C. Lenz u.a. (Hgg.): Erinnerungskulturen im Dialog

Cover
Titel
Erinnerungskulturen im Dialog. Europäische Perspektiven auf die NS-Vergangenheit


Herausgeber
Lenz, Claudia; Schmidt, Jens; von Wrochem, Oliver
Erschienen
Hamburg 2002: Unrast Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Schmid, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg

Der politisch-kulturelle Umgang mit der Hinterlassenschaft des „Dritten Reiches“ steht vor vielfältigen Umbrüchen und Herausforderungen. „Zukunft des Erinnerns“, so ließen sich die damit angesprochenen Problemkreise überschreiben, wobei besonders folgende Fragen diskutiert werden: Welche geschichtskulturellen Folgen haben die unter den Schlagwörtern Europäisierung, Amerikanisierung und Globalisierung erörterten Tendenzen einer transnationalen Erweiterung und Verschiebung des Erinnerns an den NS-Völkermord? Wie kann man dem Problem von Erinnerung und Migration, also einer bisher primär nationalgeschichtlich strukturierten kollektiven Erinnerung und Identität in der Einwanderungsgesellschaft, gerecht werden? Wie kann der fortdauernd wichtige Gehalt dieser Geschichte an die nachgeborenen Generationen vermittelt werden, gerade auch angesichts des Verlusts der Zeitzeugengeneration? Kennzeichnend für den Stand der Forschung ist der Umstand, dass bislang noch weit mehr Fragen aufgeworfen als tragfähige Antworten formuliert werden. 1

Der vorliegende Sammelband widmet sich eingehend diesen strukturellen Veränderungen. Dabei handelt es sich – ohne dass dies irgendwo erwähnt wird – um Beiträge der im November 2001 in Hamburg organisierten Tagung „Erinnerungs- und Gedenkkulturen im Dialog. Herausforderungen für die politische Bildung“. Unterteilt in fünf Sektionen, setzen sich über zwei Dutzend Autorinnen und Autoren aus fünf europäischen Ländern mit aktuellen erinnerungskulturellen Entwicklungen auseinander. In Ihrer Einleitung markieren die Herausgeber den kulturtheoretischen Rahmen der Texte, indem sie zwei leitende Perspektiven formulieren: Erinnerungs- und Gedenkkulturen seien einerseits stets als vermittelte und nachträgliche Vergangenheitskonstruktion zu verstehen, stellten andererseits aber auch eine unverzichtbare Grundlage kultureller Identität und Stabilität politischer Gemeinwesen dar.

In der ersten Sektion zum Thema europäischer Perspektiven auf die deutsche Okkupation im Zweiten Weltkrieg beschreibt die dänische Historikerin Annette Warring die Bedeutung der deutschen Besatzung Dänemarks für die politische Kultur der dänischen Gesellschaft seit 1945. Ihre Studie mündet in ein Plädoyer für eine „gleichermaßen kritische wie emphatische Klärung der normativen und sozio-kulturellen Grundlagen der Tradierung“ (S. 29). Historiker sieht sie in diesem Zusammenhang in der Rolle der emphatischen Kritiker existierender Erinnerungsgemeinschaften; dies solle auf der Basis einer „demokratischen geschichtspolitischen Ethik“ (Claus Bryld) erfolgen, also einer Offenheit von Formen und Inhalten, einem Pluralismus der historischen Deutungen und Perspektiven.

Die Erinnerung und der Prozess der Geschichte als ein ins Wasser geworfener Stein – mit dieser anschaulichen Metapher gelingt dem norwegischen Politologen Stein Ugelvik Larsen einer der anregendsten Beiträge des Bandes. Mit Beispielen aus empirischen Studien zur Rezeption der NS-Zeit in Norwegen deutet er die Schübe der Gedenkkultur (metaphorisch übersetzt: die Wellen infolge des Steinwurfs) als ein „extrem generationenspezifisches Phänomen“ (S. 34). So kann er das Verblassen von Erinnerung, die Veränderung von Wissensbeständen und das Auftauchen neuer Diskussionstopoi (etwa die norwegische Debatte um die „Kriegskinder“) erklären, ebenfalls Interessenverschiebungen und neue Fragen in Öffentlichkeit und historischen Wissenschaften.

Zwei Aufsätze widmen sich der französischen bzw. deutsch-französischen Erinnerungskultur. Während Michel Cullin für einen die Transkulturalität befördernden, europäischen „patriotisme de la mémoire“ (S. 65) plädiert, skizziert Mechtild Gilzmer in einem widersprüchlichen Beitrag den französischen Umgang mit den „années noires“ (Jean-Pierre Azéma ) der Vichy-Vergangenheit und, als jüngste Stufe der Auseinandersetzung mit der nationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts, dem Algerien-Krieg. Eingangs behauptet sie, Frankreich habe 50 Jahre lang „die Schattenseiten der deutschen Besatzung und die konkreten Folgen der Kollaboration ausgeblendet“ (S. 47), was in dieser Pauschalität nicht nur durch die im folgenden von ihr selbst präsentierten Beispiele, sondern auch durch ihre Formulierung einer „kontinuierlichen ‚Vergangenheitsbewältigung´ Frankreichs“ (S. 51f.) konterkariert wird.

Auch der sinnvolle Versuch einer Typologisierung der französischen und der deutschen Erinnerungskultur überzeugt nicht: Gilzmer identifiziert westlich des Rheins einen „Zustimmungsdiskurs“ (Bernd Faulenbach), östlich des Rheins einen „Entlastungsdiskurs“ (S. 56), obwohl sie doch kurz zuvor Material ausgebreitet hatte, das gerade die dominierende Tendenz von Entlastungsstrategien auch im französischen Vergangenheitsdiskurs zeigte, während der deutsche Fall nur mit wenigen Zitaten aus Studien zur familiengeschichtlichen Erinnerungspraxis untermauert wird.

Für die polnische Kultur des Erinnerns an die Zeit des Zweiten Weltkriegs beschreibt Jan Grosfeld die tiefsitzenden antijüdischen Vorurteile in großen Teilen der polnischen Bevölkerung, die durch das halbe Jahrhundert kommunistischer Herrschaft wie in „einer Art Gefrierschrank“ (S. 67) konserviert worden, nach 1989 wieder an die Oberfläche gekommen und nun wieder virulent seien. In einem zweiten Beitrag zu diesem Themenfeld skizziert Hartmut Ziesing die Schwierigkeiten in der historisch-politischen Bildungsarbeit mit polnischen Jugendlichen, die u.a. darauf zielt, die lange Zeit beherrschende polnisch-nationale Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg und Auschwitz mit ihrer Hervorhebung der polnischen und der Ausblendung der jüdischen Opfergeschichte zu differenzieren.

Ziesing, Studienleiter in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte Auschwitz, formuliert hier durchaus Richtiges, doch beschleicht einen bei der Lektüre seines Textes zunehmend Unbehagen, wie hier jenes traumatische Ereignis namens Auschwitz – trotz Bezugs auf Autoren (Adorno, Baumann, Hilberg), die für die kritische Zerstörung eingängiger Deutungen des NS-Genozids stehen – in gutgemeinter pädagogischer Intention zu handhabbaren Formeln kleingearbeitet und eingeebnet wird. Dass etwa die „Auseinandersetzung mit dem Holocaust gleichzeitig politische Bildung, eine ethisch-moralische Anleitung und humanistische Erziehung (ist)“ (S. 77), mag nicht nur dem Gedenkstättenpädagogen auf den ersten Blick zustimmungsfähig erscheinen, aber von der Zerstörung zivilisatorischer Selbstgewissheit als einer der Grundlinien in der Deutungsgeschichte der Metapher Auschwitz – „daß uns nach Auschwitz nichts mehr vor uns selber sicher machen kann“ (Helga Grebing) – schwingt hier nicht einmal mehr ein Rest mit.

Theorie und Praxis der deutschen Erinnerungskultur stehen im Mittelpunkt der zweiten Sektion. Wie gewohnt systematisch klar fundiert und das Thema kritisch weiterführend, ist Bernd Faulenbachs Aufsatz über den aktuellen Zusammenhang von Erinnerungsarbeit und demokratischer Kultur. Als demokratische Erinnerungsarbeit versteht er das pluralistische (aber nicht beliebige), partizipatorische (und wissenschaftlich fundierte) und auf die deutsche Gesellschaft bezogene (jedoch international vernetzte) Tätigkeitsfeld von Gedenkstätten und von Einrichtungen der politischen Bildung im Kontext der Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte, besonders der Zeit des Nationalsozialismus.

Um einer exklusiven erinnerungskulturellen Bedeutung der NS-Zeit entgegenzuarbeiten, sollten aber sowohl die stalinistische Diktatur als auch die „Relevanz anderer Menschheitsverbrechen“ (S. 85) stärker berücksichtigt werden. Faulenbach sieht die Zeit dafür gekommen, „die verschiedenen Erinnerungskulturen stärker miteinander zu verknüpfen“, um so der „Hypertrophie des Nationalen in der Erinnerungsarbeit“ entgegenzuarbeiten. Deshalb formuliert er „ein europäisches Gedächtnis und eine europäische Erinnerungskultur“ als langfristiges Ziel, aber nicht als Substitut der nationalen Erinnerungskulturen, sondern ein diese verbindender und ergänzender „Überschneidungsbereich mit eigener Perspektivik“ (S. 85).

Gute Ergänzungen hierzu stellen zwei Texte dar, die aus der Praxis des Gedenkens schöpfen. So Regina Scheers eindrucksvoller, aber nicht ganz neuer Bericht 2 über Brandenburger Gedenksteine und Mahnmale, die, über mehrere politische Systeme hinweg, eine komplexe Geschichte der Widmung, Umwidmung, teilweise des Abrisses – und auch des Vergessens ursprünglicher Erinnerungsanlässe – aufweisen. Scheers Text, so wünscht man sich, sollte zur Pflichtlektüre kommunaler Kulturreferenten werden.

Eine langjährige Praktikerin der Gedenkstättenarbeit, Annegret Ehmann, markiert in ihrem engagierten Beitrag die Herausforderungen und Schwachstellen gegenwärtiger deutscher Gedenkstättenpädagogik, die sie insbesondere in einem Gegensatz zwischen flächendeckender Institutionalisierung und einer gewissen Monokultur der formalen Vermittlung sieht. Unter letzterem fasst sie eine „rezeptive bzw. gelenkte Kurzzeitpädagogik“ (S. 93) sowie eine oft überästhetisierte, detailversessene und einseitig kognitiv-rezeptive Text- und Bildpräsentation. Sie empfiehlt den Gedenkstätten- und Ausstellungsverantwortlichen dringend, die Aufgaben des Dialogs und der wirklichen Partizipation der Besucher ernst zu nehmen: „Wenn historische Erinnerungskultur und kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus demokratisches Bewusstsein fördern sollen, dann müssten vor allem die Formen der Vermittlung demokratischer werden.“ (S. 94).

Ihre generelle Absage an die Praxis, in Gedenkstätten auch dem Rechtsextremismus Paroli zu bieten, da dies auch eine Instrumentalisierung der Würde von Opfern und Orten darstelle, ist jedoch problematisch. Stellen doch gerade die Orte und – solange möglich – die Konfrontation mit den hier Geschundenen das Zentrum der historischen Aufklärung über den NS-Terror dar. Wenn der gewaltbereite rechtsextreme junge Mann von der unmittelbaren Konfrontation damit verschont bleibt, hat dies nicht nur den Geruch der pädagogischen Kapitulation, sondern auch einer unangebrachten Sakralisierung.

Der „Erinnerungsrahmen verändert sich, weil das Erinnerungskollektiv sich verändert“ (S. 105). Hinter dieser scheinbar lapidaren Feststellung Astrid Messerschmidts verbirgt sich die normativ und praxeologisch vielleicht brisanteste Thematik, die in der Sektion „Erinnerungskulturen in der Einwanderungsgesellschaft“ behandelt wird. Leider nur in einem kurzen Beitrag von Ülfet Talu wird die Sichtweise einer Betroffenen greifbar, die am Beispiel des etablierten schulischen Geschichtsunterrichts zeigt, wie die Ausblendung der Geschichte der Herkunftsländer von Immigranten oft als ausgrenzend wahrgenommen wird, mitunter als Impuls, „sich stärker zu der Herkunft ihrer Eltern zu bekennen“ (S. 138). Dieses „Dilemma, in der Einwanderungsgesellschaft auf einen nationalen Geschichtsdiskurs verwiesen zu sein“, beschreibt Wolfgang Meseth und skizziert hierbei besonders den – zumindest aus nationalgeschichtlicher und geschichtspolitischer Perspektive so verstehbaren – Fluchtweg der Universalisierung des Erinnerns, den er als „paradoxen Versuch einer Trennung des Untrennbaren“ (S. 132) problematisiert.

Genau diesen Weg präferiert Messerschmidt, indem sie sich gegen ein Erinnern wendet, das primär eine „nationale Mitte“ (S. 103) schaffe. Neben der Forderung nach einer „Auseinandersetzung mit den Geschlechtersignaturen im Holocaust-Gedächtnis“ (S. 110) skizziert sie das Projekt einer „,Entethnisierung´ von Erinnerung“ (S. 106). Ein problematisches Vorhaben, einerseits wegen der darin angelegten Unterschätzung der Bindekraft nationaler Strukturen, andererseits wegen der damit implizierten politischen Konsequenzen: der Aufweichung, ja absehbaren Annullierung der nationalen Haftungsgemeinschaft für die NS-Verbrechen.

In der vierten Sektion „Vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis“, die mit Fotografien aus Gesa Bechers Ausstellung „Andenken – Gedenken“ eingeleitet wird, berichtet Jens Michelsen von der seit etwa einem Jahrzehnt intensivierten Oral-History-Arbeit mit den Überlebenden der NS-Lager. In diesem Zusammenhang diskutiert Katharina Hoffmann den wissenschaftlich-pädagogischen Status von lebensgeschichtlichen Erinnerungen. Insgesamt wird in diesem Teil des Bandes die gedächtnistheoretisch mehrfach angesprochene Transformation zum kulturellen Gedächtnis nicht mit eigenen Beiträgen inhaltlich ausgeführt; stattdessen geht es hier fast ausschließlich – mit Ausnahme des Textes von Michelsen – um unterschiedliche Felder der Oral History, die mit Jan Assmanns Theorem des „kommunikativen Gedächtnisses“ weitgehend gleichgesetzt wird.

Der Band wird abgeschlossen von sieben Beiträgen, in denen, gewissermaßen als Werkstattberichte, einzelne erinnerungskulturelle Arbeitsbereiche und Konzepte vorgestellt werden; die betreffenden Autoren schreiben in eigener Sache, weshalb die kritische Perspektive hier zurücktritt. Dabei geht es u.a. um zeithistorische Internet-Angebote zur Aufklärung und seriösen Information über Rechtsextremismus und Nationalsozialismus (Stephanie Marra), um Leitideen der Bildungsarbeit im Jüdischen Museum Berlin (Rebecca Picht), der Berliner Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannseekonferenz (Lore Kleiber) sowie des Frankfurter Fritz-Bauer-Instituts (Heike Deckert-Peaceman, Gottfried Kößler), ferner um den Versuch einer pädagogischen Aktualisierung von Adornos autonomiekonzentriertem Ansatz einer „Erziehung nach Auschwitz“ (Matthias Heyl).

Der Band hat seinen Schwerpunkt in der Auseinandersetzung mit der Praxis historisch-politischer Bildungsarbeit. Da die meisten Autoren darum bemüht sind, die übergreifenden theoretischen Aspekte in ihren Beiträgen zu berücksichtigen, sind hier fast durchgängig anregende, reflektierte und thematisch vielfältige Texte versammelt. So liegt der Wert des Tagungsbandes in der breiten, auch internationalen Herangehensweise und der überwiegend soliden Information. Er gibt wichtige Zwischenstandsberichte über die laufenden Diskussionen um gegenwärtige und mögliche künftige Umbrüche in den Erinnerungskulturen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa die jüngeren Veröffentlichungen: Knigge, Volkhard; Frei, Norbert (Hgg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002; Levy, Daniel ; Sznaider, Natan, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001; Escudier, Alexandre; Sauzay, Brigitte; von Thadden, Rudolf (Hgg.), Gedenken im Zwiespalt. Konfliktlinien europäischen Erinnerns, Göttingen 2001; Fechler, Bernd; Kößler, Gottfried; Liebertz-Groß, Till (Hgg.), „Erziehung nach Auschwitz“ in der multikulturellen Gesellschaft. Pädagogische und soziologische Annäherungen, Weinheim 2000.
2 Leider verschweigt die Autorin, dass es sich bei ihrem Text um den gekürzten Nachdruck ihres früheren Aufsatzes handelt: Geschützte Leere. Ein Recherchebericht über politische Denkmäler in Brandenburg, in: Leo, Annette (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 127-151.

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