: Gateway India. Deutschsprachiges Exil in Indien zwischen britischer Kolonialherrschaft, Maharadschas und Gandhi. Graz 2015 : CLIO Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit, ISBN 978-3-902542-31-1 467 S. € 35,00

: Leben in der Retorte. Als österreichischer Alpinist in indischen Internierungslagern, hrsg. v. Margit Franz u. Karl Wimmler. Graz 2014 : CLIO Verein für Geschichts- und Bildungsarbeit, ISBN 978-3-902542-42-7 263 S. € 18,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Swen Steinberg, Institut für Geschichte, Lehrstuhl für Sächsische Landesgeschichte, Technische Universität Dresden

Die Forschung zur Emigration ab 1933 – zuerst aus dem Deutschen Reich, später aus ganz Europa und Nordafrika – erhielt in den vergangenen Jahren verschiedenen Impulse: einerseits befasste sie sich intensiv mit Begriffen wie Transmigration oder Hybridität, die aus der Migrationsforschung sowie aus der Soziologie und Ethnologie stammen bzw. teils auch von der postkolonialen Theorie beeinflusst sind und die die identifikatorischen Ebene der zwangsweisen Migration fokussieren.1 Andererseits weitete sich in den vergangenen Jahren auch das Bewusstsein dafür, wie global jene Emigration eigentlich gewesen ist und in welchen Regionen und Ländern jenseits der bekannten Emigrationsziele – die USA etwa oder Großbritannien – die deutschen Flüchtlinge Aufnahme fanden.2 Die Autorin bzw. Mit-Autorin der hier besprochenen Bücher hatte dabei selbst bereits Anteil an der Erweiterung dieses Forschungsfeldes, gab sie doch ebenfalls 2014 mit dem Band „Going East – Going South“ einen wesentlichen Impuls zur Neuvermessung der Emigrationskarte in globaler Perspektive.3 Im Kontext dieser intensiven Forschung stehen auch die beiden hier besprochenen Bände, in denen die deutschsprachige und speziell die österreichische Emigration in Britisch-Indien im Mittelpunkt stehen – eine Region, die eine „temporäre Heimat für tausende zentraleuropäische Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus wurde und diesen Menschen dadurch ein Überleben garantierte“ (Gateway India, S. 7). Genau in dieser Hinsicht leistet die Autorin von „Gateway India“ Pionierarbeit: nach Palästina und der Internationalen Zone Shanghai war Britisch-Indien die „drittwichtigste Exildestination“ in Asien (ebd., S. 12), die allerdings bislang hinsichtlich der geschätzten 4.000 bis 5.000 deutschsprachigen Flüchtlinge ab 1933 keine Gesamtdarstellung erfahren hat.

Ein besonderer Vorzug der Studie liegt in ihrer langfristigen Orientierung, die deutlich über die ‚Brüche‘ 1933 und 1945 hinausgeht. Denn die Kontakte zwischen Indien und den mitteleuropäischen Herkunftsländern begannen nicht erst mit dem Phänomen der Massenemigration; der Untertitel „zwischen britischer Kolonialherrschaft, Maharadschas und Ghandi“ verweist bereits auf Fragen der ‚Fremdheitswahrnehmung‘ und des westlichen Exotismus, dessen Phantasieraum auch in Indien lag. Diesen Vorgeschichten als „Begegnungen der Zwischenkriegszeit“ (ebd., S. 13) widmet sich Margit Franz im Einführungskapitel von „Gateway India“: Begegnungen im wissenschaftlichen und universitären Kontext werden hier ebenso vorgestellt, wie künstlerische Netzwerke, Freundschaftsgesellschaften, wirtschaftliche und politische Beziehungen oder Begegnungen im religiös-spirituellen Bereich. Es gab, kurzum, in den Herkunftsländern der Emigration indophile oder zumindest an der Region interessierte Gruppen. Dies allerdings machte Indien keineswegs zum vorrangigen oder erstgewählten Exilland. Vielmehr suchten viele Flüchtlinge – zumeist Jüdinnen und Juden sowie politisch Verfolgte – ab 1933 zuerst im nahen Europa Zuflucht. Nachdem sich aber hier Aufenthalt und Zugang immer schwieriger gestalteten, gingen die Zahlen der in Indien ‚Strandenden‘ – zusätzlich bedingt durch die sich ab 1938 zuspitzende mitteleuropäische Lage – immer mehr in die Höhe. Den politischen und sozialen Rahmenbedingungen dieser Emigration geht die Autorin in den folgenden beiden Kapiteln nach, in denen etwa die Flüchtlingspolitik und die Exilrouten, ebenso aber auch Fragen der Arbeitsmöglichkeit, der Rolle der jüdischen Gemeinden und der Hilfskomitees oder der Überwachung vorgestellt werden. Dem folgt als viertes Kapitel das Thema Internierung, das Emigrantinnen und Emigranten auch anderswo im britischen Einzugsbereich zu gewärtigen hatten: mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs galten die Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich und Österreich als „enemy aliens“, ab dem 16. Lebensjahr wurden sie nun in London wie in Bombay interniert. Besonders absurd war dabei freilich die Situation jüdischer oder politischer Flüchtlinge, die sich nun in den Camps mit ebenso internierten deutschen Nationalsozialisten wiederfanden – über diese Erfahrung berichtet im Besonderen auch der Wiener Lehrer, Alpinist und Sozialdemokrat Fritz Kolb in dem von Margit Franz und Karl Wimmler edierten indischen Erinnerungsbericht „Leben in der Retorte“. Nicht wenige der Internierten fanden spät und teils erst 1945 einen Ausweg aus den Lagern, die partiell bis 1947 bestanden. Wie andere Kapitel werden auch in diesem Abschnitt des Buches zahlreiche individualbiographische Beispiele und entsprechendes Quellenmaterial wie auch Fotos präsentiert, die Alltagswelt und Wahrnehmung überaus anschaulich schildern.

Die folgenden drei Kapitel stellen dann den biografischen Zugang ins Zentrum, anhand von Einzelbiografien und Gruppen werden die weibliche Emigration in der Kolonialgesellschaft Indiens, die „Exilerfahrung als Kultur- und Kunstvermittlung zwischen Ost und West“ und das Verhältnis zwischen Exilerfahrung und Entkolonisierung geschildert. Diese drei Kapitel fächern dabei nicht nur die Relevanz des Phänomens Emigration nach 1933 und die von ihr betroffenen Personen auf. Vielmehr sind sie bereits im Zugang weit entfernt davon, eine ‚Geschichte des Beitrags‘ zu schreiben: überaus sensibel leuchtet Franz hier die Begegnungsräume aus und ist im Sinne der postkolonialen Theorie richtigerweise an Wechselwirkungen interessiert. Das Thema der Entkolonisierung deutet dabei zugleich an, dass sich insbesondere die politischen Flüchtlinge und hier etwa die Sozialisten und Sozialdemokraten in der für sie überaus eigenwilligen Situation wiederfanden, „als ‚weiße‘ Flüchtlinge gesellschaftlich[] unfreiwillig überhöht“ (Gateway India, S. 9) zu werden. Dies ist auch in Fritz Kolbs Erinnerungen Thema, in denen man den Spagat zwischen der Dankbarkeit für die Rettung und der Kritik an den Lebensbedingungen des von der britischen Kolonialmacht beherrschten indischen Volkes nachvollziehen kann, die man als ungerecht und undemokratisch empfand. Dies deutet zugleich die Besonderheit dieser Emigrationsregion an: die Emigration in Britisch-Indien war eben auch das „Exil in einer Transitgesellschaft“ (ebd., S. 12).

Die beschließenden beiden Kapitel von „Gateway India“ widmen sich in zwei unterschiedlichen Feldern der Dokumentation dieses Exils: einerseits der Zeit der Emigration, später aber auch über sie entstandenen literarischen Formen (Romane, Kinder- und Jugendliteratur, Lyrik). Hinsichtlich des Kinderbuches ist dabei erneut Fritz Kolb zu nennen, der mit der 1949 in Österreich veröffentlichten Erzählung „Tschok. Die Geschichte eines Hundes“ „historisch einmalig in die Gefühlswelten der Zivilinternierten in British-Indien“ (ebd., S. 348) eintauchte und hier zugleich als Kulturvermittler zwischen Ost und West wirkte. Andererseits geht Margit Franz abschließend den Erinnerungsorten an das deutsche und österreichische Exil in Indien nach – den Gedenkstätten etwa, ebenso Grabanlagen. Dabei ist für die Autorin nicht nur die Geschichte, sondern auch die heutige Relevanz und Nutzung von Interesse. Der weiter oben genannte breite und zugleich die Vorgeschichte einschließende Zugriff wird also auch in den beiden beschließenden Kapiteln deutlich über das Jahr 1945 sowie gar bis in unsere Gegenwart geführt.

Ergänzt wird das Überblickswerk „Gateway India“ durch die 2014 publizierte Edition der 1980 niedergeschriebenen Erinnerungen des österreichischen Sozialdemokraten Fritz Kolb an die Internierungszeit in Britisch-Indien, die sich in eine Reihe von in den vergangenen Jahren vor allem zu österreichischen Schicksalen herausgebrachten Erinnerungen an Emigrationserfahrungen in Asien einordnen.4 Dabei dokumentiert diese behutsam edierte Quelle auch eine „psychologische Beschreibung von Menschen in Extremsituationen, […] mitsamt den menschlichen und politischen Konflikten in solch jahrelanger Gefangenschaft“ (Leben in der Retorte, S. 254). Die hier präsentierten Innenansichten, die freilich hinsichtlich der Niederschrift nach mehr als 30 Jahren auch die Ebene der Reflexion beinhalten, sind aber für die Situation in den britischen Internierungslagern einmalig: hier liegen bislang vor allem publizierte Berichte „von überzeugten Nationalsozialisten bzw. nationalsozialistischen Mitläufern und Sympathisanten“ in den britischen Internierungslagern vor (ebd., S. 256), nicht aber solche von Gegnern des Nationalsozialismus in denselben Lagern.

Nicht allein Anmerkungen und Quellenverzeichnis verweisen auf die umfassende Forschungsleistung der Autorin von „Gateway India“. Auch die Illustration des Bandes mit zahlreichen Bildquellen, die oft aus privaten Nachlässen in vielen Länder der Welt stammen, deuten die Jahre Arbeit hinter diesem Buch an, das durch ein Namensregister gut zu erschließen ist und zugleich durch im Anhang beigegebene Einbürgerungs- und Entlassungslisten von Zivilinternierten individualbiografisch ergänzt wird. Dieser Band übererfüllt damit den Anspruch der Autorin, eine „erste Gesamtdarstellung“ der deutschsprachigen Emigration in Indien vorzulegen. Vielmehr ist er geradezu beispielgebend für zukünftige Länderstudien der Exil- und Emigrationsforschung. Denn der ganzheitliche Blick der Autorin, der Fragen der Identität und Akkulturation einschließt und zudem deutlich über die ‚Kernzeit der Emigration‘ hinaus interessiert ist, scheint auch in anderen Ländern und Regionen anwendbar und zielführend, um die von den Nationalsozialisten ausgelöste Emigration als globales Phänomen zu verstehen. Zugleich sind es Editionen wie die Lebenserinnerungen von Fritz Kolb, die dieses Phänomen auch auf der individuellen Ebene fassbar machen. Beide Bände bereichern folglich die jüngere Exil- und Emigrationsforschung ungemein.

Anmerkungen:
1 Vgl. neben vielem anderen den Überblick bei Jenny Kuhlmann, Exil, Diaspora, Transmigration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 42 (2014), S. 9–14.
2 Vgl. hierzu vor allem Atina Grossmann, Remapping Relief and Rescue, in: Jahrbuch des International Tracing Service 3 (2014) „Freilegungen. Displaced Persons – Leben im Transit: Überlebende zwischen Repatriierung, Rehabilitation und Neuanfang“, S. 169–189.
3 Vgl. Margit Franz / Heimo Halbrainer (Hrsg.), Going East – Going South. Österreichisches Exil in Asien und Afrika, Graz 2014.
4 Vgl. exemplarisch Rudolf Kauders, Donauwalzer am Irawadi. Exil in England, Kampf in Burma, Rückkehr nach Wien, hrsg. v. Lilian Kauders / Tanja Gausterer, Wien 2011.

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