M. Düring u.a. (Hrsg.): Handbuch Historische Netzwerkforschung

Cover
Titel
Handbuch Historische Netzwerkforschung. Grundlagen und Anwendungen


Herausgeber
Düring, Marten; Eumann, Ulrich; Stark, Martin; von Keyserlingk, Linda
Reihe
Schriftenreihe des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen zur Methodenforschung 1
Erschienen
Berlin 2016: LIT Verlag
Anzahl Seiten
211 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Rollinger, Fachbereich III - Alte Geschichte, Universität Trier

Der Begriff des „Netzwerkes" erlebt in jüngeren Jahren eine derartige Beliebtheit, dass selbst die Feststellung seiner Popularität in der Zwischenzeit zur Binse geworden ist. Als Thema der Geschichtswissenschaften (ebenso der Historischen Sozialwissenschaft) dürfen soziale Beziehungen und Einbettung aber schon seit Jahrzehnten gelten. Doch auch wenn es verfrüht und etwas optimistisch erscheinen mag, der ständig wachsenden Liste an geschichtswissenschaftlichen turns einen weiteren, nämlich einen network turn hinzufügen zu wollen, lässt sich doch konstatieren, dass gerade in den letzten zwei Dekaden aus dem methodischen und theoretischen Import von sozialwissenschaftlicher Netzwerkanalyse und seiner Verbindung mit traditioneller, historisch-interpretierender Heuristik eine neue historische Perspektive entstanden ist, die (aktuell) mit dem zunehmend sich verfestigenden Namen der „Historischen Netzwerkforschung“ bezeichnet wird.1

Zwar gibt es mittlerweile einen fast schon ausufernden Katalog an Einführungen und Handbüchern zur Sozialen Netzwerkanalyse und allen möglichen Aspekten der Netzwerktheorie, doch sind diese im Bemühen, einem möglichst großen Leserkreis hilfreich sein zu wollen, größtenteils so allgemein gehalten, dass sie dem Historiker und den spezifischen Problemen, denen er bei der Anwendung dieser Theorie und Methodik unweigerlich begegnet, von keiner großen Hilfe sein können.2 Im Gegensatz dazu richtet sich das vorliegende „Handbuch“ explizit an den Historiker. In zwei großen Abschnitten werden zunächst „Grundlagen für HistorikerInnen“ skizziert und anschließend „Historische Anwendungen“ aufgezeigt.

Im „Grundlagen“-Teil finden sich zu Beginn zwei eher resümierende, gleichwohl aber informative und der Verortung des noch neuen Forschungsfeldes in der modernen Historiographie dienliche Abschnitte zur „Geschichte der Netzwerkanalyse“ (von Christian Nitschke) und den „Wurzeln der Historischen Netzwerkforschung“ (von Matthias Bixler). Während Nitschke einen kurzen Abriss der Entwicklung des netzwerkanalytischen Paradigmas in den Sozialwissenschaften und ihrer wichtigsten Vertreter liefert, konzentriert sich Bixler auf die Versuche von Geschichtswissenschaftlern, sich dieses Paradigmas zu bedienen, um historische Fragestellungen zu beantworten. Dabei attestiert er diesen Versuchen vollkommen zu Recht einen „hohen Grad an Heterogenität und Fragmentierung“ (S. 45), nicht zuletzt auch aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen von Historischer Sozialwissenschaft (vertreten etwa von John Padgett, Peter Bearman und Paul McLean3) und eigentlicher Historiographie, von den Anfängen der von Wolfgang Reinhard geprägten, in der Hauptsache aber von seinen Schülern vorangetriebenen Verflechtungsanalyse, bis hin zur aktuellen Historischen Netzwerkforschung.

Ein „Forschungsüberblick zur Historischen Netzwerkforschung“ von Christian Marx bietet im Anschluss eine hilfreiche Kategorisierung aktueller Forschungsfelder vor allem im deutschsprachigen Raum, konzentriert sich dem etwas irreführenden Titel des Beitrags zum Trotz aber auf eine thematische Auswahl aktueller Forschungsinteressen. Dies ist durchaus verständlich, denn obwohl das Feld erst dabei ist, sich zu etablieren, gibt es bereits jetzt eine kaum mehr zu überblickende Anzahl von Einzelpublikationen, die den Netzwerkbegriff in verschiedenster Weise und in unterschiedlicher analytischer Durchdringung benutzen. Diesem Bestand kann kein individueller Forschungsüberblick gerecht werden, und es wäre müßig, an dieser Stelle eine eigene Auflistung von Beiträgen anzufügen, die nach Ansicht des Rezensenten Erwähnung hätten finden können.4 Abgerundet wird dieser erste Teil durch einen Beitrag von Marten Düring und Florian Kerschbaumer, der sich mit eher grundsätzlichen Fragen nach der Vereinbarkeit von historischer Hermeneutik und quantitativer Geschichtswissenschaft beschäftigt. Die Autoren betonen zu Recht, dass Netzwerkanalysen (und generell jegliche Quantifizierungen historischer Daten) kein Selbstzweck sein können, da erst in der von Historikern vorgenommenen Auswertung der Ergebnisse die eigentliche Forschungsleitung bestehe, und plädieren für eine rigorose Selbstkritik der netzwerkwissenschaftlich arbeitenden Historiker.

Der zweite Teil widmet sich konkreten Anwendungsgebieten netzwerkanalytischer Vorgehensweisen für Historiker. Der Beitrag von Robert Gramsch ist dabei der einzige Beitrag, der einer konkreten historischen Epoche – dem Mittelalter – gewidmet ist und deutlich abgesteckte zukünftige Forschungsfelder skizziert. Immer wieder betont der Verfasser die Schwierigkeiten, die sich aus der spezifischen Quellenlage der Mittelalterforschung ergeben, endet aber mit einem deutlichen Plädoyer für eine breitere Anwendung (S. 98). Demselben methodischen Problem, nämlich wie der Historiker von den ihm zur Verfügung stehenden Quellen zu Netzwerken gelangen kann, widmet sich der folgende Beitrag „Von Quellen zu Netzwerken“: Matthias Bixler und Daniel Reupke wollen mit ihm explizit keinen Leitfaden für die Gewinnung netzwerkanalytisch relevanter Daten aus historischen Quellen bieten, denn dafür seien die zur Verfügungen stehenden Quellen zu heterogen. Vielmehr möchten sie für die Schwierigkeiten bei der Datengewinnung sensibilisieren. Da eine allgemeingültige Methodik hierzu noch nicht entwickelt wurde (und aufgrund der großen Quellenunterschied in einzelnen Epochen und Disziplinen vielleicht auch nicht zu entwickeln ist), müsse, so die Verfasser, jeder Forscher auf absehbare Zeit eigene Herangehensweisen und Strategien entwickeln. Bei allen Schwierigkeiten gelangen sie zu dem Schluss, dass eine qualitativ hochwertige Datenerhebung möglich sei, betonen aber die Bedeutung einer transparenten Kommunikation von Kriterien und Vorgehen. Ulrich Eumann und Katja Mayer behandeln dagegen in ihren Beiträgen, aus unterschiedlichen Perspektiven, einen spezifischen methodischen Vorteil der Netzwerkforschung, nämlich die Möglichkeit, weitverzweigte und dichte soziale Beziehungen visuell darstellen zu können. Während Mayer eine wissenschafts- und kulturhistorisch interessante Analyse einer „allgemeine[n] visuelle[n] Kultur der Vernetztheit“ (S. 153) präsentiert5, zeigt Eumann aufgrund von Beispielen aus seiner eigenen Forschung die Vorteile von Netzwerkvisualisierungen als heuristische Instrumente auf. Weit davon entfernt, reine komplexitätsreduzierende Abbildungen zu sein, seien Visualisierung als „heuristisches Hilfsmittel während des Forschungsprozesses“ (S. 137) zu verstehen, durch das der Historiker zu neuen Erkenntnissen und Ansichten gelangen könne. Einen finalen methodischen Beitrag liefert Martin Stark, der sich der neben der Visualisierung geläufigsten Ergebnisse netzwerkanalytischer Untersuchungen annimmt: den vermeintlich objektiven und alleine per se aussagekräftigen quantitativen Messwerten (wie Netzwerkdichte und Zentralität). Stark akzeptiert die Sinnhaftigkeit solcher Messwerte für historische Daten, betont aber, dass man ihnen nicht blind vertrauen dürfe. Vielmehr müsse sich der Historiker „zunächst einen Überblick zu den Methoden, Theorien und Möglichkeiten“ solch formeller Messungen verschaffen, um die Ergebnisse anschließend historisch sinnvoll interpretieren zu können (S. 171).

Abgerundet wird der Band durch ein zwar nützliches, aber notwendigerweise simplifizierendes Schaubild, welches dem anstrebenden Historischen Netzwerkforscher Aufschluss darüber geben soll, ob sich sein Thema für die Anwendung dieser Forschungsperspektive eignet, eine kurze Übersicht über aktuelle Softwarelösungen zur Netzwerkanalyse, eine Bibliographie und ein Autorenverzeichnis sowie durch ein knappes, aber insbesondere für den anvisierten Leserkreis der (noch) weniger versierten Netzwerkforscher nicht unnützes Register.

Obgleich der Titel – „Handbuch Historische Netzwerkforschung“ – anderes suggerieren mag, versteht sich die Publikation nicht als ein traditionelles Handbuch, welches mehr oder weniger detailliert in die verschiedenen Anwendungen und Besonderheiten einführt, um so dem an der Historischen Netzwerkforschung Interessierten gleichsam als eine Art ‚Bedienungsanleitung’ zu dienen. Einem solchen ‚Kanonisierungsversuch’ widersetzen sich die Herausgeber im Gegenteil schon in der Einleitung. Vielmehr sehen sie die Notwendigkeit, einem noch im Wachsen bzw. in der Entwicklung befindlichen Forschungsfeld, nämlich der Anwendung netzwerktheoretischer und -analytischer Methoden und Perspektiven auf spezifisch historische Fragestellung, einen ersten Syntheseversuch an die Seite zu stellen, der auf die Entwicklung des Forschungsfelds zurückblickt, aktuelle Tendenzen widergibt und fundamentale Anwendungsbereiche und -muster zu veranschaulichen versucht. An der Notwendigkeit eines solchen Unternehmens kann niemand zweifeln, der selbst versucht hat oder aktuell versucht, das Feld der Historischen Netzwerkforschung zu erschließen. Jedem daran interessierten Historiker sei der vorliegende Band als ebenso überaus nützliche Handreiche zum Einstieg wie stimulierende Begleitpublikation zur Forschung anempfohlen.

Anmerkungen:
1 Einen nicht unerheblichen Anteil an der Etablierung und Verbreitung dieses methodischen Zugangs haben interdisziplinäre Forschungsverbünde gehabt, wie etwa der Forschungscluster „Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke" der Universitäten Trier und Mainz. Informationen zur Historischen Netzwerkforschung hält die überaus nützliche Onlineressource http://historicalnetworkresearch.org (05.10.2016) bereit, die von einem der Herausgeber gepflegt wird. Es soll auch im Interesse der wissenschaftlichen Redlichkeit nicht verschwiegen bleiben, dass der Rezensent selbst am Forschungscluster beteiligt war und darüber sowie durch ein aktuelles Publikationsprojekt mit einigen der am vorliegenden Band beteiligten Autoren verbunden ist. An der Konzeption, Entstehung oder Veröffentlichung des zu rezensierenden Werkes war er in keinster Weise beteiligt.
2 Die bekanntesten Einführungen sind sicherlich u.a. Stanley Wasserman / Katherine Faust, Social Network Analysis, Cambridge 1994 und John Scott / Peter J. Carrington (Hrsg.), The SAGE Handbook of Social Network Analysis, London 2011 sowie im deutschsprachigen Raum Dorothea Jansen, Einführung in die Netzwerkanalyse: Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, 3. Auflage, Wiesbaden 2006 und Christian Stegbauer / Roger Häußling (Hrsg.), Handbuch Netzwerkforschung (Netzwerkforschung 4), Wiesbaden 2010. Daneben gibt es eine wachsende Anzahl von kürzeren Beiträgen seitens Historikern, die sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Materie beschäftigt haben. Sie sind mit großem Gewinn zu lesen – ja: wohl essentiell für jede Beschäftigung mit dem Thema –, gleichwohl sie leider recht verstreut publiziert sind. Als Anregung für eine zukünftige Veröffentlichung soll der Hinweis auf den potentiellen Gewinn einer Sammelausgabe solcher Beiträge verstanden sein.
3 Paul McLean, The Art of the Network: Strategic Interaction and Patronage in Renaissance Florence, Durham (NC) 2007; Peter Bearman, Relations into Rhetorics: Local Elite Social Structure in Norfolk, England, 1540–1640, New Brunswick (NJ) 1993; John F. Padgett / Christopher K. Ansell, Robust Action and the Rise of the Medici, 1400–1434, in: American Journal of Sociology 98 (1993), 1259–1319.
4 Eine ständig aktualisierte und kollaborativ erarbeitete Bibliographie zu Historischer Netzwerkforschung findet sich bei der bereits erwähnten Onlineressource http://historicalnetworkresearch.org (04.10.2016).
5 Derselben Thematik widmete sich die Autorin bereits in ihrer Wiener Dissertation aus dem Jahr 2011 („Imag[in]ing Social Networks. Zur epistemischen Praxis der Visualisierung Sozialer Netzwerke, Diss. Wien 2011). Für 2018 angekündigt ist zudem ein Handbuch zur „Visualisierung sozialer Netzwerke“ (gemeinsam mit Roger Häußling, Betina Hollstein, Jürgen Pfeffer und Florian Straus).

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