T.C. Amar: The Paradox of Ukrainian Lviv

Cover
Titel
The Paradox of Ukrainian Lviv. A Borderland City between Stalinists, Nazis, and Nationalists


Autor(en)
Amar, Tarik Cyril
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 356 S.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karl Schlögel, München

Joseph Roth, der 1894 im galizischen Grenzort Brody geborene Schriftsteller, musste es wissen, als er Lemberg, das heute ukrainische Lwiw, eine „Stadt der verwischten Grenzen“ nannte. Der 1939 im Pariser Exil verstorbene österreichische Schriftsteller hat das Ende dieser Stadt nicht mehr erlebt. In einem historischen Augenblick – und ein oder zwei Jahrzehnte sind im Leben einer Stadt nicht viel – hörte diese Stadt auf zu existieren, wurde eine andere. Tarik Cyrill Amars Buch „The Paradox of Ukrainian Lviv“ handelt von dieser kurzen, gedrängten Zeitspanne des Zweiten Weltkrieges und dem Nachkriegsjahrzehnt, von jener Sequenz von Katastrophen, in deren Verlauf eine Schicht der Stadt nach der anderen, eine Segment nach dem anderen aus dem gesellschaftlichen Ensemble der Stadt verschwindet, und an deren Ende das ukrainische Lwiw steht, das wir heute im Zuge der so genannten Ukrainekrise wahrzunehmen gelernt haben: als die Stadt mit der entschiedensten Unterstützung des Majdan, mit der größten Nähe zum Westen, aber auch als Hauptort eines Kultes um die Figur eines Nationalisten und Antisemiten wie Stepan Bandera. Dass sich an der Geschichte Lembergs wie in einem Brennglas oder in einer Versuchsanordnung in einem Laboratorium charakteristische Züge des gewalttätigen 20. Jahrhunderts, der Schicksale von ethnischen und religiösen Gemeinschaften, bis hin zu Deportationen und Völkermord zeigen lassen, ist durch Pionierarbeiten wie die von Christoph Mick gezeigt worden.1

Tarik Cyrill Amar, ehemals Direktor des Center for Urban History of East Central Europe in Lwiw und heute Professor an der Columbia Universität in New York, schärft den Fokus und konzentriert sich auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges und des ersten Nachkriegsjahrzehnts, den Zeitraum, in dem die ethnischen, sprachlichen, religiösen, kulturellen Verhältnisse, die in einem Eingangskapitel skizziert werden, radikal umgestoßen und gewaltsam verändert werden. Im Gefolge des Molotow-Ribbentrop-Vertrages und der Teilung Polens wird die Stadt Schauplatz einer Sowjetisierung, die, wie Amar zurecht bemerkt, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen hat, sondern eine Vorgeschichte hatte in der Zeit, als Hitler und Stalin sich Ostmitteleuropa aufgeteilt hatten. Der Sowjetisierung, die unter dem Titel der „Befreiung“ einher ging mit gezielten Deportationen und Repressionen gegen potentielle Widerstandskerne, folgte nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion in den Jahren 1941 und 1944 ein Besatzungsregime, in dessen Verlauf das Judentum Galiziens und seiner Metropole fast vollständig ausgerottet wird. Lemberg, in dem 1939 Juden etwa ein Drittel der Bevölkerung stellten, ein altes Zentrum des ostmitteleuropäischen Judentums, war am Ende der deutschen Besatzung eine Stadt ohne Juden – 1944 wurden 1.300 Überlebende gezählt. Ukrainer vor Ort hatten sich den Deutschen als Kollaborateure angedient und in Pogromen allein in Lemberg in den ersten Tagen des deutschen Einmarsches über 2.500 Juden getötet, ohne dass ihre Hoffnung, einen eigenen ukrainischen Staat zu bekommen, in Erfüllung gegangen wäre. Nach der Rückeroberung Lwiws durch die Rote Armee verschwindet nach und nach die polnische Bevölkerung. 1944 stellten die Polen mit 108.000 Einwohnern mehr als zwei Drittel der 150.000 Einwohner der Stadt. Ein Jahrzehnt später, da die Lemberger Bevölkerung auf rund 380.000 Einwohner angewachsen war, fanden sich als Ergebnis einer geplanten Umsiedlung und eines organisierten Bevölkerungsaustausches zwischen der UdSSR und Polen noch rund 8.600 Polen in der Stadt. Mit der Rückeroberung setzt auch ein Prozess ein, den man als zweiten Akt der Sowjetisierung bezeichnen könnte und an dessen Ende die Verwandlung des (polnischen) Lwow in eine ethnisch fast komplett ukrainische Stadt steht. Seit der letzten Volkszählung vor dem Krieg im Jahre 1931 hatte sich der Anteil der ukrainische Bevölkerung verfünffacht. 1970 erklärten 94% der Einwohner Ukrainisch als ihre Muttersprache. Aus einer Stadt, in der vor dem Krieg Polen und Juden die Mehrheit gestellt hatten, war in einem Menschenalter eine fast rein ukrainische Stadt geworden.

Sowjetisierung, das zeigt Amar eindrücklich, ging nicht einher mit Russifizierung, eher umgekehrt. Die Sowjetisierung wird getragen von den Leuten, die aus der sowjetischen Ostukraine kommen und die sich eine mission civilisatrice vorgenommen haben, um den provinziellen Westen der Ukraine, die rückständigen Grenzlande, die vom Erbe Habsburgs und Vorkriegspolens gezeichnet seien, auf Vordermann zu bringen. Es sind die aus dem Osten kommenden Pioniere, Immigranten, die den zurückgebliebenen Bewohnern Galiziens zeigen, was moderne Gesellschaft ist. So wird aus dem alten Lemberg das junge, sowjetische Lwow mit neuen Fabriken und Instituten, die bald in der ganzen Sowjetunion zum Markenzeichen werden sollten – etwa die Bus- und Radiofabriken. Es sind die „Easterners“, die im ersten Jahrzehnte die lokale Elite bilden und – so die starke These von Amar – überhaupt erst im Zusammenspiel mit den „locals“ so etwas wie ein Sonderbewusstsein, eine westukrainische Identität geschaffen haben: „The intentional Soviet making of the local – in the form of a distinct but transitory typ of not-yet-Sovietized western borderland Ukrainian – had the unintended effect of shaping and solidifying a special and persistent Western Ukrainien identity, which was distinct from the eastern, pre-1939 variant of Soviet Ukrainian identity“. Mehr noch: „In some respect, the easterners took over the place and roles of the two groups who had dominated prewar Lwów. Yet Polish and Jewish elites had not pursued a project of making the city Ukrainian. After the war, with prewar Poles and Jews dead and gone and with the addition or Russians, Soviet socialism, and Soviet inter/nationalism, the majority of Lviv’s new population became Ukrainian“ (S. 19).

Es spielt sich ein Prozess ab, der in den 1920er-Jahren in der Sowjetukraine zu beobachten war: eine Modernisierung unter sowjetischer Führung, Amar spricht immer wieder von „Soviet modernity“. Die Modernisierung des rückständigen, einer vielfach als „Wilder Westen“ wahrgenommenen westlichen Ukraine unter entscheidendem Anteil der aus dem Osten immigrierten Elite wird so zum wesentlichsten Träger eines westukrainischen Sonderbewusstseins. Selbst die Tradition der bürgerlichen ukrainischen Intellektuellen und Parteien, die noch von Habsburg geprägt waren und in der zweiten polnischen Republik für die ukrainische Sache eingetreten waren, werden jetzt in die nationalkommunistisch-ukrainische Linie mit aufgenommen. Es kommt nach dem Krieg trotz der Zuwanderung von Juden aus den nicht von Deutschen besetzten sowjetischen Territorien zu einer Neubildung einer jüdischen Gemeinde, aber nicht mehr zur Renaissance eines authentischen jüdischen religiösen und kulturellen Lebens. Anfang der 1960er-jahre wird die letzte Synagoge Lwiws, nachdem sie lange schon als Versammlungsort von Kosmopoliten und „Geschäftemachern“ stigmatisiert worden war, geschlossen. Amar glaubt, dass die konventionelle Antwort auf den Ursprung eines westukrainischen Sonder- und Identitätsbewusstseins – die liberale Tradition Habsburgs, die Erfahrung mit der sowjetischen Repression 1939–41 und nach der Rückeroberung – nicht ausreichend ist. Amars Hauptargument für die Sonderstellung Lwiws und der westlichen Ukraine ist die Erzeugung eines westukrainischen Sonderwegs und Sonderbewusstseins durch eine (nachholende) Modernisierung unter sowjetischer Ägide. Eine Analyse, die sich allein auf das politische System und die Gewalterfahrung beziehe, sei reduktionistisch. Man müsse sich mit der sowjetischen Form der Modernisierung – „Soviet modernity“ immer wieder – auseinandersetzen.

Die Suche nach einem tieferen, lebensweltlichen Grund führt zweifellos zu interessanten Quellen: den Diskursen der alten Lemberger Intelligenzija, die sich auf die Höhe der Zeit, das junge, sowjetische Lwow hinaufarbeiten will; die Konkurrenz und das Zusammenspiel von Ortsansässigen und eingewanderten Eliten. Dem Misstrauen gegenüber konventionellen Deutungsmustern – der Einfluss historischer Traditionen, Mentalitäten, Erfahrungen – steht, so findet der Rezensent, ein erstaunliches großes Vertrauen in die Bedeutung von Identitätskonstruktionen gegenüber. Die Sowjetisierung der Stadt konnte auch deshalb so durchschlagend sein, weil Krieg, Völkermord, Bevölkerungsaustausch die zivile Substanz der Stadt zerstört hatten. Es waren mit den ethnischen und religiösen communities auch die Kräfte, die eine moderne Stadtgesellschaft getragen hatten, vernichtet worden. Deportationen und Völkermord hatten nicht nur das ethnische, sondern das gesamte soziale Gefüge, das sich über Generationen gebildet und die Grundlage einer städtischen Moderne abgegeben hatte, zum Einsturz gebracht. Modernisierung, wesentlich verstanden als Industrialisierung, kompensiert den erlittenen Modernitätsverlust nicht. Und wie wir aus den Studien von Moshe Lewin wissen, bedeutete Urbanisierung im sowjetischen Kontext oft genug Ruralisierung und Urbanitätsverlust – jedenfalls für eine gewisse Zeit. Besonders erstaunlich ist, dass in einer Monographie, deren zentraler Gegenstand die Stadt selbst ist, die Stadt als gebauter Raum, als geschichtlicher Schauplatz kaum in Erscheinung tritt, nicht „vorkommt“, obwohl es, wie die beigefügten Bilder zeigen, an Material zum „städtischen Text“ nicht gefehlt haben kann. Lwiw gehört ja, wie jeder Besucher sogleich wahrnimmt, zu jenen ostmitteleuropäischen Städten, deren äußerliche Unversehrtheit in krassem Gegensatz zur totalen Zerstörung seiner humanen, demographischen und kulturellen Substanz steht, und deren „Leben danach“ sich ebenfalls unüberbietbar prägnant in der baulichen Gestalt seiner Neubauviertel äußert. Hier die äußerlich fast unversehrte Stadt „vor 1939“, dort die Massive der Neubauviertel des neuen sowjetischen Lwow, in dem die überwältigende Mehrheit der ukrainisch gewordenen Stadt Lwiw lebt. Dazwischen der Abgrund, der durch historische Rekonstruktion „lesbar“ gemacht werden kann. Dasselbe Phänomen lässt sich auch in anderen, in vieler Hinsicht Lemberg/Lwow/Lwiw vergleichbaren Städten wie Wilna/Wilno/Wilne/Vilnius oder Grodno/Hrodna beobachten. Auch dort führte die Sequenz gewaltsamer Eingriffe zwischen 1939 und 1945, verbunden mit den Langzeitwirkungen von Industrialisierung und Urbanisierung zur „Litauisierung“ oder allgemeiner: zur Nationalisierung vormals ethnisch, sprachlich, religiös gemischter Städte. Bis auf ein paar verstreute Bemerkungen über Orte und Räume – die Synagoge, das Getto, das Lager in der Janowska-Straße – findet sich leider kaum etwas zur Physiognomie Lwiws, zur Sequenz seiner Um- und Neukodierung, und das in einem Buch, dessen Hauptgegenstand doch die Stadt selbst ist. Dies ist umso weniger verständlich, als die Erschließung der historischen und kulturellen Topographie seit dem Ende der sowjetischen Zeit bemerkenswerte Studien hervorgebracht hat.2 Vielleicht spielt das historische Erbe, das sich im Stadtraum und in der baulichen Substanz abgelagert hat, für das Fortleben in der Gegenwart doch eine größere Rolle, als dies im Diskurs über Identitätskonstruktionen und multiple modernities nahegelegt wird.

Anmerkungen:
1 Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt. Lemberg 1914–1947, Wiesbaden 2010.
2 John Czaplicka (Hrsg.), Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture, Cambridge 2011; Bohdan Czerkes / Martin Kubelik / Elisabeth Hofer (Hrsg.), Arcitectura Galicji XIX–XX w., Lwow 1996.

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