte die KPD auf Weisung Moskaus alle Zusammenschlüsse kapitalistischer Staaten ab.

Ausführlich diskutiert Burgdorf die Gründe für die Ablehnung des Paneuropa-Gedankens durch Fritz Hartung, der neben bekannten Argumenten wie der "Friedhofsruhe" auch neue Akzente setzte, indem er einen unvereinbaren Gegensatz zwischen dem durch die Aufklärung geprägten Westeuropa und dem in der Romantik wurzelnden deutschen Denken annahm und darauf hinwies, dass die Sorge vor der dominierenden Wirtschaftskraft Deutschlands als Integrationshindernis wirken könne (S. 183).

Eine auch nur einigermaßen einheitliche Europakonzeption der Führungsschichten von NSDAP und "Drittem Reich" gab es nicht, obwohl im Zuge des 2. Weltkriegs eine gewaltsame Einigung Europas unter der Hegemonie des "Großdeutschen Reichs" in greifbare Nähe zu rücken schien. Zwar spielte seit 1933 zunächst der Sachsenrekurs, verknüpft mit einem antichristlichen Germanenkult, eine bedeutende Rolle, er stieß aber nicht zuletzt bei Hitler selbst auf erhebliche Vorbehalte. Diese verstärkten sich nach dem Frankreichfeldzug 1940, als Versuche einsetzten, "Hitler als die Reinkarnation Karls des Großen zu inszenieren" (S. 197). Die Agonie des "Dritten Reiches" leitete mit ihrer Abendlandbegeisterung, die auch föderative Perspektiven einschloss und eine Verteidigung Europas gegen die bolschewistische Bedrohung beschwor, über zur Nachkriegsdiskussion. Diese knüpfte aber auch an die Europadebatte der Zwischenkriegszeit und darüber hinaus an ältere Argumentationslinien an. So lassen sich die Bedenken, die Großbritannien und die skandinavischen Staaten gegen einen Beitritt zu den Europäischen Gemeinschaften hegten, mit den drei "Ks" Olaf Palmes zusammenfassen: "Kapitalismus, Katholizismus und Kontinentalmächte" (S. 203). Wichtige neue Argumente waren - und sind - das angebliche Demokratiedefizit Europas, und, damit zusammenhängend, die Vorstellung, dass einem europäischen Bundesstaat die Basis eines europäischen Staatsvolks als Souverän fehlen würde. Damit leitet Burgdorf über zur aktuellen Diskussion über Erweiterung, Euro, europäischen Sozialstaat sowie gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den in diesem Kontext auszumachenden antieuropäischen Argumenten.

In seinem Resümee betont der Autor, dass es keine Kontinuität im Antieuropa-Diskurs gegeben habe, der vielmehr im 19. Jahrhundert abgerissen sei, nachdem die wesentlichen Argumentationsmuster bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt gewesen seien. Den Grund für diese mangelnde Kontinuität sieht er in dem reaktiven Charakter des Antieuropa-Diskurses, der immer dann (wieder) einsetzte, wenn aktuelle Einigungsprojekte einen Anlass dafür boten. Burgdorf schließt sein Werk mit der Feststellung: "Nicht ein künftiges einiges Europa ist die Chimäre, sondern die aus teilweise recht willkürlich zusammengesetzten Versatzstücken konstruierte Geschichte Europas und seiner Nationen. [...] Angesichts dieser Erkenntnis bedarf es eines steten Bemühens um eine weniger auf Mythen und mehr auf Empirie gestützte Geschichte Europas und seiner Bestandteile, welche in die Geschichte der mit Rückschlägen verbundenen Einigung Europas münden sollte. [...]"

Ein umfangreiches Literaturverzeichnis und ein Personenregister ergänzen das Werk. Schade, dass ziemlich viele Druck- und Flüchtigkeitsfehler stehengeblieben sind. Diese können aber den insgesamt überaus positiven Eindruck des durch Gedankenreichtum und ausgewogenes Urteil bestechenden Buches nicht wesentlich trüben.