Goschler, Constantin; Kössler, Till (Hrsg.): Vererbung oder Umwelt?. Ungleichheit zwischen Biologie und Gesellschaft seit 1945. Göttingen 2016 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1705-5 255 S. € 24,90

: Destins de l'eugénisme. . Paris 2016 : Seuil, ISBN 978-2-02-095027-5 576 S. € 29,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Emmanuel Droit, Neuere und Neueste Geschichte Europas, Centre Marc Bloch Berlin

In der in Deutschland seit 2014 ausgestrahlten kanadischen Fernsehserie „Orphan Black“ entdeckt die Kleinkriminelle Sarah nach einem Identitätstausch mit einer Selbstmörderin, dass sie ein Klon bzw. das Ergebnis neoevolutionistischer Experimente ist. Diese popkulturelle Dystopie spiegelt den seit den 1980er-Jahren existierenden Diskurs über die Eugenik als gefährliche Ideologie per se wider. Der Nationalsozialismus und die Endlösung verkörperten die kriminellste Ausartung dieser wissenschaftsgläubigen und transnationalen Ideologie und der qualitativen Bevölkerungsplanung, die in anderen europäischen und außereuropäischen Ländern (Großbritannien, Italien, Schweden, die Schweiz, die Vereinigten Staaten, Australien) vor 1945 einen nicht unerheblichen intellektuellen und moralischen Einfluss gefunden hatte.

Zwei aktuelle zeitgeschichtliche Untersuchungen, eine Monographie von dem französischen Historiker Paul-André Rosental und ein von den Bochumer Historikern Constantin Goschler und Till Kössler herausgegebener Sammelband beschäftigen sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen Gesellschaft und Biologie nach 1945 am Beispiel einerseits der Neukonfiguration der Eugenik in Frankreich und andererseits der Thematik der natürlichen Unterschiede in Deutschland (sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR) und deren gesellschaftlichen Konsequenzen. In einer Zeit wo die paläontologische Genetik und die evolutionäre Archäologie zu der Rückkehr von biologischen Metaerzählungen des 19. Jahrhunderts beitragen1, bieten diese zwei Bücher eine heilsame kritische Perspektive auf die Vererbung-Umwelt-Debatte und auf die Unsichtbarkeit neoevolutionistischer Diskurse in unseren immer ungleicheren kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften.

Jenseits der unterschiedlichen Veröffentlichungsformate ergeben sich aus diesen zwei Publikationen zwei gemeinsame Leitfragen: zum einen, welche Formen die Neukonfiguration der Vererbung-Umwelt-Debatte nach 1945 in modernen demokratischen Gesellschaften angenommen hat; zum anderen, welche Kontinuitäten sich zum rassistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts2 und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten lassen.

Paul-André Rosental, Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Sciences Po Paris, beschäftigt sich seit Jahren mit der Geschichte von Migration und Familie, der öffentlichen Gesundheitsvorsorge und der Erneuerung von Eugenik-Konzepten nach 1945.3 Seine Monographie nimmt sich als Forschungsobjekt die Gründung einer Gartenstadt in Straßburg 1924 vor: die Jardins Ungemach. Die durch Kriegsprofite finanzierte Initiative zur Gründung kam von Alfred Dachert, einem elsässischen Unternehmer, der die eugenische Ideologie von Galton kannte und bewunderte. In seiner Einleitung beschreibt Rosental, wie er im Archiv des französischen Instituts für demographische Studien INED (Institut National d’Études Démographiques) in Paris mit großem Erstaunen einen Plan dieses eugenischen Projekts entdeckte. Dieses Erstaunen war der Ausgangspunkt für eine historische Reflexion über die französische Eugenik vor und nach 1945. Im ersten Teil des Buchs zeigt Rosental exemplarisch auf der Mikroebene, wie eugenische Kriterien (unter anderem die Wahrscheinlichkeit junger Ehepaare, gesunde Kinder zu gebären) die Auswahl der eher bescheidenen Bewohner der Gartenstadt bis in die frühen 1980er-Jahre bestimmten. Frappant ist dabei die Fortdauer dieses eugenischen Experimentes – „gebären oder umziehen“ (S. 248) – nach dem Zweiten Weltkrieg. Es wurde von der Stadt Straßburg, unabhängig davon, ob ein Sozialist (Jacques Peirotes) in der Zwischenkriegszeit oder ein Christdemokrat nach 1945 (Pierre Pflimlin) im Rathaus saß, und mit der expliziten Unterstützung des französischen Staates fortgesetzt. Zum Beispiel wurden regelmäßige Inspektionen zum „guten Benehmen“ der Haushalte durchgeführt. Mit diesen Befunden kann Rosental die tatsächliche Relevanz der Eugenik in der französischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und den allgemein politischen Konsens (von den Kommunisten bis zu den Konservativen) aufzeigen. Bisher wurde immer behauptet, im republikanischen Frankreich sei so gut wie keine eugenische Politik betrieben worden. Allein das Vichy-Regime hat 1942 voreheliche medizinische Untersuchungen eingeführt und nur wenige Persönlichkeiten (darunter zwei Nobelpreisträger Alexis Carrel und Charles Richet) haben die „negative Eugenik“ befürwortet.

Auf der Grundlage dieser mikrohistorischen Studie entwickelt Rosental im zweiten Teil seines Buchs eine breitere Reflexion über das spannungsreiche Verhältnis der demokratischen Gesellschaften (in Frankreich, Großbritannien und in den Vereinigten Staaten) zur Eugenik. Er stellt die These auf, die „negative“ Eugenik habe sich in eine „positive“ gewandelt. Und er sucht nach den Spuren dieser unterschwelligen Eugenik sowohl in wissenschaftlichen Disziplinen (von der Psychologie zur Biologie über die Demographie) als auch in der Bildungs- und Sozialpolitik Frankreichs. Diese „Eugenik mit menschlichem Antlitz“ (S. 541) wurde durch eine Reihe von Experten, Wissenschaftlern und hohen Funktionären vermittelt und vorangetrieben, unter anderem dem berühmten Demographen Alfred Sauvy. In einem letzten Schritt führt Rosental Überlegungen darüber an, wie sich in unseren post-materialistischen Gesellschaften eine Art kommerzialisierter Eugenik verbreitet. Es gebe vermehrt Theorien und Diskurse, deren Ziel es sei, sowohl die intellektuellen als auch die physischen Fähigkeiten einer Gesellschaft innerhalb der existierenden Umwelt zu optimieren.

Der von Goschler und Kössler herausgegebene Sammelband über das Spannungsfeld von Anlage und Umwelt (die Nature-Nurture-Debatte) knüpft an Rosentals brillante Studie an. Er ist aus der Tagung „Ungleichheit zwischen Natur und Gesellschaft. Zur Debatte um Vererbung oder Umwelt seit 1945“ entstanden, die im Juni 2014 an der Ruhr-Universität Bochum stattfand. Wie Rosental stellen Goschler und Kössler die vorgebliche Zäsur von 1945 mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und dem Ende des „eugenischen Moments“ (Zwangssterilisation, Endlösung) infrage. Anhand einer Reihe von konkreten Untersuchungen zu biologischen Diskursen im Spannungsverhältnis von Historizität und Soziologisierung der Probleme in verschiedenen Gesellschaftsbereichen wie dem der Bildung (in welchem der biologisch-statische Begabungsbegriff in den 1960er-Jahren durch einen sozio-dynamischen Begriff ersetzt wurde), dem der Gesundheit (am Beispiel des Schlafs) oder der Gewaltproblematik wird exemplarisch aufgezeigt, dass die Entbiologisierung des Sozialen nach 1945 keineswegs abgeschlossen war.

In vielen Gesellschaftsbereichen und Wissensfeldern unserer westeuropäischen Gesellschaften (wie etwa der Kriminologie, der Psychologie, den Kognitionswissenschaften) lassen sich unter anderem aufgrund des Weiterwirkens vieler Experten Kontinuitäten in den biologischen und soziologischen Diskursen beobachten. Der Sammelband von Goschler und Kössler folgt demselben roten Faden wie die Monographie von Rosental: Der „negativen Eugenik“ folgte eine „positive Eugenik“, welche keine biologisch-intervenierenden Maßnahmen mehr vornahm, die der Vermehrung von Menschen mit erwünschten oder als positiv bewerteten Erbanlagen dienten. Der demgegenüber subtilere, neuentstehende Optimierungsdruck (die „positive Eugenik“) wird im Sammelband unter anderem durch die starke Präsenz der Thematik der Bildung und der Intelligenz sichtbar. Exemplarisch zeigt Till Kössler in seiner Analyse der deutschen Bildungsdebatte im 20. Jahrhundert, wie im Kontext der Bildungsexpansion und der Begabungsförderung der 1960er-Jahre die Anlage-Umwelt-Debatte eine neue öffentliche Bedeutung annahm.

Aber auch im Beitrag von Hannah Ahlheim über die Geschichte des Schlafenlernens wird dieser sozio-wirtschaftliche Leistungsdruck veranschaulicht. Die Entstehung eines „richtigen“ Schlafens im 20. Jahrhundert war eng mit sozio-ökonomischen Entwicklungen verbunden und spiegelt die Dialektik einer Wissenschaft und die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft wider, die immer mehr für Flexibilität in der Schlafkultur plädiert. Auch die Volksdemokratien des Ostblocks sind im Sammelband durch den Beitrag von Igor Polianski über die Mitschurin-Ideologie in der DDR repräsentiert. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Nature-Nurture-Debatte kein Spezifikum des Westens war. Sie fand nur in einer anderen politisch-ideologischen Konfiguration (mit der Erziehung eines neuen sozialistischen Menschen) statt und bis zur Durchsetzung der Lysenko-Doktrin in den frühen 1950er-Jahren gab es eine autonome ostdeutsche Debatte zum Verhältnis zwischen dem Erbgut und der kriegerischen Neigung der Deutschen.

Insgesamt bieten die Monographie von Rosental und der Sammelband von Goschler und Kössler zwei wichtige Bücher zum Verhältnis zwischen Gesellschaft und Biologie in unseren modernen Demokratien. Beide Bücher befinden sich an der Schnittstelle zwischen einer Kulturgeschichte des Politischen und der Wissenschaftsgeschichte. Sie untersuchen diese Thematik in einer Perspektive der longue durée und stellen die Zäsur von 1945 sehr überzeugend in Frage.

Last but not least eröffnen beide Publikationen vielversprechende Perspektiven auf eine Zeitgeschichte des Spannungsverhältnisses zwischen Macht und Wissen bzw. zwischen wissenschaftlichen und politischen Diskursen, aber auch auf eine Kulturgeschichte der Optimierung bzw. der Leistungsfähigkeit des postmodernen Individuums, die noch wesentlich zu schreiben ist. Die Zeitgeschichte könnte einen großen Erkenntnisgewinn haben, mit anderen Geistes- und Sozialwissenschaften wie die Philosophie (in der Tradition der Reflexion über die Biopolitik von Michel Foucault bis Giorgio Agamben) oder die Soziologie (in der Tradition von Barbara Duden und ihre Reflexion über die Popularisierung und Vermittlung von wissenschaftlichen Begriffen wie das Gen) dieses Forschungsfeld gemeinsam zu bearbeiten.

Anmerkungen:
1 Siehe die von Markus Messling, Jean-Louis Georget und Marcel Lepper konzipierte internationale und interdisziplinäre Tagung „Höhlen: Paläontologie, Philologie und Anthropologie“, die am 3. und am 4. März 2016 am Martin-Gropius-Bau stattfand.
2 Markus Messling, Gebeugter Geist. Rassismus und Erkenntnis in der modernen europäischen Philologie, Göttingen 2016.
3 Paul-André Rosental, L’intelligence démographique, Sciences et politiques des populations en France, Paris 2003; Ders. (Hrsg.), “Eugenics after 1945”, Journal of Modern European History 10 (2012), 4.

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