C. Salm: Transnational Socialist Networks

Cover
Titel
Transnational Socialist Networks in the 1970s. European Community Development Aid and Southern Enlargement


Autor(en)
Salm, Christian
Reihe
Palgrave Studies in the History of Social Movements
Erschienen
Anzahl Seiten
174 S.
Preis
€ 90,94
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Haeussler, Magdalene College, University of Cambridge

Im Juli 1975 amüsierte sich der damalige Bundeskanzler Schmidt in einem Interview über den Vorschlag Helmut Kohls, ein gemeinsames Treffen der christlich-demokratischen Parteivorsitzenden innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zu initiieren. Nur „mit einer gewissen Ironie“ könne er Kohls Initiative kommentieren, so Schmidt, schließlich seien solch Treffen doch „für uns Sozialdemokraten […] schon seit langer Zeit tägliches Brot“.1 Genau dieser von Schmidt betonte regelmäßige informelle Austausch sozialdemokratischer Parteien steht auch im Zentrum des hier vorliegenden Buches von Christian Salm, welches sich zum Ziel gesetzt hat, die Bedeutung solch transnationaler sozialistischer Kooperation für die EG-Politik der 1970er-Jahre systematisch zu untersuchen. Hierbei stützt sich Salm auf eine Historiographie, in welcher die Rolle transnationaler Netzwerke zunehmend in den Vordergrund rückt. War die Geschichtsschreibung hier bis vor einigen Jahren noch stark in einer staatszentrierten Heldengeschichte um die Männer Konrad Adenauer, Jean Monnet oder Robert Schuman gefangen, so haben wir mittlerweile ein wesentlich komplexeres, multipolares Bild der Dynamiken hinter der europäischen Integration, welche insbesondere die Rolle nicht-staatlicher Akteure sowie grenzüberschreitender Interessen betont. Dieser intellektuellen ebenso wie institutionellen Tradition ist auch Salms Buch zuzuordnen, welches auf seiner an der Universität Portsmouth eingereichten und von Wolfram Kaiser betreuten Doktorarbeit basiert: das dortige Centre for European and International Studies Research zählt sowohl zu den Vorreitern als auch den vehementesten Verfechtern dieses historiographischen „shifts“.2

In seinem Versuch, den Einfluss transnationaler Netzwerke sozialistischer Parteien auf den „policy-making process“ der Europäischen Gemeinschaft (EG) zu untersuchen, konzentriert sich Salm auf zwei zentrale Politikfelder der 1970er-Jahre: die Entstehung der EG-Entwicklungshilfepolitik sowie die EG-Süderweiterung um Portugal und Spanien. Anhand dieser beiden Beispiele argumentiert Salm, dass die Transnationalisierungsprozesse sozialistischer Parteien der Nachkriegszeit zu einer zunehmenden Konvergenz programmatischer Inhalte und Positionen führten, die sich letztlich auch – indirekt – in der tatsächlichen EG-Politik niederschlug. Hierbei stehen für Salm vor allem informelle Netzwerke abseits formaler EG-Institutionen im Vordergrund: bi- wie multilaterale Kontakte auf Parteiebene sowie Netzwerke wie das Liaison Bureau of the Socialist Parties und insbesondere die Sozialistische Internationale erfüllten laut Salm eine zentrale Aufgabe als Foren transnationaler Kooperation, wobei hier vor allem indirekte Europäisierungsprozesse und Annäherungen in programmatischen Positionen im Vordergrund stehen („chanelling political ideas“; „shaping discourses“ (S. 170)). Dennoch ist die zentrale These klar formuliert: „The book argues that socialist transnational cooperation has influenced politics and policy-making in the then EC with the objective of initiating and advancing policies at the European level“ (S. 3). In seinem Fazit spricht Salm gar von der „fundamental contribution“ (S. 168) solch transnationaler Netzwerke zur EG-Politik der 1970er-Jahre, wobei dieses Urteil an anderen Stellen deutlich eingeschränkt wird: so führte beispielsweise die sozialistische Kooperation im Bereich der Süderweiterung zu wesentlich ertragreicheren Resultaten als im Bereich der Entwicklungshhilfe (S. 150ff.). Die Studie stützt sich auf einen imposanten Quellenkorpus, welcher unter anderem aus 17 Archiven in 9 Ländern zusammengetragen wurde.

Nach einem Übersichtskapitel über die konkreten Institutionen und Foren dieser transnationalen sozialistischen Kooperation rekonstriert Salm zuerst deren Einfluss auf die EG-Entwicklungshilfe. Hierbei argumentiert er, dass der rege Austausch insbesondere innerhalb informeller Netzwerke die EG-Politik maßgeblich beeinflusste indem er half, Ideen und Konzepte der Entwicklungshilfepolitik der Vereinten Nationen auch in den europäischen Raum zu übertragen. Somit erfüllte die transnationale Kooperation sozialistischer Parteien eine zentrale Rolle als „agenda setter“, wobei sich diese Prozesse vor allem langfristig und indirekt vollzogen. Der direkte Einfluss auf die EG-Politik im Europäischen Rat war hingegen äußerst limitiert, wie Salm richtig einschränkt („rarely had a direct influence“ (S. 156)). Dementsprechend resümiert er, dass sozialistische Parteien zwar eine zentrale Rolle im Entstehen und Formulieren einer europäischen Entwicklungshilfe-Agenda spielten, diese dann aber letztendlich aufgrund fehlenden Einflusses auf EG- bzw. nationalstaatlicher Ebene nicht implementieren und durchsetzen konnten (S. 90). Dies erscheint plausibel und überzeugend, dennoch fällt ein gewisses Ungleichgewicht in der Struktur des Kapitels auf. Nach einer achtundvierzigseitigen Darstellung der (oftmals vor allem rhetorischen) Kooperation sozialistischer Parteien zur Entwicklungspolitik handelt Salm die Faktoren, welcher einer solchen EG-Agenda nach sozialistischem Modell im Weg standen, auf lediglich vier Seiten ab: darunter durchaus gewichtige Faktoren wie die Weltwirtschaftskrise der 1970er-Jahre, das Fehlen eines innenpolitischen Konsens, das Image der Entwicklungspolitik als linkes Randgruppenphänomen, oder schlichtweg die unterschiedlichen nationalen Interessen zentraler EG-Mitgliedstaaten (S. 90ff.).

Wesentlich erfolgreicher gestaltete sich die Rolle transnationaler sozialistischer Kooperation im Bereich der EG-Süderweiterung, wie das dritte Kapitel zeigt. Hierbei konzentriert sich Salm vor allem auf die Kooperation westeuropäischer sozialistischer Parteien mit ihren jeweiligen Schwesterparteien in Portugal und Spanien, welche zu einer inhaltlichen Annäherung und zunehmend gemeinsamen Programmatik führte. Ebenso wird die gewichtige Rolle diverser Parteispenden sowie der Einfluss politischer Stiftungen auf diesen inneren Wandel der südeuropäischen Sozialisten betont. Dementsprechend misst Salm der transnationalen sozialistischen Kooperation eine zentrale Rolle für die Europäisierung und Demokratisierung Spaniens und Portugals im Rahmen der EG-Süderweiterung bei. Allerdings bleibt unklar, ob solch intensive Kooperation tatsächlich entscheidend für den Annäherungsprozess der spanischen und portugiesischen Sozialisten mit ihren westeuropäischen Schwesterparteien war, oder ob es sich hierbei lediglich um Nebenprodukte eines letztendlich von anderen Faktoren getriebenen Erweiterungsprozesses handelte. So konstatiert Salm beispielsweise richtig, dass für den Erfolg der EG-Süderweiterung letztlich vor allem der Einfluss hochrangiger Staats- und Regierungschefs entscheidend war (S. 153). Doch waren diese Politiker tatsächlich von transnationalen sozialistischen Ideen getrieben, oder waren nicht vielmehr nationale geopolitische Interessen sowie die strukturellen Zwänge des Kalten Kriegs entscheidend für ihr Handeln?3

Insgesamt ist Salm eine quellengesättigte und enorm detaillierte Studie gelungen, welche neues Licht auf einen bisher vernachlässigten Bereich der europäischen Integrationsgeschichte der 1970er-Jahre wirft. So zeichnet Salm ein dichtes und spannendes Bild der Entstehung eines transnationalen Kommunikations- und Politikraums, in welchem zentrale Entscheidungen der EG-Politik der 1970er-Jahre definiert und verhandelt wurden. Ebenso hebt Salm eindrucksvoll die Rolle einzelner Akteure sowie deren jeweilige Handlungsrahmen und -grenzen innerhalb dieser politischen Räume hervor. Allerdings wäre es wünschenswert gewesen, diese Entwicklungen und Dynamiken noch enger und durchgängiger mit parallelen Entwicklungen auf EG-intentioneller sowie nationalstaatlicher Ebene zu verknüpfen. So findet beispielsweise der eingangs zitierte (sozialdemokratische) deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt in den Hauptteilen des Buches einerseits kaum Beachtung, wird jedoch andererseits wiederholt als zentrales Hindernis eines (noch?) größeren Einflusses sozialistischer Netzwerke auf die tatsächliche EG-Politik genannt (S. 83f., 171). Doch was sagt uns dies über die tatsächliche Bedeutung transnationaler Parteinetzwerke für die EG-Politik der 1970er-Jahre; insbesondere, da sowohl Entwicklungshilfe als auch Süderweiterung in nationalstaatlicher Kompetenz lagen (S. 10)? Hatten die von Salm so gründlich analysierten Netzwerke tatsächliche Deutungs- und Wirkungsmacht selbst im Angesicht starker institutioneller und nationalstaatlicher Widerstände, oder konnten sie ihre Ideen lediglich bei Vorliegen eines generell wohlwollenden und unterstützenden Klimas auf anderen Ebenen durchsetzen? Und wo ist dementsprechend der tatsächliche Einfluss dieser Netzwerke im hochkomplexen und vielschichtigen Netzwerk der Europäischen Gemeinschaften der 1970er-Jahre anzusiedeln? Abschließende Antworten hierauf bleibt Salms Buch schuldig, obwohl diese größeren Fragen insbesondere gegen Ende des Buches durchaus angerissen und interessant diskutiert werden.

Anmerkungen:
1 BPA, Bulletin 84, 01.07.1975.
2 Siehe beispielsweise Wolfram Kaiser, Christian Democracy and the Origins of European Union, Cambridge 2009; Wolfram Kaiser / Brigitte Leucht / Morten Rasmussen (Hrsg.), The History of the European Union. Origins of a Trans- and Supranational Polity 1950–1972, London 2009; Wolfram Kaiser / Brigitte Leucht / Michael Gehler (Hrsg.), Transnational Networks in Regional Integration. Governing Europe 1945–83, Basingstoke 2010; Wolfram Kaiser / Jan-Henrik Meyer (Hrsg.), Societal Actors in European Integration. Polity-Building and Policy-Making, 1958–1992, Basingstoke 2013; Kristian Steinnes, The British Labour Party, Transnational Influences and European Community Membership, 1960–1973, Stuttgart 2014.
3 Für die Verknüpfungen zwischen der EG-Süderweiterung und dem Kalten Krieg beispielsweise jüngst Eirini Karamouzi, Greece, the EEC and the Cold War, 1974–1979. The Second Enlargement, Basingstoke 2014.