M. John (Hrsg.): Tagebuch des Buchdruckerlehrlings F. A. Püschmann

John, Matthias (Hrsg.): Das Tagebuch des Buchdruckerlehrlings Friedrich Anton Püschmann von 1850 bis 1856. Bd. I: Die Buchdruckerlehre in Grimma, die Wanderung durch Sachsen, Thüringen, West- und Norddeutschland während der Revolutionsjahre. Berlin 2015 : Trafo Verlag, ISBN 978-3-86464-065-0 420 S., zahlreiche Illustrationen € 39,80

John, Matthias (Hrsg.): Das Tagebuch des Buchdruckerlehrlings Friedrich Anton Püschmann von 1850 bis 1856. Bd. II: Die Wanderung durch Sachsen, Süddeutschland, Elsaß-Lothringen und die Schweiz sowie die Ausbildung zum Lehrer in Grimma während der Reaktionsjahre. Berlin 2015 : Trafo Verlag, ISBN 978-3-86464-066-7 480 S., zahlreiche Illustrationen € 42,80

John, Matthias (Hrsg.): Das Tagebuch des Buchdruckerlehrlings Friedrich Anton Püschmann von 1850 bis 1856. Bd. III: Anlagen und Register. Berlin 2015 : Trafo Verlag, ISBN 978-3-86464-067-4 306 S. € 35,80

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Holger Böning, Deutsche Presseforschung, Universität Bremen

Wer mit Autobiographien und Tagebüchern von Bauern und Handwerkern der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vertraut ist, kann bei der Lektüre der hier edierten Tagebücher eines Schriftsetzerlehrlings und wandernden -gesellen so recht ermessen, welche unglaublich umwälzenden Veränderungen sich während eines Zeitraumes von nicht einmal einem Jahrhundert in Bildung und Teilhabe an der Kultur größerer Teile der Bevölkerung vollzogen haben. Wo das Lesen nichtreligiöser Literatur oder gar von Romanen oder Theaterstücken in den unteren Ständen als nicht standesgemäß und ebenso wie das Schreiben als Ausnahmeverhalten galt, ist das Lesen um 1850 etwas Alltägliches geworden, in Einzelfällen lässt sich gar von extensiver Lektüre sprechen. Prinzipiell jedem ist nun das Wissen seiner Zeit zugänglich, ganz selbstverständlich wird die Zeitung gelesen, über die politischen Ereignisse nachgedacht und räsoniert, ja, in Diskussionen, Gründung von Organisationen und in schriftlichen Äußerungen sogar selbst an den politischen Debatten der Zeit teilgenommen.

Dies alles lässt das hier vorgelegte Tagebuch erkennen, dessen Fund ein Glücksfall ist. In ihm begegnen wir Friedrich Anton Püschmann zunächst in den letzten Monaten seiner Schriftsetzerlehre als hellwachem jungem Mann, der das Zeitgeschehen mit klugen, an der täglichen Zeitungslektüre geschulten Urteilen verfolgt, selbst Forderungen zur Verbesserungen seiner Arbeitsbedingungen aufstellt (I, S. 103, 105) und dem Leser dennoch recht anschaulich deutlich werden lässt, dass die deutsche Revolution des Jahres 1848 nur scheitern konnte; immer trostloser werden die Zeitungsnachrichten (I, S. 337), allenthalben „feige Unterthänigkeit“ (I, S. 345); es fällt dem Chronisten nicht schwer, die Finten der deutschen Fürsten zu durchschauen, entsetzt registriert er das Blutvergießen der Reaktion, auch sieht er deutlich, dass „die erneute Knechtung des deutschen Volks“ kaum zu vermeiden sein wird (I, S. 380). „Und der deutsche Michel“, so resümiert Püschmann im August 1849, „zieht seine schweißtriefende Schlafmütze wieder über den Kopf, denn er will nicht sehen; aber nur bis über die Nase, denn er hat noch den Muth, das Maul aufzusperren um zu lauschen, ob ihn [!] vielleicht eine gebratene Taube hineinfliegt – aber es kommt keine, trotzdem, daß so Viele blutig gerupft und abgeschlachtet werden!“ (I, S. 361) Das Militär ist ihm nichts anderes als eine „Chikanir-Institution“, (I, S. 375) im „Grimmaischen Wochen- und Anzeigenblatt“ lässt er eine Danksagung an einen „Ausbringer des Hochs auf Robert Blum“ einrücken. (I, S. 81, 85)

Frappierend ist aber nicht nur der Entwicklungssprung, der seit den ersten Volksbildungsbestrebungen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und intensiv seit der deutschen Spätaufklärung ganz offensichtlich die Verhältnisse zwar nicht grundlegend, aber doch in so bemerkenswertem Ausmaße verändert hat, dass Püschmann sich berechtigt meint, vom 19. als dem Jahrhundert „des Lichts und der Aufklärung“ sprechen zu können. (II, S. 483) Man kann, so der Eindruck bei der Lektüre des Tagebuchs, von einer geradezu explosiven Erweiterung der Interessen sprechen, die nicht nur Buchdrucker und Schriftsetzer unter den Handwerkern, sondern die unteren Stände insgesamt erfasst hat. Lesevereine finden sich selbst in kleinen Dörfern (I, S. 204), das Vorlesen von Zeitungen und Zeitschriften ist allgemein üblich und löst – etwa beim Lesen des „Dorfbarbiers“ oder des „Altenburger Volksblatts“ – Diskussionen aus (I, S. 77, 222, 251), in allen Wirtshäusern und Handwerkerherbergen liegen Zeitungen, Landtagsblätter und Wochenblätter aus (I, S. 242, 245f., 253, 258, 266, 271, 292, 296), man tauscht die letzten Nummern des „Dorfbarbiers“ gegen jene des „Stollberger Wochenblattes“ (I, S. 88), Schriften der Volksbildungsvereine und der Gesellschaften zur Verbreitung von Volksschriften ermöglichen den Zugang zu Wissen und Kultur (II, S. 536, 543), ganz selbstverständlich versorgt man sich in Leihbibliotheken mit Goethes „Faust“, mit „Egmont“ und dem „Wilhelm Meister“ (I, S. 346), regelmäßig werden Theateraufführungen und Opern genossen und mit kritischem Urteil kommentiert, Werke wie Julius Kells „Die Noth der Armen“ lassen an den sozialen Problemen der Zeit teilhaben (I, S. 215).

Der erste Teil des Tagebuchs veranschaulicht dem Leser die mühsame Arbeit eines Schriftsetzers. Wie lang es für einen einzelnen Setzer doch dauert, den Satz nur eines einzigen Stückes der „Sächsischen Kirchenzeitung“ zu erstellen, die Püschmann am Ende seiner Lehrzeit eigenverantwortlich setzen darf (III, S. 845), wird ebenso deutlich, wie was es an ungeheurer Arbeit bedeutet, wenn der erste Abzug des Blattes mit Beanstandungen des Zensors zurückkommt, die aufwendige Korrekturen oder gar einen Neusatz erfordern. Nichts begeistert den Lehrling mehr als die Forderung nach Abschaffung der Zensur, gemeinsam mit anderen zieht er durch die Stadt, „fast unausgesetzt Verse unsres Preßfreiheitsliedes singend“ (I, S. 79). Auch auf seinen Wanderungen notiert er Vorkommnisse seines Gewerbes, beispielsweise, dass der Redakteur der Dresdner radikalen Zeitung von gedungenen Soldaten misshandelt worden sei: „man munkelt, vielleicht deshalb, weil er die fürstliche Vermählungsanzeige unter Familiennachrichten eingereiht!“ (II, S. 395f.)

Außergewöhnlich, aber auch bei den mit ihm wandernden Handwerkern durchaus üblich, erscheinen die kulturellen Interessen, denen Püschmann auf seinen Wanderungen nachgeht, kaum eine Woche ohne Theaterbesuche, überall sucht er die bedeutenden Bauwerke und Museen auf. Eine führende Stellung gewinnt er im „Deutschen Arbeiter-, Gesang- und Leseverein“. In verschiedensten Städten nimmt er Stellungen an, zunächst in Rostock, später in Hamburg und Dresden, wo er berufliche Kontakte zu Richard Wagner hat, der mit ihm den Satz seiner Werke detailliert bespricht (III, S. 846f.). Ab 1850 hält er sich drei Jahre in der Schweiz auf, was den Eltern wegen der dortigen politischen Verhältnisse Sorge macht. „Mich macht die Schweiz nicht zum Revolutionär“, beruhigt er sie, „Im Gegenteil, ich lerne einsehen, daß Republiken auch ihre Mängel haben und daß eine wohlwollende Monarchie in der Sache des Fortschritts vielleicht oft mehr wirken könne, wenn sie nur von tatkräftigen Männern unterstützt wird.“ (III, S. 847)

Bei allen Veränderungen, die von Aufklärung und Volksaufklärung bewirkt wurden, bleibt doch vieles auch beim Alten und weiterhin so, wie es im Bildungswesen noch bis in die 1950er-Jahre bleiben sollte. Wer arm ist, hat nur ausnahmsweise Aussicht auf institutionelle höhere Bildung und auf Verlassen seines Standes. Gerne wäre Püschmann Pfarrer geworden, die einzige halbwegs realistische mit höherer Bildung verbundene Berufsperspektive für Angehörige der unteren Stände, da es hier noch am ehesten Stipendien gab. „Das wurde ihm gleich ausgeredet“, berichtet die Tochter in einer kleinen, dem Tagebuch beigegebenen Biographie ihres Vaters (III, S. 844). Doch da es in der Familie eines Schulmeisters, in die Püschmann geboren wurde, bei einem kärglichen Jahresgehalt von 120 Talern völlig aussichtslos ist, die für ein Studium nötigen Mittel aufzubringen, und zudem auch die Mutter nicht wünscht, dass ihr Sohn wie der Vater das Hungerdasein eines Lehrers erleidet, stellt die Schriftsetzerlehre, die der noch nicht Vierzehnjährige in Grimma beginnt, einen halbwegs verlockenden Ausweg dar (III, S. 843f.).

Am Ende des Tagebuchs steht dann noch die Ausbildung zum Lehrer, die Püschmann recht detailliert beschreibt. Seine Schilderungen und seine Urteile lassen deutlich werden, wie die angehenden Volksschullehrer zu Vermittlern frommen Untertanengeistes erzogen wurden. Wo während der Wanderungen als Handwerker Theateraufführungen und Konzerte im Mittelpunkt standen, beschränken sich nun die Abwechslungen im Alltag fast ausschließlich auf Besuche von Gottesdiensten und anderen religiösen Veranstaltungen. Typisch sind im Deutschunterricht Themenstellungen wie die folgenden: „1. ‚Der Lehrer ein Beter‘, 2. ‚Das Vaterunser des Lehrers‘, 3. ‚Das Wort des Herrn: Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen, angewendet auf den Lehrer.‘“ (II, S. 775) Ebenfalls beispielhaft: „Aus dem Gelesenen wurden dann die Hauptgedanken in Form einer Disposition (die schönen Eigenschaften des Königs Salomo) ausgezogen. Daran schloß sich dann ein Vergleich zwischen Salomo und seiner Zeit und unserem König und unserer Zeit“ (II, S. 779).

Die Anhänge in dritten Band zeigen Püschmann als tüchtigen Zeichner, eine Biographie der Tochter macht mit dem weiteren Leben des Tagebuchschreibers vertraut, mehr als 200 Seiten umfassende Register der im Tagebuch genannten Autoren, Periodika und der geographischen Erwähnungen erschließen das Tagebuch.

Es mag deutlich geworden sein, wie verdienstvoll die Edition ist und welch reichen Stoff sie für die Alltags- und Bildungsgeschichte bietet. Ungern nur bringt man so Kritik an der insgesamt wenig systematischen Kommentierung an. Während der Wanderungen wird der Leser einige hundert Male auf „‚C.F. Jahn’s Illustrirtes Reisebuch‘ (Ein Führer durch Deutschland, die Schweiz, Italien, nach Amsterdam, Paris, London, Brüssel, Kopenhagen, Stockholm, Warschau)“ und die dort vorhandenen Orts- und Landschaftsbeschreibungen verwiesen – jedes Mal in der hier zitierten Länge. Bei Theateraufführungen, Opern, Liedern und literarischen Texten, erhält der Leser ohne erkennbares System mal Erklärungen, mal nicht. Die fromme Phase des Tagebuchschreibers, in der zumeist genau benannte Bibelstellen eine große Rolle spielen, wird durch das Zitat der erwähnten Bibeltexte in den Kommentaren in erheblicher Breite dokumentiert, obwohl hier jeder Interessierte selbst nachschlagen könnte. Wenn aber lediglich andeutungsweise auf Bibelstellen hingewiesen ist – beispielsweise von der Speisung der 5000 gesprochen wird (II, S. 755, 759f.) –, dann lässt der Kommentator den Leser erklärungslos allein. An anderen Stellen wiederum heißt es ohne Zitierung des Textes einfach: „Siehe Kapitel 26 und 27 des Evangeliums S. Matthäi. In: Das neue Testament unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi. Abgedruckt nach der Hallischen Ausgabe“ (II, S. 770). Eine Fleißarbeit stellen fraglos die zahllosen Biographien insbesondere von Schulmeistern dar, aber oft gilt doch, dass breit mitgeteilt wird, was der Leser ohnehin schon weiß – etwa den allgemein bekannten Liedtext von „O Du fröhliche“ (II, S. 750) –, er aber allein gelassen wird, wo tatsächlich die Kommentierung von Erklärungsbedürftigem nützlich wäre.

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