Titel
Südtiroler in der Waffen-SS. Vorbildliche Haltung, fanatische Überzeugung


Autor(en)
Casagrande, Thomas
Erschienen
Bozen 2015: Edition Raetia
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Franziska Zaugg, University College Dublin/Center for War Studies

Thomas Casagrandes neueste Publikation lässt Historiker zuerst einmal die Stirn runzeln. Es ist in der Gilde der Geschichtswissenschaftler nicht üblich, sich so offen und so nah an seinem Thema zu präsentieren. Denn die Recherchen, überhaupt seine Auseinandersetzung mit der Waffen-SS, verdankt Casagrande der Vergangenheit seines Vaters. Sein Bekenntnis, auch Persönliches und Familiengeschichtliches aufarbeiten zu wollen, provoziert ein doppelt kritisches Lesen. Casagrande ist offensichtlich viel zu nah am Objekt, um auch nur ansatzweise objektiv bleiben zu können – so denkt man zu Beginn der Lektüre.

Bereits in der Einleitung hebt Casagrande hervor, dass es sich bei den Südtirolern um einen Spezialfall handelt, da sie zwar entsprechend ihrer Abstammung zur Gruppe der „Volksdeutschen“ gehörten, jedoch aufgrund ihrer persönlichen Wahl 1939 zu „Reichsdeutschen“ wurden. In einem ersten Teil der Studie wird ein Überblick über Südtirol im 20. Jahrhundert gegeben, das untersuchte (Zahlen-)material vorgestellt und die gewählte Vorgehensweise erläutert. Im zweiten Teil widmet sich Casagrande verschiedenen Phasen der Rekrutierung von Südtirolern in die Waffen-SS, Selbstschutzeinheiten und Polizei sowie den Lebensläufen von 19 Südtirolern, die er in einer Sammelbiografie zusammenfließen lässt. Es ist ein Anliegen des Autors, vor allem Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich Motivationsstruktur, Wertevorstellungen und Karrierehoffnungen der Südtiroler zu untersuchen. Ebenfalls unter diesen Vorzeichen stellt er exemplarisch die Biografie von Otto Casagrande vor, in der Thomas Casagrande auch auf die von SS-Sturmbannführer Alois Thaler angeordneten „Sühnemaßnahmen“ in Rodengo Saiano bei Brescia am Ende des Krieges eingeht. Casagrande senior war als „persönlicher Adjutant“ Thaler direkt unterstellt und somit in das Kriegsverbrechen involviert. Abschließend thematisiert er die übergeordnete Funktion von Gauleiter Hartmann Lauterbacher, der auch nach Kriegsende im Geflecht von Fluchthilfe für Nationalsozialisten, im Geheimdienst und in den Kameradschaften eine wichtige Rolle spielte.

Casagrande betont, dass er – erstmals für die Aufarbeitung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Südtirol – für Freiwillige und Zwangsrekrutierte möglichst genaue Zahlen liefern will, damit der Leser sich ein Bild machen kann vom Zahlenverhältnis etwa zur gesamten SS oder der Verteilung von Südtirolern auf verschiedene Einheiten. Casagrande geht von 3.500 bis 5.000 Südtirolern in der Waffen-SS aus, was im Vergleich zum personellen Total der Waffen-SS, die in Spitzenzeiten knapp 600.000 Mann zählte, eine geringe Zahl darstellt.

Als Quellen wurden militärische Suchkarten aus dem Landesarchiv Innsbruck verwendet. Leider weisen die Listen teilweise große Lücken auf: So sind für die Verfügungstruppe zwar 100 Prozent der Namen vorhanden, bei den „Totenkopf“-Einheiten nur rund 14,7 Prozent. Hinzu kommen die im Südtiroler Landesarchiv in Bozen vorliegenden Unterlagen der Landesleitung des Südtiroler Kriegsopfer- und Frontkämpferverbands und anderer Vereine. Dieser Bestand umfasst insgesamt 60 Archivkartons. Daneben untersuchte der Autor auch Material der „Deutschen Dienststelle (WASt) in Berlin und Bestände des im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde untergebrachten Berlin Document Center (BDC). Dort wie auch in oben genannten Beständen sind zahlreiche Personalakten zu finden. Allerdings wird nur die Biografie von Otto Casagrande im vorliegenden Buch ohne Anonymisierungen vorgestellt.

Im Folgenden gelingt es Casagrande, in einem kurzen Überblick die Geschichte Südtirols zu Beginn des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Vor allem die (Zwangs-)Italianisierung der Bevölkerungsteile Südtirols unter Mussolini habe zu deren Radikalisierung beigetragen. Die Kinder wurden teilweise in geheimen Katakombenschulen in Deutsch unterrichtet, die Männer organisierten sich in geheimen politischen Vereinen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland, wurden auch in Südtirol Organisationen gegründet, die sich eng an das Dritte Reich anlehnten und von ihm auch unterstützt wurden, so etwa der 1934 entstandene Völkische Kampfring Südtirol (VKS). Nach dem Krieg wurden unter den Vorkämpfern für den Nationalsozialismus in Südtirol auch Mitarbeiter für den ersten deutschen Geheimdienst, die Organisation Gehlen, rekrutiert.

In den nächsten Kapiteln, die sich auch den Biografien unterschiedlicher Südtiroler widmen, unterscheidet Casagrande verschiedene Wellen der Rekrutierung für die Waffen-SS: Die erste Welle setzt er zwischen 1939 und 1941 an. Die Freiwilligenmeldungen von Südtirolern lagen im europäischen Spitzenfeld, im Mittel 312 Personen pro 100.000 Einwohner. Die Südtiroler, die nach der Option (Wahl der Staatszugehörigkeit), zumindest auf dem Papier als „Reichsdeutsche“ galten, hatten im Vergleich etwa zu den Banater „Volksdeutschen“ die Wahl, ob sie in der Wehrmacht oder den Verbänden der SS- und Polizei dienen wollten. Vor allem in den frühen Rekrutierungen, bzw. Meldungen von Freiwilligen, sieht Casagrande einen Zusammenhang zwischen bestimmten Geburtsjahrgängen, einzelnen Südtiroler Regionen, dem jeweiligen Optionsverhalten und schließlich der Freiwilligenmeldung. So verbanden von 105.000 bereits 2.028 Südtiroler ihre Option mit dem freiwilligen Eintritt in den deutschen Militärdienst. Diese frühen Freiwilligenmeldungen wurden durch den VKS organisiert. Casagrande geht davon aus, dass in dieser ersten Welle den meisten Freiwilligenmeldungen von Südtirolern kein „moralischer Druck“ (S. 36) vorausgegangen war. Von besonderem Interesse für die neuere Forschung zu verschiedenen Verbänden der Waffen-SS ist die von Casagrande bei seiner Quellenarbeit festgestellte Ungleichbehandlung von Rekruten. So seien auch die als „Reichsdeutsche“ geltenden Südtiroler von deutschen Ausbildnern als minderwertig bezeichnet, beleidigt und geprügelt worden.

Gerade in dieser ersten Welle, so Casagrande, befanden sich besonders viele Südtiroler, die in Konzentrationslagern Dienst taten und an Kriegsverbrechen beteiligt waren; so auch in den klassischen Elitedivisionen „Leibstandarte“, „Das Reich“ und „Totenkopf“. Bereits in diesem Kapitel lässt Casagrande aber auch innere Zerrissenheit ehemaliger Waffen-SS-Soldaten durchblicken, die auf der einen Seite stolz waren auf ihre Dienstzeit, andererseits ihre Tätertraumata nie aufarbeiten konnten und somit Gefangene der eigenen Erinnerung blieben.

Für die zweite Welle von Eintritten in die Waffen-SS gibt Casagrande den Zeitraum zwischen 1942 und 1943 an. Im Gegensatz zur ersten Welle ist nun eine Entwicklung zu verzeichnen, die zeigt, dass immer mehr Wehrpflichtige versuchten, in der Heimat zu bleiben und sich dem Wehrdienst zu entziehen. Gleichzeitig wuchs der Druck auf diejenigen Südtiroler „Reichsdeutschen“, die bisher unter einem Vorwand in der Heimat bleiben konnten, da die Verluste von Wehrmacht und Waffen-SS an der Ostfront rasant anstiegen. Im Dezember 1942 richtete die Waffen-SS schließlich in Bozen ein eigenes Rekrutierungsbüro ein.

Die dritte Welle setzt Casagrande 1943 an. Spezifikum dieser Rekrutierungsphase ist die gemeinsame Ausbildung von Südtirolern und Italienern. Die Aufstellung von sogenannten „Selbstschutz“-Einheiten sollte an die Heimatverbundenheit der Südtiroler appellieren. Auch in dieser Phase zeigte sich wieder die Ungleichbehandlung und Überheblichkeit deutscher Ausbilder gegenüber den Südtirolern.

Im Kapitel „Die vierte Welle von 1944–1945“ beleuchtet Casagrande die intensivste Rekrutierungsphase. Die Rekrutierten setzten sich, wie andernorts auch, aus sehr jungen und alten Männern zusammen. 54 Prozent der Rekruten waren erst zwischen 17 und 19 Jahre alt. Für „das letzte Aufgebot“ werden auch die Eintragungen auf den Suchkarten spärlich: Auf den meisten ist nur der Vermerk des Musterungsamtes bzw. der Ergänzungsstelle Bozen. Zahlreiche junge Südtiroler wurden zur Ausbildung nach Belgien verbracht und später oftmals der 12. SS-Division „Hitlerjugend“ überstellt.

Am Ende des Buches angekommen ist der Leser positiv überrascht: Casagrande gelingt es in dieser mikrogeschichtlichen Studie nicht nur, die notwendige Distanz zu wahren, sondern wichtige Details herauszuarbeiten, die nicht nur für die Südtiroler Bevölkerung und die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit von Belang sind. In seiner zwanzigjährigen Forschung zu diesem Buch hat Casagrande eine Vielfalt an Informationen gesammelt, die auch für die aktuelle Forschung zu „Volksdeutschen“ und „Fremdvölkischen“ in der Waffen-SS von Interesse sind, gerade wenn es beispielsweise um das Zusammenleben mit und die Abstufung zwischen verschiedenen Ethnien in der Ausbildung und an der Front geht. Einzig der im Buch sehr dominante Begriff der Rekrutierungs-„Wellen“ hätte vielleicht, ersetzt durch ein anderes Wort, besser auszudrücken vermocht, was der Autor in den Kapiteln beschreibt. Es sind hier eher verschiedene Rekrutierungsphasen, die vorgestellt werden; denn jede einzelne „Welle“ würde in sich einen Anstieg, einen Höhepunkt und einen Rückgang voraussetzen, was bei den vier genannten Wellen nicht der Fall ist.

Für alle Südtiroler, die nicht Historiker sind, wird auch Casagrandes „Kurzer Leitfaden der Recherche“ eine große Hilfe sein. Gleichzeitig ist es ein Aufruf, sich der Vergangenheit zu stellen und die Vielfalt von Handlungsoptionen aber auch Handlungszwängen ehemaliger Soldaten der Waffen-SS wahrzunehmen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/