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Titel
Leben mit 'kranckhait'. Der gebrechliche Körper in der häuslichen Überlieferung des 15. und 16. Jahrhunderts. Überlegungen zu einer Disability History der Vormoderne


Autor(en)
Frohne, Bianca
Reihe
Studien und Texte zur Geistes- und Sozialgeschichte des Mittelalters 9
Erschienen
Affalterbach 2014: Didymos Verlag
Anzahl Seiten
456 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Rohmann, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Drei Titel hat die vorliegende Dissertation: einen vorderhand sehr konkreten, der freilich durch das Zitat eines Quellenbegriffs semantische Differenz markiert; einen systematischen, der recht gut das Forschungsthema umschreibt; und einen weiteren, der einen übergeordneten Anspruch auf Erkenntniswert erhebt, zugleich aber explizit eine begrenzte Durchdringungstiefe andeutet. Denn die historischen Formen des Umgangs mit körperlicher, geistiger und/oder seelischer Beeinträchtigung sind seit den 2000er-Jahren zu einem Thema geworden. Erste Synthesen liegen vor (etwa von Irina Metzler).1 Bianca Frohne hat ihre Arbeit im Rahmen des großen „Homo debilis“-Projekts geschrieben, welches von 2007 bis 2016 an der Universität Bremen vielfältige Grundlagenarbeit in diesem Bereich geleistet hat.2 Krankheit und „Behinderung“ werden auch hier nicht mehr als naturwissenschaftliche Entitäten, sondern als kulturelle Konstruktionen verstanden, und insofern betrifft jede historische Untersuchung immer zugleich den Umgang mit „kranckhait“ und die Medien ihrer Konstruktion. Zentral ist dabei die Beobachtung, dass vormoderne Körperlichkeit, soweit sie quellennotorisch wird, sich durch ein hohes Maß an „Fluidität“ auszeichnet. Und maßgeblich ist der Anspruch, nicht mehr implizit aus der Sicht der Ärzte zu schreiben, sondern eine patientengeschichtliche Perspektive einzunehmen.

Diese methodischen Grundsätze werden von Bianca Frohne nun auf ein Set von Quellengattungen angewendet, welche ihrerseits seit längerem in vielerlei Hinsicht im Fokus der Forschung stehen: Familienchroniken, Tagebücher, Briefe, Kalendarien, häusliche Aufzeichnungen aus dem 15. und 16. Jahrhundert, die auf ganz unterschiedliche Weise über Gebrechlichkeit Auskunft geben oder eben auch nicht. Manchmal handelt es sich um Selbstzeugnisse von Kranken, manchmal um Äußerungen ihrer Verwandten über diese und das Leben mit ihnen. Da entsprechende Textformen dort besonders reich überliefert sind, war es durchaus naheliegend, sich größtenteils auf Fallbeispiele aus Nürnberg und (vereinzelt) Augsburg zu beschränken. So kann man sich sowohl für die häusliche Überlieferung3 wie für Medizingeschichte und Krankenpflege4 auf reiche Vorarbeiten stützen, was freilich auch den Neuigkeitswert mancher Befunde schmälert. Unausweichlich ist damit auch, dass die Befunde sich weitgehend auf die kaufmännische und politische Oberschicht der Stadt beschränken, aus der uns eben entsprechende Quellen vorliegen.

Dabei ist Frohnes Herangehensweise durchgehend eine doppelte: Einerseits zieht sie die häusliche Schriftlichkeit als Quelle heran, um Einsichten über das Zusammenleben von Gesunden und Gebrechlichen und über die Wahrnehmung von „Gebrechlichkeit“ zu gewinnen. Andererseits reflektiert sie eingehend die jeweils sehr spezifischen Charakteristika der Thematisierung von „Krankheit“ in den verschiedenen Quellenformen. Während ihre mikrohistorischen Detailstudien für die erste Frage vor allem eine willkommene Illustration, Präzisierung und Differenzierung des bekannten Forschungsstandes liefern, leistet Frohne dort, wo die Medialität der Texte selbst in den Fokus rückt, einen ganz eigenständigen Beitrag: Wie konnte man über die eigene Krankheit oder die eines Verwandten in den jeweiligen Gattungen kommunizieren, wie nicht? Was war wann sagbar, was nicht? Weshalb konnte, ja: musste man manchmal Gebrechlichkeit benennen, etwa um eine Rechtfertigung für die Nichterfüllung von Rollenerwartungen zu bekommen, während man bei anderer Gelegenheit mehr oder weniger beredt über sie schwieg? So kann Frohne zeigen, dass manche Väter minutiös über die körperliche wie seelische Entwicklung ihrer Kinder Buch führten, um aus diesen Notizen dann retrospektiv höchst selektive Kurzbiographien etwa für die Familienchronik zu komponieren. Oder dass in der Briefkorrespondenz in der Regel das Wissen über die konkrete Krankheit vorausgesetzt wird, so dass wir nur Andeutungen zu lesen bekommen. Wenn freilich weshalb auch immer Bedarf bestand, konnte die detaillierte Schilderung etwa der Symptome oder auch der sehr konkreten Umstände der Betreuung höchste Bedeutung erlangen.

Denn wie wir seit Ernst Mummenhoff5 wissen, wurden chronisch Kranke, wann immer möglich, zunächst im Haus gepflegt und versorgt, sei es von den (in der Regel) weiblichen Verwandten, sei es von dazu bezahltem Personal. Ziel war dabei die möglichst weitgehende und möglichst rasche Integration bzw. Re-Integration in das Alltagsleben, wie es dem jeweils sozialspezifischen Habitus entsprach. Auch die körperlich, geistig oder seelisch beeinträchtigten Kinder waren emotional eingebunden, wurden in die Ausbildung gegeben und bekamen nach Möglichkeit Aufgaben für ein „normales“ Leben zugewiesen. Wo die Umstände dies zuließen, wurden sie auch verheiratet oder man ermöglichte ihnen ein relativ selbständiges eheloses Leben. Nur wo dies sich nicht als gangbare Versorgungsoption erwies, wurden sie temporär oder dauerhaft in Spitälern, Seelhäusern oder Klöstern untergebracht – letzteres übrigens vor allem nach der Reformation, denn bis dahin hatten die Ordensregeln die Nutzung der Konvente als Unterbringungsmöglichkeit für Kranke zumindest erschwert. Besonders bei schweren Fällen von geistiger Beeinträchtigung entwickelte der Nürnberger Rat Kontrollmechanismen, um einerseits die Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu verhindern, andererseits die angemessene Unterbringung der Patienten zu gewährleisten. So zahlte er etwa die Einrichtung von Zellen in den Privathäusern, verlieh auch Ketten für die Fixierung von aggressiven Kranken oder stellte Räume in den Türmen der Stadt zur Verfügung, all dies aber erkennbar immer mit der Maßgabe einer baldigen Freilassung bei Besserung des Zustands. In diesen Fällen tritt dann Verwaltungsschriftlichkeit neben die häuslichen Quellen. Weniger stark hingegen waren die Fürsorgefunktionen etwa der Zünfte ausgebildet: Sie vermittelten eher den Zugang zu Stiftungen im Umfeld, als dass sie selbst zur Versorgung von kranken Mitgliedern beigetragen hätten.

Wer krank war oder wurde, brauchte also eine soziale Einbindung. Dann war seine Inklusion gewährleistet, und gewünscht war die (erneute) Ermöglichung einer möglichst eigenständigen Lebensführung. Die Gebrechlichen zumindest der Nürnberger Oberschicht treten uns als Subjekte ihres Lebens gegenüber, nicht allein als Objekte des Sprechens über sie. Das klingt verglichen mit heute durchaus fortschrittlich, es war freilich zumindest auch den allgemeinen materiellen Bedingungen einer Mangelgesellschaft geschuldet. Und es war mit sehr konkreten normativen Erwartungen an das Verhalten des „Patienten“ verbunden: Besonders psychische Krankheit und soziale Devianz waren vielfach erkennbar austauschbar. Historische Traditionslinien für heutige politische Debatten wären daraus also nur mit Vorsicht zu gewinnen. Denn im Umkehrschluss heißt dies ja auch: Wer nicht sozial vernetzt war, wer nicht aus einer materiell abgesicherten Familie stammte, für den gab es eben noch kein institutionalisiertes System der Versorgung. Und die Lasten waren natürlich (wie heute) nicht gleich verteilt, wie etwa die Straßburger Reformatorin Katharina Zell am eigenen Leib erfahren musste.

Für all das enthält Bianca Frohnes Buch reichhaltiges Material, welches sich etwa im Seminarbetrieb wunderbar wird anwenden lassen. Für die Disability Studies wohl wichtiger als dieser illustrative Effekt dürften die mediengeschichtlichen und diskursanalytischen Erwägungen sein. Vielleicht könnten sie auch helfen, ganz aktuelle Diskussionen in der Erforschung häuslicher Schriftlichkeit zu differenzieren. Wenn man die Führung etwa eines Hausbuches als eminent körperlichen Akt begreift, als Inkorporation der eigenen Leiblichkeit des Verfassers wie seiner Familie in die physische Gestalt eines Codex6, dann ließe sich umso präziser nachfragen, wann und in welchen Schriften der kranke Körper einschreibbar war, wann und in welchen nicht. Leider erst im Schlusskapitel und eher episodisch kommen hier auch die Bilder des Körpers als eigenständiges Medium des embodiment ins Spiel, obwohl doch gerade Familien- und Geschlechterbücher vielfach von der Kombination von Text und Bild leben.

Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, wenn Bianca Frohne zwei Bücher geschrieben hätte, eines über die Pflege von kranken Menschen, ein anderes über das Schreiben darüber. Dann wäre man jedoch beim Lesen des einen nicht ständig mit den Anregungen des anderen konfrontiert gewesen, was auch schade gewesen wäre. Es entginge uns jedenfalls viel, wenn wir dieses Buch in Zukunft nicht zur Hand nähmen. Insofern sollte man manche durch das Genre der Qualifikationsschrift bedingte Sprödigkeit gern hintanstellen.

Anmerkungen:
1 Irina Metzler, Disability in Medieval Europe. Thinking about Physical Impairment during the High Middle Ages, c. 1100–1400, London 2006; dies., A Social History of Disability in the Middle Ages. Cultural Considerations of Physical Impairment, New York 2013.
2 Cordula Nolte / Bianca Frohne / Uta Halle / Sonja Kerth (Hrsg.), Dis/ability History der Vormoderne. Ein Handbuch / Premodern Dis/ability History. A Companion, Affalterbach 2017.
3 Für Nürnberg zuletzt z.B. Christian Kuhn, Generation als Grundbegriff einer historischen Geschichtskultur. Die Nürnberger Tucher im langen 16. Jahrhundert, Göttingen 2010.
4 Ernst Mummenhoff, Die öffentliche Gesundheits- und Krankenpflege im alten Nürnberg [1898], Neustadt an der Aisch 1968.
5 Mummenhoff, Gesundheits- und Krankenpflege (wie Anm. 4).
6 Henny Sundar, Vom Leib geschrieben. Der Mikrokosmos Zürich und seine Selbstzeugnisse im 17. Jahrhundert, Köln 2016.