E. Chvojka: Geschichte der Großelternrollen

Cover
Titel
Geschichte der Großelternrollen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.


Autor(en)
Chvojka, Erhard
Erschienen
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gunilla-Friederike Budde, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

„Vor didaktischen und pädagogischen Bedrängnissen flüchteten wir gewöhnlich zu den Großeltern.“ Nicht ein Vertreter der „Generation Golf“ schildert hier ein übliches Schlupfloch seiner Kindheit, sondern Johann Wolfgang von Goethe in „Dichtung und Wahrheit“. Damit feierte er schon für das späte 18. Jahrhundert eine Großeltern-Enkel-Konstellation, die sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durchzusetzen begann. Nun schien die Devise eines Senators und vormals äußerst gebieterischen Familienvaters von vielen Großeltern geteilt worden zu sein, wenn er auf Vorwürfe seines Sohnes konterte: „Eure Kinder zu erziehen, ist eure Sache. Bei mir sollen sie es nur gut haben.“ 1 Der von Leistungserwartungen aller Art unbelastete Genuss gegenseitiger Gegenwart wurde zum Privileg der Beziehung zwischen Enkelkindern und ihren Großeltern. Mit der Entwicklung und Verlängerung der „nachelterlichen Gefährtenschaft“ wuchs die Wahrscheinlichkeit, dass auch, nachdem die eigenen Sprösslinge flügge geworden waren, in regelmäßigen Abständen die in der Regel große Enkelschar in das „empty nest“ flatterte. Das Großelternhaus geriet zum Verkehrsknotenpunkt für Familientreffen, zur Tauschbörse für Familiennachrichten und nicht zuletzt zur Fluchtburg für die Enkelkinder.

In vier chronologisch aufgezogenen Kapiteln, die den Zeitraum von 1500 bis 1950 beleuchten, verfolgt Erhard Chvojka den Entwicklungsweg von den weitgehend nicht-existenten, über die eher desinteressierten hin zu den verwöhnenden Großeltern.

Dass in der Frühen Neuzeit, mit der seine Untersuchung einsetzt, sich allein aufgrund demographischer und haushaltsrechtlicher Grundlagen ein Großeltern-Enkel-Verhältnis gar nicht entwickeln konnte, macht Chvojka vor allem an dem im westeuropäischen Raum gemeinhin hohen Heiratsalter fest. Qualitative Quellen in Form von normativen Bildern und Texten stützen seinen Befund. Bleibt in Ego-Dokumenten des 16. und 17. Jahrhunderts Kindheit als erzählte Lebensphase generell ausgeblendet, fehlt entsprechend die Würdigung der Enkel-Großeltern-Beziehung. Weniger verwandtschaftliche Vertrautheit als vielmehr das „vanitas“-Motiv von der Vergänglichkeit des Lebens illustrierten auch die Abbildungen, u.a. die weitverbreiteten Lebensalterssinnbilder, auf denen Kinder und Alte zu sehen sind.

Auch auf semantischer Ebene lässt sich bis ins 18. Jahrhundert eine eigene, unverwechselbare Bezeichnung der Großeltern ebenso wenig erkennen wie ein pädagogischer Bezug, der in der „modernen“ Großelternterminologie anklingt. Erfahrungsgeschichtliche Quellen, die Aufschluss über die Enkel- und Großelternrelation geben könnten, finden sich für diese Zeit so gut wie nicht. Melden sich in den vorliegenden Selbstzeugnissen durchaus schon liebevolle Eltern und Kinder zu Wort, wird diese Haltung indessen noch nicht auf die Großelterngeneration übertragen. Großvater oder Großmutter zu sein, so Chvojkas Fazit zu seinem ersten Untersuchungsabschnitt, galt noch am Ende des 17. Jahrhunderts keineswegs als eine „prestigeträchtige oder auch nur erwähnenswerte familiale Position“. Weder ein Großeltern- noch ein Enkelbewusstsein schien sich in dieser Zeit ausgeprägt zu haben.

Dies änderte sich – so zeigt Kapitel II – seit dem 18. Jahrhundert. Allein die wachsende Chance von Männern und Frauen, das 60. Lebensjahr zu erreichen, erhöhte die Wahrscheinlichkeit ihrer Großelternschaft. Überdies ließ das sich nun im städtischen Bürgertum übliche frühe Heiratsalter der Frauen sie häufig bereits mit Mitte vierzig zu Großmüttern werden und schuf das Fundament einer spezifischen Großmutter-Enkel-Beziehung. „Gleichzeitig mit der sozialen und kulturellen Neudefinition der Rollenschemata von Vater, Mutter und Kind durch das Bürgertum erhielt ganz offenbar auch die ‚Großelternschaft` als zentrale innerfamiliale Rolle älterer Menschen ihr normatives Profil.“ (S. 181) Ratgeberliteratur, Erziehungsbücher, Familienzeitschriften und Abbildungen konstruierten gemeinsam das Bild der „idealen“ Großelternschaft, dessen Grundzüge noch bis weit ins 20. Jahrhundert weiterlebten.

Diese Genrebilder zeigten sich geschlechtsspezifisch variant: Die Großmutter erschien als fromme Traditionswahrerin und beliebte Märchenerzählerin, der Großvater als milder Erzieher und weiser Welterklärer. Die nunmehr verbreitete Dislokalität von Großeltern und Enkeln wurde durch regen Briefverkehr überbrückt. Die Korrespondenz zwischen Großeltern und Enkelkindern, so Chvojkas plausible These, trugen nicht unerheblich zur Blüte der Briefkultur im 18. und 19. Jahrhundert bei. Auf Zeichnungen und Gemälden des 19. Jahrhunderts erleben die Großeltern als Motiv eine regelrechte Entdeckung.

Das besonders ausführliche und quellengesättigte Kapitel III wendet sich dem „Jahrhundert der Großelternschaft“ (278) zu und fragt nach Norm und Realität der Großeltern-Enkelkind-Beziehung im 19. Jahrhundert. Ego-Dokumente, in denen einerseits in den nun detaillierten Kindheitsschilderungen auch die Großelternbeschreibungen Seiten füllen und andererseits Großeltern ihr Behagen ob ihrer Rolle gegenüber den Enkeln bekunden, zeugen für die neue Qualität dieser Verwandtschaftsrelation. In zahllosen Enkelschilderungen werden Großeltern an den sich durchsetzenden Leitbildern gemessen und für mehr oder minder „rollenkonform“ befunden.

Auf Lebenstreppendarstellungen erringt zunächst die Großmutterrolle, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die Großvaterrolle, eine gefestigte Position. Stereotype Utensilien setzen sich durch: Das Großelternpaar wird in der Regel weißhaarig, faltig, leicht gebeugt gezeigt, die Großmutter trägt häufig Haube und Brille, umgibt sich mit religiösen Requisiten und Märchenbuch, der Großvater, ebenfalls bebrillt, hat eine Taschenuhr in der Westentasche und eine Zeitung in den Händen. Auch in die Belletristik finden die Großeltern nun Eingang und gewinnen Kontur. Großväter müssen darin häufig erst, wie im „Little Lord Fauntleroy“ und in „Heidi“ zu ihrer Rolle bekehrt werden, die sie zu guter Letzt aber mit Bravour ausfüllen. Großmütter hingegen erscheinen in der Regel von Beginn an als stets präsenter Schutzengel der Kinder. Eben hier setzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert auch die Kritik an den Großeltern an, entsteht das Stereotyp von den zu sehr verwöhnenden und verziehenden Großeltern.

Kapitel IV wendet sich abschließend der Entwicklung der sozialen und normativen Grundlagen der Großelternschaft bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zu. Demographisch nahm nun weiterhin die Wahrscheinlichkeit zu, dass Großeltern und Enkelkinder eine Wegstrecke ihres Lebens gemeinsam gingen. Überdies gewährleisteten technische Errungenschaften und verbesserte Verkehrswege Kontakte auch über größere Entfernungen hinweg. Das Verhältnis zwischen Enkelkindern und Großeltern besaß nunmehr „den Stellenwert eines emotional sehr konkret definierten, innerfamilialen Beziehungsmusters“ (S. 304). Ausbrüche aus diesem Muster wirkten da umso verstörender. Thomas Manns Beschreibung „Little Grandma“, die Hedwig Dohm, der frauenbewegten und widerspenstigen Großmutter seiner Frau Katia, ein Denkmal setzen sollte, spiegelt Verunsicherung, aber auch Empörung ob dieses Rollenverstoßes wider. Wie sich Großmütter und Großväter zu verhalten hatten, war, so Chvojkas Fazit, seit dem 19. Jahrhundert mit starren und langlebigen Vorstellungen verknüpft, die in bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein weiter wirkten.

Inwieweit sich im Laufe des 20. Jahrhunderts tiefgreifende Wandlungen ergeben haben, lässt Erhard Chvojka dagegen offen. Veränderungen von Erziehungsvorstellungen, neue Geschlechterkonstellationen, die Zunahme von Patchworkfamilien – und damit auch der Zahl der „Großeltern“ –, u.v.m. zeichneten sich zum Teil schon zu Beginn des Jahrhunderts ab, werden aber von Chvojka nicht diskutiert. Überhaupt lässt er, abgesehen von demographischen Entwicklungen, den weiteren historischen Kontext weitgehend außer Acht. Welche Bedeutung etwa die beiden Weltkriege für das Vater- und Großvaterbild hatten, wie sich neue Weiblichkeitsvorstellungen auch auf die Großmutterrolle auswirkten, wären Fragen gewesen, die namentlich hinsichtlich des 20. Jahrhunderts interessante Aspekte hätten bieten können. Überhaupt dünnt die Studie, die einen deutlichen Schwerpunkt auf dem 18. und vor allem dem 19. Jahrhundert hat (und hier nicht frei von Redundanzen ist), im letzten Teil merklich aus.

Überdies wäre es wünschenswert gewesen, die Eltern, gleichsam als Akteursgruppe zwischen den Kindern und den Großeltern, weit stärker mit einzubeziehen. Deren sich im Laufe der Geschichte verändernden Haltungen sowohl zu ihren Eltern als auch zu ihren Kindern hatten, so ist zu vermuten, immer auch entscheidende Rückwirkungen auf die Großeltern-Enkel-Beziehung. Die wachsende Konkurrenzsituation in den Kinderstuben wird nur angedeutet, andere mögliche Konstellationen nicht mitbedacht.

Die Studie ist, dies ist nicht zuletzt der Quellensituation geschuldet, weitgehend auf das Bürgertum konzentriert. Dass Wandlungen der Großelternrolle nicht zuletzt auch mit dem ausstrahlungskräftigen bürgerlichen Familienideal zusammenhingen, wird einleuchtend erarbeitet. Dennoch wäre es wünschenswert gewesen, noch häufiger über den bürgerlichen Tellerrand hinauszuschauen als es die Studie im Ansatz bereits leistet.

Lesenswert ist sie ungeachtet dieser Einschränkungen. Sie beleuchtet erstmalig einen Aspekt der in der letzten Zeit etwas in den Schatten geratenen Familiengeschichte, der bislang nur am Rande behandelt worden ist. Auch die Zusammenführung von quantitativen und qualitativen Befunden gelingt weitgehend. Stellenweise, etwa bei den begriffsgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Studien, kommen auch internationale Vergleiche und Beziehungen in den Blick. Besonders gelungen sind die Teile der Arbeit, in denen systematisch und äußerst gekonnt Bildquellen analysiert werden. Nach der „Entdeckung der Kindheit“ 2 gibt der Autor hier einen wichtigen Anstoß für die „Entdeckung der Großeltern“, deren weitere Erforschung bis in die Zeitgeschichte nach 1945 hinein als äußerst lohnend erscheint.

Anmerkungen:
1 Vgl. Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien, 1840-1914, Göttingen 1994, S. 272.
2 Vgl. Ariès, Philippe, Geschichte der Kindheit, 5. Auflage, München 1982.

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