L. Cecchet: Poverty in Athenian Public Discourse

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Titel
Poverty in Athenian Public Discourse. From the Eve of the Peloponnesian War to the Rise of Macedonia


Autor(en)
Cecchet, Lucia
Reihe
Historia – Einzelschriften 239
Erschienen
Stuttgart 2015: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Hinsch, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Lucia Cecchets schlanke Monographie ist die überarbeitete Fassung ihrer 2012 in Heidelberg abgeschlossenen Dissertation. Cecchets Studie widmet sich einem nicht vergessenen, aber vernachlässigtem Thema, wie sie in der Einführung bemerkt: Armut. Armut müsse im Sinne Robin Osbornes in zweifacher Weise untersucht werden: als „image“ und als „reality“, wobei beide Perspektiven zu verbinden seien (S. 13).1 Cecchet beschränkt ihre eigene Quellenanalyse auf den ersten Untersuchungsgegenstand. Darauf nämlich „to explore the public debate on poverty […] and to investigate how arguments about poverty and representations of it were used in the context of public communication“ (ebd., vgl. 25). Der chronologische Rahmen ist durch die Jahre 431 und 338 v. Chr. abgesteckt.

Die Einführung (S. 13–48) entwickelt Thesen und Methoden und diskutiert die antike Terminologie. Zuerst widmet sich Cecchet modernen sozialwissenschaftlichen Definitionen von Armut (S. 13–20). Wichtig sei die Entwicklung einer Theorie ‚relativer Armut‘ gewesen (Walter Runciman und andere). Nach dieser Theorie gelte selbst derjenige als arm, der zwar über das Existenzminimum verfüge, jedoch einen bestimmten, von einer Referenzgruppe her definierten sozio-ökonomischen Status nicht erreiche. Dieser Ansatz sei zu einer Theorie ‚sozialer Armut‘ weiterentwickelt worden, der auch den Mangel an nicht-materiellen Gütern berücksichtige (Amartya Sen und andere).

Als Referenzgruppe im klassischen Athen identifiziert Cecchet die ökonomisch abkömmliche, Liturgien leistende Oberschicht (S. 21, vgl. S. 35–37). Weil diese den Armutsbegriff prägte, galt bereits derjenige als ‚arm‘, der für seinen Lebensunterhalt arbeiten musste (S. 30).

Cecchet betont den öffentlichen Charakter ihrer Quellen aus methodischen Gründen (S. 31–35). Um erfolgreich zu sein, mussten die mündlich vorgetragenen Texte an die Vorstellungen und Werte ihres breiten Publikums anschließen. Deshalb geben diese Textgattungen Auskunft über sozio-moralische Auffassungen jenseits der Eliten.

Cecchet behandelt die antike griechische Terminologie zweimal (S. 25–31, 43–48). Dabei betont sie die Relativität und Unschärfe des Armutsbegriffs. Als penēs (wörtl. ‚Bedürftiger‘) sei bereits jeder unterhalb der liturgischen Klasse bezeichnet worden (S. 25–27). Ptōchos (‚Bettelarmer‘) wiederum meinte zwar eine absolut arme Person, wurde jedoch meist übertreibend verwendet (S. 27). Beide Ausdrücke bezeichneten keine eindeutigen ökonomischen Klassen, sondern soziale Statusgruppen, die sich durch Werte und Lebensweise auszeichneten (S. 27f.). Cecchet formuliert hier ihre Leitthese, gemäß derer der athenische Armutsdiskurs vom Ideal der „active poverty“ geprägt gewesen sei (S. 28). Der ehrliche ‚Arme‘, der versuchte, seiner Armut aktiv arbeitend zu entkommen, war akzeptiert. Der untätige Bettler oder der ungerecht Reichgewordene wurden hingegen verachtet. Cecchets Interpretation der Semantik ist insgesamt überzeugend, jedoch etwas kursorisch. Es fehlt die Diskussion des viel verwendeten Worts aporos (‚mittellos‘, ‚unvermögend‘). Unerwähnt bleiben außerdem die Forschungsbeiträge von Jacob Hemelrijk und Aloys Winterling2. Da Cecchet genau wie Winterling Max Webers Unterscheidung von ‚Stand‘ und ‚Klasse‘ berücksichtigt, wäre eine Diskussion seines Beitrags spannend gewesen.

Es folgen fünf Kapitel mit Fallstudien. Das erste Kapitel ist der Figur des Bettlers (ptōchos) in Homers Odyssee gewidmet (S. 49–66). Das zweite Kapitel diskutiert das Thema Armut in Euripides‘ Tragödien (S. 67–113). Kapitel drei widmet sich den realen wirtschaftlichen Bedingungen im 4. Jahrhundert (S. 115–139), die Kapitel vier und fünf untersuchen, wie Armut als Argument in Gerichtsreden eingesetzt wurde. Ergänzt sind Analysen von Aristophanes‘ Komödien, besonders aufschlussreich etwa zum Stück Plutos (S. 172–181).

Die homerische Figur des Bettlers ist laut Cecchet wichtig, weil sie einen Archetyp für spätere Armutsdarstellungen gebildet habe. Homer habe typische Bewertungen von Armut geprägt und zugleich deren visuelle Repräsentation entwickelt. Diese sei später von Euripides rezipiert worden, wie Cecchet hervorhebt: der alte Mann in Lumpen wurde zum Stereotyp arger Not (S. 66).

Cecchet sieht Euripides nicht als Kommentator der unmittelbaren Ereignisgeschichte, hält es jedoch für möglich „to regard Euripides' drama as rooted in contemporary Athenian debate, and the key themes of his tragedies as subjects of ongoing discussion in fifth-century Athens“ (S. 74). In der Figur des verarmten und körperlich versehrten Bettlers thematisierte der Tragiker die individuellen und kollektiven Schicksalsschläge des peloponnesischen Krieges. Diese waren den Athenern vertraut, selbst wenn sie, wie Cecchet differenziert, solche Schicksalsschläge nicht persönlich erlitten hatten (S. 67–95).

Die folgende, auf Sekundärliteratur gestützte, Darstellung der wirtschaftlichen Entwicklung Athens im 4. Jahrhundert dient als Warnung davor, das dramatische Bild des öffentlichen Diskurses als Abbild der Realität zu behandeln (S. 118–130). Entgegen älteren Auffassungen sei die Bürgerschaft nicht zunehmend verarmt. Nachdem die Schäden des peloponnesischen Krieges überwunden waren, war Attika wieder dicht besiedelt und Handwerk und Handel boten Bürgern ohne Landbesitz neue Erwerbsquellen.

In der anschließenden Analyse der Gerichtsreden behandelt Cecchet zunächst den rhetorischen Topos des schlechten Redners, der sich auf Kosten des Volkes bereichert, das, von diesem schlecht beraten, selbst wiederum verarmt (S. 142–163). Dieser Topos sei angesichts der realen Verhältnisse eine ziemliche Überreibung gewesen. Wirksam war er, weil er die Vorstellung einer goldenen Vergangenheit bediente, in der das Seereich, das Volk reich gemacht habe.

Die Dichotomie von gerechten Armen und ungerechten Reichen sei so verbreitet gewesen, dass Redner auch in privaten Gerichtsreden auf sie zurückgriffen. Selbst Mitglieder der liturgischen Klasse stellten sich als ‚verarmt‘ dar, etwa wenn es um Steuerlasten oder Erbschaftstreitigkeiten ging (S. 209–224). Solche Übertreibungen seien möglich gewesen, weil ärmere Bürger ebenfalls den aristokratischen Armutsbegriff verinnerlicht hatten. Sie akzeptierten die Klagen reicher Redner über ihre Steuerlast, weil alle Athener über die kriegerischen Misserfolge frustriert waren, die ihnen statt der erhofften Gewinne nur Kosten einbrachten (S. 229–231).

Der Grund für die Dauerpräsenz der Armut im öffentlichen Diskurs, so schließt Cecchet ihre Untersuchung ab, sei die inklusive athenische Demokratie gewesen. Viele Teilnehmer an Volksversammlung und Gericht waren nach der gängigen Definition ‚arm‘. Deshalb war es für Redner notwendig – und nützlich – Armut zu thematisieren, und so ihr Publikum emotional für sich zu gewinnen (S. 233–235).

Die Hauptstärke von Cecchets Studie sind ihre textsicheren und kritischen Quellenanalysen. Der ‚Diskurs‘ schwebt dabei nicht im luftleeren Raum, sondern wird in einer Rekonstruktion der sozioökonomischen Entwicklung im 4. Jahrhundert verankert. Ideen- und Strukturgeschichte werden nicht gegeneinander ausgespielt, sondern verknüpft.

Cecchets Thesen sind plausibel und entsprechen dem gängigen Forschungskonsens. Ihre Argumentation ist jedoch stellenweise zu fahrig. Allzu häufig wird jene ‚Wahrscheinlichkeit‘ bemüht, die erst erwiesen werden müsste. So vermutet Cecchet etwa, dass Redner vor Gericht ‚stumme Zeugen‘ in Bettlertracht auftreten ließen, um das Publikum zu rühren: „In addition to appearing in rags, these characters in all probability used appropriate gestures to act out their condition.” (S. 203) Ein konkreter Beleg wird dafür nicht beigebracht.

Bei aller Relativität vermisst man zudem die Auseinandersetzung mit Vorstellungen absoluter Armut. Denn das Bild des Bettlers war, wie Cecchet selbst rekonstruiert, ein Bild existentieller Not: Hunger, Frost und Krankheit. War das Bild auch meist Hyperbel, bliebe dennoch zu fragen, woher seine Plausibilität stammte. Quellen zu dieser Frage hätten jenseits der rein politikgeschichtlichen Epochengrenze von 338 v. Chr. gelegen. In Menanders Komödien finden sich mehrfach Bilder absoluter Armut, die bewusst realistisch angelegt waren.3

Cecchets Studie hat ihr Thema – Idee und Wirklichkeit antiker Armut – noch nicht erschöpft. Das war auch nicht ihr Ziel. Dafür hat sie zentrale Quellen kritisch erschlossen und methodisch in die richtige Richtung gewiesen.

Anmerkungen:
1 Cecchet bezieht sich auf Robin Osborne, Introduction: Roman poverty in context, in: Margaret Atkins / Robin Osborne, Poverty in the Roman world. Cambridge 2006, S.1–20.
2 Jacob Hemelrijk, Penia en ploutos. Nachdruck New York 1979 (1. Aufl. Amsterdam 1925); Aloys Winterling, „Arme“ und „Reiche“. Die Struktur der griechischen Polisgesellschaften in Aristoteles „Politik“, in: Saeculum 44 (1993), S. 179–205, bes. 183–198. Beide Titel fehlen im Literaturverzeichnis.
3 Man denke nur an die Schilderungen des ärmlichen Landlebens im Dyskolos, sowie im Georgos (bes. zz. 35–82) und Heros (zz. 18–45).

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