Review-Symposium "Westforschung": Beitrag Th. Etzemüller

Cover
Titel
Griff nach dem Westen. Die 'Westforschung' der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919–1960)


Herausgeber
Dietz, Burkhard; Gabel, Helmut; Tiedau, Ulrich
Reihe
Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 6
Erschienen
Münster 2003: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
1260 S.; 2 Bände
Preis
€ 74,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Etzemüller, SFB 437 "Kriegserfahrung", Universität Tübingen

Seit einigen Jahren untersuchen Historiker das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. Lange hat es gedauert, bis sie auch den Anteil der eigenen Profession daran intensiv zu beleuchten bereit waren, doch besonders am Beispiel der „Ostforschung“ ist deutlich geworden, dass neben Volkskundlern, Geografen, Statistikern oder Soziologen auch die Geschichtswissenschaft aktiv in die unmenschliche Ostraumpolitik des „Dritten Reiches“ involviert war. Seit kurzem ist der Westen an der Reihe. Nachdem die ersten Schneisen geschlagen sind, tragen nun 41 Autoren mit 43 Aufsätzen in einem voluminösen Sammelband von 1.300 Seiten dazu bei, einen Überblick über die facettenreiche Geschichte der „Westforschung“ zu geben. „Nordwesteuropa“ meint unter Ausschluss Skandinaviens das niederländische, belgische und luxemburgische Segment der Westforschung; eine Folgepublikation soll sich mit der Schweiz, Frankreich, dem Saarland und Lothringen beschäftigen. Zwei Ziele liegen dem Projekt zu Grunde. Zum einen soll die Frage geklärt werden, „ab wann sich Wissenschaftler, zumal Geistes- und Kulturwissenschaftler, unverrückbar und bis zur letzten Konsequenz in den Dienst der nationalsozialistischen Politik stellten und sich somit der intellektuellen Vorbereitung der Verfolgungs-, Vertreibungs- und Vernichtungspolitik schuldig machten“ (S. XV). Zum andern soll die Forschung in die Lage versetzt werden, die „Konstrukte und Mythen aus völkischer Zeit zu identifizieren, ihr nationalistisches Gedankengut zu entlarven und die Hintergründe ihrer Überlieferung aufzuzeigen“ (S. XVI).

Die einzelnen Beiträge machen in hohem Maße deutlich, wie eng das Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Politik ausfiel. Sei es die Tausendjahrfeier im Rheinland 1925, sei es das Flandernproblem, seien es die Versuche, historische Argumente für die Zugehörigkeit der Niederlande zum Großdeutschen Reich zu finden, seien es Archäologie, Volkskunde, Sprachforschung oder Volkstumspolitik, immer wieder diente die Wissenschaft dazu – und diente sich dazu an –, politische Ziele wissenschaftlich zu legitimieren. Der Band breitet ein Panorama von Institutionen und Einzelpersonen aus, die in der Zwischenkriegszeit und im Nationalsozialismus auf unterschiedliche Weise großdeutsche Hegemoniegelüste bedienten; Vereinzelt werden Linien in die Bundesrepublik gezogen. Differenziert wird dieses Bild dadurch, dass auch die flämische oder niederländische Kollaboration in den Blick genommen wird, aber auch Wissenschaftler und Institutionen, die sich dem politisierenden Zugriff (teilweise) verweigerten, oder deren politische Projekte rundweg misslangen (etwa kirchengeschichtlich interessierte Historiker des rheinischen Raumes, deren Versuch, die protestantische Religionsgeschichte der Niederlande für die völkische Legitimierung der NS-Politik zu nutzen, an inhaltlichen Problemen wie ideologisch-politischen Verwerfungen scheiterte). Die kulturwissenschaftliche Untermauerung der NS-Volkstumspolitik war dabei nicht nur auf forschungspolitische Großorganisationen und Universitäten beschränkt, sondern wurde auch auf lokaler Ebene durch kleinere Projekte und populärwissenschaftlich ausgerichtete Forscher vorangetrieben.

So wertvoll und unerlässlich derartige Forschung ist, so hinterlässt sie doch einen zwiespältigen Eindruck bei mir. Zum einen nimmt die Detailforschung schon leicht absurde Züge an, etwa wenn in einem Beitrag auf 17 Seiten die vier einzig erschienenen Nummern der Zeitschrift „Westland“ referiert werden, oder wenn einige Beiträge empirisch in die Tiefe gehen, um dann mit dem Fazit zu schließen, dass die untersuchte Institution oder Person keine große Relevanz für die NS-Politik gehabt habe. Zum andern verfahren die Autoren rein positivistisch, geradezu aseptisch frei von neueren theoretischen Ansätzen. Es geht ausschließlich darum, Material zu präsentieren, das eine Einschätzung erlaubt, inwieweit Wissenschaftler oder Institutionen die nationalsozialistische Politik gestützt oder sich ihr entzogen haben. Diese Bewertungen haben zumeist durchaus keinen denunziatorischen Charakter, doch sie laufen alle mehr oder weniger auf eine imaginäre Anklageschrift (oder die Forderung auf Freispruch) vor dem Gericht der Geschichte hinaus. Das kann sich dann so lesen: „Zusammenfassend kann im Rückbezug auf die Eingangs gestellten Fragen wohl eine Beteiligung von Soziologen an der Debatte um die Westgrenze als historisierende Legitimationsbeschaffer für die erwartete Annexion Lothringens und sogar Burgunds beobachtet werden, ohne dass aber die vermutete Einflußnahme der sogenannten ‚deutschen Soziologie‘ durch ihre prominentesten Vertreter Hans Freyer und Gunther Ipsen etwa auf Franz Steinbach und Franz Petri nachgewiesen werden konnte. […] Auch eine maßgebliche Beteiligung an der interdisziplinären Westforschung der NS-Großforschungsprojekte konnte – im Gegensatz zur Ostforschung – hinsichtlich einer empirisch fundierten angewandten Sozialforschung ebenfalls nicht ausgemacht werden“ (S. 444). Die Zeit vor 1933 und nach 1945 wird meist nur in Form einer Vor- und Nachgeschichte in den Blick genommen: Wie fand die Wissenschaft Anschluss an den Nationalsozialismus und ließ sich vereinnahmen, wie fand der Übergang in die Bundesrepublik statt und wurde diese Vereinnahmung vertuscht?

Über das Problem, dass man den Nationalsozialismus einerseits zu analysieren gezwungen ist – was durch eine vergleichende Einbettung in den transnationalen Kontext zugleich „Relativierung“ seiner Einmaligkeit bedeutet –, angesichts der ungeheuerlichen Verbrechen andererseits gar nicht anders kann, als ihn moralisch zu verurteilen, reflektiert nur Joachim Lerchenmüller (S. 1112). Aber genau diese Frage sollte allmählich geklärt werden: Geht es um Anklage beweisbarer Tatbestände oder um Analyse verborgener Mechanismen, die es ermöglicht haben, dass „historisches Denken zu Phantasien“ mutieren konnte, „die eine Revision der Geschichte für planbar und machbar erachteten“ (S. XXIX)? Dieses Ziel formulieren auch die Herausgeber in ihrer Einleitung, der Band löst es aber nicht ein. Und kommt es über die so sichtbar entgleisten Phantasien hinaus nicht auf die „ganz normale Wissenschaft“ an, die sich selbst als unpolitisch verstand – und auch heute so gesehen wird –, weil mit der klassischen ideologiekritischen Methodik keine ideologische Begrifflichkeit aufzuspüren ist? Konnte nicht diese „objektive“ Wissenschaft, ganz ohne spektakuläre Projekte, ohne instrumentalisiert zu werden, ohne die Geschichte großartig revidieren zu wollen, ebenso effektiv dazu dienen, die Politik des „Dritten Reiches“ zu legitimieren, indem sie beispielsweise immer wieder das Prinzip „Kampf der Nationen“ als „Realität“ aus den Quellen herauslas? Zeitigt so eine „normale“ Wissenschaft nicht auf lange Sicht ungleich gefährlichere Effekte als grandios (und furchtbar) scheiternde Allmachtsphantasien? Für die Autoren heißt „Politisierung“ ausschließlich Instrumentalisierung der Wissenschaft, keiner bemüht sich um eine narratologische Analyse, um verborgene Werthaltigkeiten jenseits deutlicher Begriffe und Projekte aufzuspüren. Über die Zäsuren hinwegbestehende geistige, soziale und habituelle Dispositionen, die Denken und Handeln erst formatieren, kommen nicht in den Blick, ebensowenig der transnationale Kontext damaliger gesellschaftlicher Ordnungsentwürfe. Auf diese Weise ist der „deutsche Sonderweg“ immer schon bewiesen, kann aber nicht erklärt werden. Genau deshalb wäre der Vergleich mit der dänischen „Südforschung“ (Schleswig) oder der polnischen Westforschung interessant gewesen: Wie normal waren damals im europäischen Kontext eigentlich nationalistisch aufgeladene Forschungen in alle Himmelsrichtungen, und wie legitim erschienen sie genau dadurch, so dass sie überhaupt erst ihre Effekte entwickeln konnten, statt sofort als Ideologie verworfen zu werden?

Der Band liefert für die zukünftige Forschung eine materialreiche Grundlage zur Geschichte der Westforschung, aber er zeigt gleichzeitig mit aller Deutlichkeit, dass eine analytische Konzeption, die diese Westforschung in die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts einbindet und aus dieser heraus erklärt, noch fehlt. Zusammenfassungen auf Französisch sowie ein Personen-, Orts- und Institutionenregister schließen das Werk ab.

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