J.D. Seidler: Die Verschwörung der Massenmedien

Cover
Titel
Die Verschwörung der Massenmedien. Eine Kulturgeschichte vom Buchhändler-Komplott bis zur Lügenpresse


Autor(en)
Seidler, John David
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralf Klausnitzer, Institut für deutsche Literatur, Humboldt-Universität zu Berlin

Dieses Buch nimmt sich viel vor. Titel und Klappentext der Veröffentlichung der von der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock angenommenen Dissertation annoncieren die umfassende Darstellung eines gesellschaftsgeschichtlich wie medienwissenschaftlich brisanten Themas: Nicht technische Verbreitungskanäle verschwörungstheoretischer Projektionen, sondern konspirationistische Reflexionen über Medien sollen in kulturhistorischer Perspektive bearbeitet werden; „erstmals“ werde so „systematisch Geschichte und Funktion der verschwörungstheoretischen Rede über Medien seit dem 18. Jahrhundert“ analysiert. Mit den historischen Eckpunkten „Buchhändler-Komplott“ und „Lügenpresse“ sind zugleich Markierungen gegeben, die einen vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart reichenden Diskursraum konstituieren und Erwartungen auf eine Rekonstruktion historischer Verlaufsformen des medienbezogenen Verschwörungsdenkens wecken. Doch die hochgespannten Erwartungen werden nachhaltig enttäuscht. Die vorliegende Arbeit hat den ursprünglichen Titel „Vorstellungsbilder von geheimem Wissen und medialen Strukturen in Verschwörungstheorien“ zugunsten der reißerischen Neuprägung aufgegeben, ohne freilich zu berücksichtigen, dass man schon etwas ausführlicher von den Dingen sprechen muss, die der Titel verspricht. Doch der nicht erst vom Reichspropagandaminister Joseph Goebbels gebrauchte und seit Pegida- und AfD-Umtrieben reaktivierte Terminus „Lügenpresse“ findet in der weiteren Untersuchung weder systematische noch historische Reflexionen.

In der umfänglichen Einleitung nimmt John David Seidler zunächst Explikationen der Zentralbegriffe vor. Verschwörungstheorien werden hier als Narrative definiert, deren Kennzeichen sei, „dass sie immer von einem sichtbaren und einem unsichtbaren, ‚geheimen’ Plot erzählen, wobei der unsichtbare Plot erst im sichtbaren Plot beziehungsweise dessen ‚Defekten’ lesbar wird“ (S. 40). Doch wer „erzählt“ da eigentlich wem und worüber? Wie wird ein „geheimer Plot“ festgestellt und „lesbar“ gemacht? Und welche Folgen hat die Visibilisierung verborgener Zusammenhänge für die Strukturen sozialer Selbst- und Fremdwahrnehmung? Gegen Seidler und thesenhaft verknappt ist hier an die mehrfach dimensionierten Relationen von Verschwörungstheorien zu erinnern: Als komplexe Szenarien, die sichtbare Zustände und Ereignisse monokausal auf heimliche Verabredungen personaler Akteure mit versteckten Intentionen zurückführen, inszenieren Verschwörungstheorien vielschichtige Beobachtungsverhältnisse und Enthüllungsnarrative. Sie bedienen sich medial konditionierter Darstellungsformen, die gattungs- und formtheoretisch zu untersuchen wären, was Seidler unterlässt. Und sie weisen eine prinzipielle semiotische Unabschließbarkeit auf: Wenn nichts ist, wie es scheint, erweist sich jedes Detail der sozialen Welt als bedeutungsvolles Indiz, das mit tendenziell selektionsloser Aufmerksamkeit wahrgenommen und mit universalem Misstrauen ausgewertet werden muss. Doch schon diese zentralen Parameter von Verschwörungstheorien spielen bei Seidler kaum eine Rolle; auf Fragen nach Strukturen, Referenzen und Zeichenökonomien bleibt die Arbeit die Antworten schuldig.

Auch die Explikation des zweiten Zentralbegriffs – „Massenmedien stellen Informationen und Wissen zu Verfügung und Öffentlichkeit her“ (S. 82) – bietet kaum heuristisch tragfähige Bestimmungen, zumal wenn ohne jede Erläuterungen von Formen und Formaten massenmedialer Informationsgenerierung und -verbreitung dekretiert wird: „Im Kontext dieser Arbeit genügt es, dabei zwischen zwei Formen zu unterscheiden, nämlich zum einen der Versammlungsöffentlichkeit und zum anderen der medial hergestellten Öffentlichkeit. Letztere ist nicht mehr an Präsenz gebunden und ermöglicht ‚Kommunikation unter Abwesenden’.“ (so lapidar und ohne weitere Nachweise S. 82f.) Statt zu erklären, wie Massenmedien kommunikativ operieren und als Filter von tendenziell unendlichen Nachrichten auftreten, um Geprüftes vom Ungeprüften, Nur-Gehörtes vom Selbst-Gesehenen, Übernommenes vom Selbst-Gedachten zu trennen und dabei unterscheidende und prüfende Umgangsformen ebenso zu entwickeln wie simulative Techniken zur Erzeugung von ‚Authentizität‘ und Unmittelbarkeit, fabuliert der Verfasser im Anschluss an den Medienphilosophen Boris Groys von der „narrativen Struktur verschwörungstheoretischer Erzählungen“ als „Abbild und Artikulation des medienontologischen Verdachts“ (S. 95). Dieser erwachse aus der Erfahrung der Differenz zwischen sichtbarer Medien-Oberfläche und invisiblen Produktions- und Distributionsprozessen im „submedialen Raum“, die der Vermutung Nahrung gebe, dass dieser „sich verbirgt, um seine schlechten, verschwörerischen Absichten nicht zu offenbaren“ (S. 91). Abgesehen von der unerklärten Bestimmung eines submedialen Raums: Welche Vermutungen generiert denn „der Betrachter“, über den Seidler im Kollektivsingular spricht? Und wie soll die erwartete Offenbarung des submedialen Raums vor sich gehen?

Vollends enttäuschen die nachfolgenden Untersuchungsabschnitte. So behauptet der Verfasser im ersten Teil zu Verschwörungstheorien um 1800, die „Erzählform Verschwörungstheorie entwickelt […] um 1789 zunächst im deutschsprachigen Raum die prototypischen Muster voll ausgeprägter moderner Verschwörungstheorie“ (S. 137). Dagegen weiß die historische Forschung spätestens seit der verdienstvollen Arbeit von Hans Graßl, dass die Initialzündung des modernen Konspirationismus von Frankreich ausging – und zwar von jener im Jahr 1755 in Paris veröffentlichten Enthüllungsschrift La réalité du projet de Bourg-Fontaine, demontree par l’execution des Jesuiten Henri Michel Sauvage, die in zahlreichen Übertragungen durch Europa zirkulierte.1 Schwerer entschuldbar ist hingegen die Blindheit gegenüber den deutschen Urhebern des modernen Konspirationismus, die zugleich Geburtshelfer der modernen Massenmedien waren. Nachhaltig irritierend ist dabei der Umstand, dass sich die publizistisch überaus aktiven Aufklärer als Organ und Speerspitze einer kritischen Öffentlichkeit verstanden – und dabei eine massenmediale Hysterie initiierten, von der wir uns heute nur noch schwer eine Vorstellung machen: Zahlreiche und aufeinander replizierende „Enthüllungen“ und „Verräterschriften“, aber auch vielseitige Beiträge in der Berlinischen Monatsschrift und anderen Periodika der Spätaufklärung beobachteten die als „Staat im Staat“ wahrgenommenen Geheimgesellschaften und erzeugten – angetrieben durch die Ausdifferenzierung einer Öffentlichkeit, die das Neue und Sensationelle präferierte – eine weitgehend phantasmatische Realität, in der auch die medialen Konstitutionsverhältnisse journalistischer Praktiken eine nicht unwichtige Rolle spielten. Zu rekonstruieren wären in diesem Zusammenhang die massenmedial verbreiteten Szenarien der Berliner Aufklärer um Friedrich Nicolai ebenso wie die Zirkulare des Arkanaktivisten und Übersetzers Johann Joachim Christoph Bode sowie des Illuminatenwerbers Adolph von Knigge, die mit zum Teil überbordender Kombinatorik eine kryptokatholische Verschwörung gegen Aufklärung und Protestantismus zu entlarven suchten und dabei eine als „Jesuitenriecherei“ bekannt gewordene Sozialneurose entwickelten. Die vorliegende Untersuchung aber beschränkt sich auf fünf Enthüllungsschriften aus dem konservativen Lager über den Illuminatenorden und masonische Geheimgesellschaften.

Wie wenig sich der Verfasser für konkrete Ausgestaltungen seines Untersuchungsgegenstandes interessiert, zeigen die nachfolgenden viel zu knappen „Quellenanalysen“. So behandelt Seidler die 1786 veröffentlichte Enthüllung des Systems der Weltbürgerrepublik von Ernst August von Göchhausen auf weniger als drei Druckseiten. Der bizarre Charakter des Textes wird nicht einmal in Ansätzen erfasst; belastbare Hintergrundinformationen fehlen, von Göchhausens Selbstverständnis als kompilierender Dokumentarist kein Wort. Seidler konzentriert sich allein auf einen Ausschnitt aus der Rede des in der Enthüllung in Szene gesetzten „fiktiven Freimaurermeisters“ (S. 145), um umstandslos zu konstatieren: „Die Rede enthält zwischen den Zeilen Elemente einer geradezu apokalyptischen Medientheorie. Denn die Freimaurer verdanken ihre offensichtliche Vormachtstellung einer Medienpolitik, die sich verschleierter Medienwirkungen bedient.“ (ebenda) Die Kennzeichen jener Medientheorie bleiben jedoch im Dunkeln, und auch für die starke These von der „offensichtlichen Vormachtstellung“ der Freimaurerei fehlen Belege. Kein Wunder: Spätestens seit dem Konvent von Wilhelmsbad 1782 befand sich die von zweifelhaften Systemschöpfern genarrte Arkangesellschaft im Niedergang; Konkurrenten wie der Orden der Gold- und Rosenkreuzer oder die Illuminaten (die ihrerseits versuchten, die Presse zu infiltrieren) verwirrten die Zeitgenossen nachhaltig. Eben diese Konfusion prägt auch den Text Göchhausens, der seine publizistischen Quellen übrigens selbst angegeben und damit auf mediale Hintergründe seines Szenarios verwiesen hatte. Den Voraussetzungen und Konsequenzen der von dieser Schrift ausgelösten „publizistischen Explosion“2 hätte Seidler nachgehen müssen, doch darauf verzichtet er zugunsten zirkulärer Aussagen: „Gemäß der Logik des Verschwörungsverdachts beschreibt der Text auch eine notorische Grundannahme jeder Medienreflexionen, nämlich dass sich hinter dem medialen ‚Welttheater’ etwas ganz anderes als das Offensichtliche verbirgt. Im hiesigen Falle verbergen sich hinter dem Medialen eben die Freimaurer, als ‚Zünglein an der Waage’ vom Rest der Menschheit nicht registriert.“ (S. 146) – Wer mit so breitem Pinsel malt, wird den Subtilitäten dieses konspirationistischen Szenarios kaum gerecht: Denn Göchhausens Enthüllung stellt eine komplexe intertextuelle Verknüpfungsleistung dar, in der divergierende Vorstellungs- und Motivkomplexe aus veröffentlichten Texte und internen Ordenszirkularen sowie aus Gesprächen, Gerüchten und Vermutungen collagiert und rhetorisch maximiert wurden. Um die Verdachtsmomente einer „apokalyptischen Medientheorie“ (S. 145) freizulegen, hätten die faktualen und fiktionalen Referenzen im Text ebenso rekonstruiert werden müssen wie seine Begriffs- und Metaphernkomplexe, unter denen die Prägungen „geheimes Laboratorium“ und „großer Plan“ hervorragen.

Ebenso vereindeutigend sind auch die von Seidler vorgeführten Umgangsformen mit der zweibändigen Ideengeschichte des Johann August Starck. So wird konstatiert, dieser sei „wohl überdeutlich als Medientheoretiker avant la lettre zu erkennen, denn Starck stellt ein mediales, letztlich gar medientechnisches Apriori ins Zentrum seiner Analyse“ (S. 166; Hervorhebung im Original). Mehr noch: „Warum die alte Ordnung gefallen ist, lässt sich dann auf die Mechanisierung des Buchdrucks zurückführen.“ (ebenda) Eine derart verkürzende Verzeichnung hat selbst ein konservativer Publizist wie Starck nicht verdient: Seine zweibändige Darstellung vermutete hinter den sichtbaren Ereignissen der Französischen Revolution eine verborgene Instanz der Ideengenerierung und -verbreitung, die das „arme Volk“ zum „Werkzeug“ für die „Ausführung ihrer Pläne“ gemacht habe.3 Wie seine Vorgänger verstand sich Starck als recherchierender und kombinierender Rekonstrukteur, der auf Basis umfassender Dokumentensammlungen verborgene Ursachen für die sichtbaren Eruptionen am Ende des 18. Jahrhunderts aufzudecken versuchte. Mit deutscher Gründlichkeit ging er zugleich über die revolutionären Ereignisse in Frankreich hinaus und entwickelte eine konspirationistische Ideengeschichte der Neuzeit, um zu einem genetischen Verständnis ihrer radikalen Resultate, namentlich des Illuminatismus und Jakobinismus, zu gelangen. Wer sich jedoch wie Seidler mit einem Dutzend unzusammenhängender Zitate begnügt und den auch von Starck verwendeten Begriff „Propaganda“ nicht als weitreichend tradierten und kulturhistorisch kontaminierten Terminus erkennt, wird diesem ausgreifendem Szenario zur Erklärung der Eroberung der „Seelen“ und der „öffentlichen Meynung“ kaum gerecht.

Nachhaltig irritiert dann auch der im „Zwischenergebnis“ festgestellte Befund: „Dass die genannten deutschen Geheimbünde auf eine Art aufklärerisches Medienkartell abzielten, dient innerhalb der vorgestellten gegenaufklärerischen Schriften als ideale Referenz, um das letztlich seit hunderten Jahren tradierte Sündenbock-Muster mittels des Einschubs der Projektionsfläche ‚Medien’ zu einer radikal neuen Erzählform – der modernen Verschwörungstheorie – umzugestalten.“ (S. 169) Die Verhältnisse waren indes sehr viel komplizierter: Die Arkangesellschaften der Aufklärung waren einem mehrfach dimensionierten Geheimnis verpflichtet, dem Seidler nur knappe Aufmerksamkeit schenkt (S. 118–119); zugleich erlebten nahezu alle Akteure des gesellschaftlichen Übergangs von stratifikatorischer zu funktionaler Gliederung der Gesellschaft hochgradig ambivalente Beziehungen zwischen medial konstituierter Öffentlichkeit und informellen Strukturen. Symptomatisch dafür ist etwa die 1783 ins Leben gerufene Berliner Mittwochsgesellschaft, die als informationeller Umschlagpunkt der preußischen Aufklärer gelten kann und partiell konspirative Züge trug. Eine Projektion eigener Erfahrungsinhalte und Verhaltensweisen auf den als „Feind“ und „Gegner“ beschriebenen Kontrahenten in den sich ausdifferenzierenden Feldern von Politik und Kultur ist unverkennbar und führte zu Kausalerklärungen, die nahezu alle politischen und kulturellen Vorgänge als zusammenhängende Teile eines Planes „verkappter“ Drahtzieher modellierten. Das Gefühl derartiger Gefährdungen war Produkt komplexer Observations- und Imputationsstrategien, deren Mechanismen den handelnden Akteuren verborgen blieben. Die so kanalisierten Bedrohungsgefühle und Angstvorstellungen radikalisierten sich mit fortgesetzter Verbreitung und Diskussion, in deren Rahmen medial transferierte Gerüchte und Mutmaßungen als Bestätigungsinstanz aufgerufen wurden. Den Umschlagpunkt von partiell korrekten Beobachtungen in unkorrigierbare Paranoia bildete die Erhebung des Einzelfalles und der mit ihm verbundenen Vermutungen zu einem nicht mehr überprüften „Beispiel“, dessen Logik nicht mehr nur im konkreten Fall galt, sondern das Gesamtgeschehen diktieren sollte.

Auch die anderen Abschnitte von Seidlers Monographie schaffen es nicht, die hochgesteckten Ziele zu erreichen. Im Untersuchungsteil zu den Verschwörungstheorien im 19. Jahrhundert konzentriert sich der Autor ausschließlich auf antisemitische Verdachtsszenarien, als hätte es die vielfältigen Verdächtigungen gegen Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten et al. nicht gegeben. Wenn sich die Untersuchung von „Vorstellungsbildern des Medialen in antisemitischen Verschwörungstheorien des langen 19. Jahrhunderts“ (so das starke Leistungsversprechen auf S. 207) wiederum auf allzu knappe „Quellenanalysen“ von vier Texten beschränkt und der Verfasser danach „Statt einer Quellenanalyse: Anmerkungen zu den Protokollen (ab 1920)“ anbietet, wird klar, dass dieses Vorhaben kaum zur Erhellung der Verhältnisse beitragen kann. So exponiert Seidler in einem typographisch markierten Textkasten die Relevanz der seit 1855 erscheinenden Sensations- und Enthüllungsromane von Herrmann Goedsche, der als Sir John Retcliffe unter anderem den „historisch-politischen Roman“ Biarritz verfasste (und hier einen Textbaustein für die später wirkungsmächtigen Protokolle der Weisen von Zion lieferte): „Obgleich sie von der Literaturwissenschaft eher ignoriert wurden, waren die Romane beim Publikum durchaus beliebt.“ (S. 212) – was aber diese Werke zu „Borderline-Texten“ mit „historischer Triftigkeit“ (so tatsächlich S. 213) macht, wird nicht mitgeteilt. Statt dessen wird die oft interpretierte und in ihren intertextuellen Wirkungen vielfach verfolgte Judenfriedhof-Szene nacherzählt, ohne jede Begründung mit der oben erwähnten Enthüllungsschrift des Jesuiten Henri Michel Sauvage kurzgeschlossen (S. 213), um schließlich zu folgern: „Dass Juden in der Presse tätig waren, konnte tatsächlich ‚jeder sehen, der will’. Dass dies kausal auf einen finsteren Weltherrschaftsplan zurückginge, musste allerdings erst durch Erzählungen wie die Friedhofszene von ‚John Retcliffe’ inspiriert werden.“ (S. 218)

Der dritte und letzte Untersuchungsteil springt umstandslos in unsere Gegenwart und verspricht die Analyse von „Verschwörungstheorie um 2000“. Zusammengetragen werden nun vor allem aus dem WWW stammende Textinformationen und Bilder. Die disparaten und in ihrem Quellenwert nicht diskutierten Zeugnisse scheinbar willkürlich collagierend, gelangt der Verfasser nach zunehmend rascheren Paraphrasen ausgewählter Netz-Konspirationisten (Matthias Brökers, Robert Stein, Ken Jebsen) zum Ergebnis, dass „der Zuschauer nun als User zurück schlägt, indem er – mit digitalen Medien ausgerüstet und vernetzt – das Medienereignis des 11. September paranoisch decodiert und somit auch die dominanten Trägermedien der ‚offiziellen Version’, das System Fernsehen, beziehungsweise Massenmedien allgemein, als mutmaßlich ‚blinde’ Medien oder gar als Teil der Verschwörung selbst entlarvt“ (S. 314).

Ein knappes Fazit beschließt die Arbeit: Immerhin erkennt Seidler in den paranoiden Aktivitäten der Suche nach verborgenen Machinationen die „lustvolle Aneignung von Medieninhalten“ (S. 324) sowie tragische Züge: „Während sich die politische und mediale Welt, mit allem, was an ihr zu kritisieren wäre, Tag für Tag weiterdreht, verharren potentiell gesellschaftskritische Aktivisten vor ihren Monitoren, und verbeißen sich in die Imagination submedialer Räume und darin verborgener Wahrheiten. Diese Akteure wären dann also einem gigantischen Medienschwindel anheimgefallen, gebannt von einer durch Medien ermöglichten Autoillusion.“ (S. 325) Die Einsicht, dass diese „Autoillusion“ nicht „Plan irgendwelcher geheimen Mächte“ ist, sondern der „maßgeblichen Macht“ des Rezipienten entspringt (ebenda), gehört zu den wenigen wichtigen und bleibenden Erkenntnissen der vorliegenden Arbeit – auch wenn diese nur unzureichend aus den vorgelegten Kontext-Darstellungen und „Quellenanalysen“ selbst gezogen wurde.

Da auch von der historischen Genese wie von aktuellen Umgangsweisen mit dem Terminus „Lügenpresse“ nichts zu finden ist, kann die Besprechung dieses vollmundig auftretenden Buches nur schließen: Hier liegt eine Mogelpackung vor. Sehr bedauerlich – sowohl hinsichtlich des Gegenstands (der eine ernsthafte und gründliche Untersuchung verdient hat) als auch für den Leser (der hier Aufschlüsse erwartet und mit oberflächlichem Halbwissen abgespeist wird). Und auch seiner Disziplin hat der Medienwissenschaftler John David Seidler mit diesem Buch keinen guten Dienst erwiesen.

Anmerkungen:
1 Hans Graßl, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785. München 1968.
2 Hans-Jürgen Schings, Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996, S. 169.
3 Johann August Starck, Der Triumph der Philosophie im Achtzehnten Jahrhunderte, Germantown 1803, Erster Theil, S. IV.

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