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Titel
Der Traum vom Jahre Null. Autoren, Bestseller, Leser: Die Neuordnung der Bücherwelt in Ost und West nach 1945


Autor(en)
Adam, Christian
Erschienen
Berlin 2016: Galiani Berlin
Anzahl Seiten
448 S.
Preis
€ 28,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ute Schneider, Institut für Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

In der deutschen Buchhandels- und Verlagsgeschichtsschreibung ist schon vor etlichen Jahren diskutiert worden, ob es 1945 eine „Stunde Null“ in der Buchbranche gab und inwiefern man einen radikalen Schnitt, einen eindeutigen Bruch mit Traditionen vor 1945 feststellen kann.1 Die Antworten fielen unterschiedlich aus – grundsätzlich war man sich allerdings einig, dass die personellen und unternehmerischen Kontinuitäten im Verlagswesen nach 1945 gegenüber den Neuanfängen dominierten. Christian Adam tritt nun durch quantitative Analysen von Bestsellerlisten und einschlägigen Analysen der Buchmarktforschung aus den 1960er-Jahren den Beweis an, dass die alten Eliten der Buchbranche weitgehend auch die neuen Eliten wurden. Nach seinem fundierten Überblick zu den Lesern und ihren Lektürevorlieben im „Dritten Reich“2 legt Adam also eine Folgestudie über die Neuordnung der deutschen Bücherwelt nach 1945 vor. Diese Arbeit ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert.

Erstens geht Adam konsequent von den Quantitäten, den Bestsellern auf dem literarischen Markt aus. Er hat eine „virtuelle Bestsellerliste“ von rund 400 Titeln belletristischer Natur und populären Sachbüchern erstellt, die in einer Auflagenhöhe von 10.000 oder mehr Exemplaren bis Anfang der 1960er-Jahre erschienen sind (vgl. S. 18, die Liste der Titel S. 363f.). Mit dem Hinweis auf die Quantitäten wird eine enge Fokussierung auf die sogenannte Höhenkammliteratur vermieden und der Blick auf die tatsächlich gelesenen und gekauften Titel freigelegt.3 Der Geschmack des Lesepublikums folgte der leichten Massenliteratur und dem populären Sachbuch. Die Spitzenreiter aller eruierten Titel sind fast sämtlich Weltbestseller, an der Spitze Annemarie Selinkos „Désirée“ mit 1,8 Mio. verkauften Exemplaren, die Buchklub- und Taschenbuch-Ausgaben eingerechnet; gefolgt vom unstrittigen Rowohlt-Bestseller „Götter, Gräber und Gelehrte“ von C.W. Ceram (1,3 Mio. Ex.), von Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“ (1,2 Mio. Ex.) und interessanterweise der Autobiographie „Das war mein Leben“ des berühmten und gegen Ende seines Lebens politisch wie medizinisch skandalumwehten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch (1,2 Mio. Ex.). Damit war dieses Buch die erfolgreichste Autobiographie der frühen Nachkriegszeit. Hugo Hartungs „Ich denke oft an Piroschka“ (1,17 Mio. Ex.) ist ein weiteres Beispiel für heitere Unterhaltungsliteratur. Bis auf Cerams Sachbuch profitierten alle genannten Bestseller von ihrer Verfilmung mit beliebten Schauspielern. Es nimmt der Grundaussage von Adams Buch nichts, wenn man berücksichtigt, dass diese Verkaufszahlen nur Annäherungswerte sein können und auch nicht alle Erfolgstitel aufgelistet werden (vgl. S. 363). Fast gänzlich fehlen die Autoren und Titel der in den 1950er-Jahren boomenden Heftchenliteratur – mit wenigen Ausnahmen wie den „Landser“-Romanen des Pabel-Verlags. In der verlegerischen Planwirtschaft des Ostens dominierten die Titel von Exil-Autoren, die besonders im Aufbau-Verlag erschienen. Anna Seghers' „Das siebte Kreuz“ erreichte bis 1964 eine Auflage von 600.000 Exemplaren, Johannes R. Bechers „Abschied“ 350.000 Exemplare; auch Heinrich Mann und Arnold Zweig gehörten zu den Vielgelesenen.

Zweitens konzentriert sich Adam zwar deutlich auf die literarische Produktion und ihre Autoren in den Publikumsverlagen, wendet jedoch seinen analytischen Blick erfreulicherweise auch auf das Schulbuch, insbesondere auf das westliche (S. 313–326), was mit zu den spannendsten Aspekten des ganzen Buchs gehört, entlarvt Adam doch die Literaturgeschichtsschreibung zum Beispiel Arno Mulots nicht nur als blind für die Jahre 1933–1945, sondern vor allem als unkritische Fortführung seiner völkischen Vorstellungen. Oder: Die geistige Welt des Ehepaars Elisabeth und Herbert A. Frenzel, beide ursprünglich Theaterwissenschaftler, ist in der Germanistik bekannt, wird dennoch oft ignoriert und wird im vorliegenden Buch nun endlich prominent seziert. Obwohl beider Mitarbeit im bzw. Nähe zum Reichspropagandaministerium schon nach Kriegsende bekannt war, wurden ihre „Daten deutscher Dichtung“ (erstmals 1953 erschienen) zum germanistischen Standardwerk bis ins 21. Jahrhundert. Adam zeigt an diesem Beispiel auch sehr deutlich die unterstützende Rolle des Verlegers Caspar Witsch.4

Drittens ermöglicht die systematische Struktur des Bandes anhand des Quellenmaterials die direkte Gegenüberstellung der Entwicklungen in der DDR und der Bundesrepublik. Auch diese Parallelführung ist wiederholt in der Buchhandelsgeschichtsschreibung diskutiert worden.5 Mit dieser Vorgehensweise können die Wechselbezüge der beiden deutschen Märkte wie auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede pointiert herausgestrichen werden. Adams Seitenblick auf die Spielpläne des west- und des ostdeutschen Theaters fördert beispielsweise trotz Bertolt Brecht und Wolfgang Borchert die gemeinsame Tendenz zutage, in erster Linie unverdächtige Klassiker aufzuführen. Die Folgen der Unterschiede in den Wirtschaftsformen der beiden deutschen Staaten für die Verlagsbranche sind nicht zu übersehen: Die staatlich gelenkte Literaturpolitik der DDR führte zu umständlichsten Verfahrensweisen, die eher das politische und weniger das literarische System stabilisierten. In der Bundesrepublik regulierte sich der Markt schnell in alte Bahnen: Die bereits vor 1933 bekannten, während des „Dritten Reichs“ geschlossenen oder nur eingeschränkt produzierenden Verlage traten nach 1945 wieder in den Markt ein und hatten als Altverlage wie beispielsweise Rowohlt erhebliche Vorteile gegenüber den Neugründungen. Auf lange Sicht konnten sie sich im Kulturbetrieb wieder etablieren, waren sie dem Publikum doch noch im Gedächtnis und konnten teilweise an alte Autorenrechte anknüpfen. Dies ist keine neue Erkenntnis der vorliegenden Studie, sondern ist an Einzelbeispielen wie Rowohlt oder Suhrkamp (der ja keine Neugründung im eigentlichen Sinn, sondern teilweise eine Fortführung des S. Fischer Verlags war) bereits aufgearbeitet. Diese Kontinuitäten in Gänze zu erforschen wäre eine lohnende Aufgabe.

Als Fazit lässt sich festhalten: Christian Adams Studie ist stark quellengesättigt und entsprechend solide fundiert; die Zusammenschau des bisher nicht gerade üppigen Forschungsstands zu diesem Thema greift die wesentlichen Aussagen auf und schreibt sie anschaulich fort; aufgrund des systematischen Zugriffs lässt sich jedes Kapitel gewinnbringend auch einzeln lesen. Die Gesamtheit der „Bücherwelt“ bis in die 1960er-Jahre wird allerdings nicht beackert – der gesamte wissenschaftliche Markt bleibt, mit Ausnahme der erwähnten germanistischen Beispiele, unberücksichtigt, hätte jedoch keine grundsätzlich anderen Einsichten gebracht, denn auch im wissenschaftlichen Markt waren die neuen Eliten im Osten wie im Westen weitgehend die alten.6 Der Erkenntnisgewinn von Adams Buch resultiert vor allem aus der geschickten Zusammen- und Gegenüberstellung der populären Lesestoffe und ihrer Verleger. „Pointiert lässt sich sagen, dass – beim Blick auf beide deutsche Staaten – der Westen das personelle Erbe des ‚Dritten Reichs‘ annahm, der Osten das strukturelle.“ (S. 358) In diesem kurzen Satz liegt ein zentrales Ergebnis der Studie, die eine Fülle an Informationen und Fakten zum Literaturbetrieb und zum Buchmarkt der frühen Bundesrepublik und der DDR bereithält.

Anmerkungen:
1 Vgl. im Diskussionsforum von IASLonline (Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur) zur Geschichtsschreibung des Buchhandels die Diskussionsbeiträge von Hans Altenhein (<http://www.iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/Altenhein_Fragen-1.pdf>), Wulf D. v. Lucius (<http://www.iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/Altenhein_Lucius.pdf>) und Olaf Blaschke (<http://www.iasl.uni-muenchen.de/discuss/lisforen/Altenhein_Blaschke_Standard.pdf>)(24.05.2016).
2 Christian Adam, Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich, Berlin 2010.
3 Rückschlüsse von Auflagenzahlen auf beliebte Lesestoffe sind gängige Praxis in der Leserforschung.
4 Siehe zu ihm ausführlich: Frank Möller, Das Buch Witsch. Das schwindelerregende Leben des Verlegers Joseph Caspar Witsch, Köln 2014; ders., Dem Glücksrad in die Speichen greifen. Joseph Caspar Witsch, seine Autoren, sein Verlagsprogramm und der Literaturbetrieb der frühen Bundesrepublik, Köln 2015.
5 In der „Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert“, die von der Historischen Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels verantwortet wird, werden für die Jahre 1945–1949 alle vier Besatzungszonen in einem Band abgehandelt (hrsg. von Stephan Füssel und Siegfried Lokatis, erscheint voraussichtlich 2017). Für die Zeit ab 1949 wird es für die Bundesrepublik und die DDR getrennte Bände geben.
6 Für das Beispiel der Mathematik vgl. Volker Remmert / Ute Schneider, Eine Disziplin und ihre Verleger. Disziplinenkultur und Publikationswesen der Mathematik in Deutschland, 1871–1949, Bielefeld 2010.