B. Strath: Europe's Utopias of Peace

Cover
Titel
Europe's Utopias of Peace. 1815, 1919, 1951


Autor(en)
Strath, Bo
Reihe
Europe's Legacy in the Modern World
Erschienen
London 2016: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XII, 537 S.
Preis
€ 39,08
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Unter welchen Bedingungen lässt sich nach zwischenstaatlichen Konflikten wieder zu friedlichen und erträglichen Verhältnissen übergehen? Bo Stråth diskutiert diese geradezu zeitlose Frage anhand von drei bekannten Anläufen der europäischen Nationen aus den letzten zwei Jahrhunderten, nach einem umfassenden Krieg wieder zu einem neuen Miteinander zu finden: Wien (1815), Versailles (1919) und Paris (1951). Bereits diese Auswahl zeigt an, dass es weniger um Friedensabkommen im engeren Sinne geht als um die Momente großer Ordnungsentscheidungen, die Stråths in Anlehnung an Martti Koskenniemi1 vor allem als utopisches Wagnis versteht, trotz erlebter Schrecken überhaupt einen stabilen Frieden begründen und normativ sichern zu wollen. In sieben großen Kapiteln werden allgemeine Entwicklungslinien ausgezogen, die rasch über gängige Darstellungen machtpolitischer Staatsinteressen und diplomatische Ranküne hinausweisen und nicht nur die Entstehungsbedingungen, sondern auch Krise und Verfall der jeweiligen „Friedensutopie“ vergleichend behandeln. Das Panorama ist also weitgespannt, auch wenn die Frage nach dem Verhältnis von Nationalismus und Demokratie einerseits, das Problem der politischen Ökonomie und der sozialen Gerechtigkeit andererseits als strukturierende Leitgedanken dienen.

Den Anfang macht der Wiener Kongress, der die Idee einer normativen, vertragsförmigen und ausbalancierten Regulation der Staatenbeziehungen auf eine neue Stufe gehoben habe (S. 89). Eine solche Einschätzung wirkt zwar nicht ganz frei von anachronistischen Zügen, da es sich immer noch um ein Arrangement individueller Souveräne handelte. Aber dass die Vorstellungen von Friedrich von Gentz, der hier als Architekt der Wiener Schlussakte weit in den Vordergrund gerückt wird, in diese Richtung gingen, wird von Stråth ebenso plausibel hergeleitet wie die herausgehobene Stellung, welche Großbritannien dabei als Referenzpunkt und Modellfall einnahm (S. 30, 87). Und auch unabhängig von den förmlichen Festlegungen der Großmächte sei in Wien das Konzept einer liberalen, freihändlerischen Wirtschaftsordnung allgemein akzeptiert worden, was nicht nur die Lehren eines Adam Smith international sanktioniert, sondern zugleich den Interessen der Londoner Regierung entsprochen habe.

Gleichwohl wendet sich die Darstellung gegen die etwa von Paul Schroeder prominent verfochtene These, dass der Wiener Kongress ein systemisches Arrangement großer Flexibilität geschaffen habe (S. 57). Das Gegenteil sei der Fall gewesen, wie in den beiden nachfolgenden Kapiteln erst zum inneren Verfall, dann zum äußeren Niedergang der Wiener Utopie aufgezeigt wird. Einerseits hätten der aufsteigende Nationalismus, ein aggressiver Protektionismus und die Zunahme sozialer Verwerfungen den Glauben an ein offenes und zugleich stabiles Verhältnis unter den Staaten rasch ausgehöhlt. Andererseits sei das 19. Jahrhundert in außenpolitischer Hinsicht alles andere als ein Zeitalter der Kooperation und Sekurität gewesen. Seit dem Krim-Krieg, vor allem aber seit den 1870er- Jahren und angesichts des imperialistischen Ausgreifens in die Welt wären Unruhe und Unbeständigkeit zwischen den europäischen Staaten dramatisch angewachsen. Wohl habe es mit der bürgerlichen Friedensbewegung und der sich neu formierenden Völkerrechtslehre wichtige zivilgesellschaftliche Gegenkräfte gegeben. Doch letztlich hätten alle Regierungen statt auf demokratische Partizipation von unten eher auf eine nationale Integration von oben gesetzt, was erst die fatale Ereigniskette nach den Schüssen von Sarajewo im Sommer 1914 ermöglicht habe. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Stråth zufolge weniger das Ergebnis einer „schlafwandelnden“ Diplomatie oder ein Resultat tagespolitischer Fehlentscheidungen, sondern die Konsequenz langfristiger Spannungen und falscher Handlungszwänge (S. 237).

Nach dem Ersten Weltkrieg sollten die Fehler des gescheiterten Wiener Systems durch einen neuartigen Friedensschluss revidiert werden. Das zentrale Anliegen der Versailler Utopie habe in einer Verwirklichung von Demokratie und Selbstbestimmung bestanden, so Stråth, aber auch in dem Versuch einer Bändigung der ungezügelten Staatensouveränität durch einen Völkerbund. Der Fokus richtet sich hier vor allem auf den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, der in nicht ganz überzeugender Weise zum Hauptkonstrukteur des Friedens gemacht wird. Allerdings steht ohnehin die abstrakte Ideenwelt des Friedensschlusses im Vordergrund, weniger das eigentliche Verhandlungsgeschehen in Paris oder die konkreten Regelungen der Friedensverträge. Es ist bedauerlich, dass sich die Darstellung nahezu ausschließlich auf den Versailler Frieden mit Deutschland beschränkt und die Abkommen mit den anderen Verlierernationen allenfalls kursorisch erwähnt; erst in einem Gesamtbild hätten sich allgemeine Prinzipien und die Besonderheiten des deutschen Falls gegeneinander abwiegen lassen.

Wenn Versailles als die Antithese Wiens angelegt war, so galt dies jedenfalls nicht für eine liberale Wirtschaftsordnung. Die fortwirkenden Glaubenslehren des Freihandels hätten es jedoch unmöglich gemacht, so die These, die angefeindete Friedensordnung von 1919 überhaupt in konstruktiver Weise weiterzuentwickeln. Zwar erscheint Stråths Behauptung, dass die „soziale Frage“ in der Versailler Friedensutopie keine Rolle gespielt habe (S. 309), mit Blick auf die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation als nicht ganz zwingend. Die Schilderung der destruktiven Sogwirkung der Weltwirtschaftskrise ist jedoch überzeugend, ebenso der Hinweis auf die suggestive Kraft von radikalisiertem Nationalismus und Antiliberalismus, von Führerkult und Massenmobilisierung in Deutschland, aber auch darüber hinaus. Spätestens in der zweiten Hälfte der 1930er- Jahre sei der Nachkrieg damit wieder zum Vorkrieg umgeschlagen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verzichteten die Siegermächte darauf, den Verlierern nochmals ein ähnlich umfangreiches Vertragsregime wie 1919/20 aufzuerlegen, sondern setzten rasch auf Verfahren der langfristigen Demokratisierung, vor allem aber der politischen und wirtschaftlichen Integration. Stråth richtet den Blick auf die Pläne zum Zusammenschluss der deutschen und französischen Montanindustrie und auf die daraus erwachsene Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die hier als Pariser Friedensutopie von 1951 firmiert. In dieser Hochphase des Kalten Kriegs sei es zunächst um einen bewaffneten Frieden für Westeuropa gegangen, um suprastaatliche Institutionen und wirtschaftliche Kooperation zwischen den einstigen Kriegsgegnern, so dass es nicht überrascht, wenn nun der französische Diplomat und Unternehmer Jean Monnet als Gentz seiner Zeit auftritt (S. 352).

Die näheren Umstände und das weitere Schicksal der ursprünglichen Europäischen Gemeinschaft interessieren Stråth gleichwohl weniger, als man vermuten könnte. Die Darstellung schreitet durch die 1970er- und 1980er-Jahre rasch über die Zäsur von 1989/90 hinweg, wobei nun der Siegeszug eines entfesselten Neoliberalismus in den Mittelpunkt gestellt wird. Schon der Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992 sei von einer einseitigen Marktorientierung bestimmt gewesen, und diese Richtungsentscheidung sieht Stråth noch in den Reaktionen der EU auf die griechische Staatsschuldenkrise ab 2014 widergespiegelt. Vor allem auf Betreiben der Bundesrepublik und namentlich Angela Merkels würde seither eine bedenkenlose Austeritätspolitik forciert, die trotz aller damit verbundenen Probleme – genannt werden etwa Massenarbeitslosigkeit, soziale Marginalisierung, Fremdenhass – immerzu als „alternativlos“ dargestellt werde (S. 401f., 413f.). Das europäische Friedensprojekt sei zu einer technokratischen Vollstreckungsinstanz der Märkte mutiert, welche sich nur durch eine neue Utopie der sozialen Gerechtigkeit, des Friedens und des Fortschritts überwinden lasse.

Welche Bilanz lässt sich ziehen? Das Buch beeindruckt durch eine stupende Belesenheit, einen souveränen Überblick über den Forschungsstand und engagierte Stellungnahmen. Auf seine Leserinnen und Lesern nimmt Bo Stråth trotzdem wenig Rücksicht. Es ist nicht immer leicht, hinter der vornehmlich ideen- und begriffshistorisch unterlegten Thesenführung des Autors ein zugängliches Narrativ zu entdecken. Die wenigen handelnden Akteure – durchweg „große Männer“ im klassischen Sinn des Wortes – gewinnen selten ein lebendiges Profil. Es dominiert die Kompilation einer erklecklichen Forschungsliteratur, nicht die Freude an der historischen Erzählung oder an der Anschaulichkeit einzelner Quellenfunde; archivalische Materialien wurden überhaupt nicht herangezogen. Bedauerlich ist auch das lieblose Lektorat des Verlages, der sich wenig um eine ansprechende Gestaltung bemüht hat und überdies mit einem Index aufwartet, dem nur bedingt zu trauen ist: Nicht nur sind die sachbezogenen Einträge oft unspezifisch, sondern bei den Personen wurde offenbar nicht jede Erwähnung aufgenommen. Für den vielfach angeführten Gentz verzeichnet der Index etwa S. 163 fälschlich als letzte Nennung; ähnliches gilt für Kant, der häufiger auftritt als der einzelne Eintrag nahelegt, oder auch Hegel, der im Index gar nicht vorkommt.

Doch auch inhaltlich kann Stråths Anliegen, eine synthetisierende Neudeutung der europäischen Suche nach dem Frieden vorzulegen, nicht durchgängig überzeugen. Zu altbacken fallen viele Bewertungen aus, und zu begrenzt ist letztlich der Blickradius der Untersuchung. Die drei Friedensutopien werden meist auf die programmatische Intention der Akteure reduziert und aus den jeweiligen politischen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnissen abgeleitet, was die Kontingenz des historischen Geschehens beträchtlich unterschätzen dürfte. Auch dass die europäischen Staatenverhältnisse nahezu vollständig von ihren globalen Bezügen isoliert werden, erscheint zu kurz gegriffen, war doch die außereuropäische Welt für die Selbsterfindung Europas seit jeher konstitutiv; nicht einmal die so wesentliche Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert spielt eine Rolle. Schließlich irritiert, dass die Untersuchung zum Ende hin immer kurzatmiger wird. Vor allem die Darstellung der Jahrzehnte nach 1945 wirkt sprunghaft und kursorisch, und rasch macht sich der Sog einer tagespolitischen Empörtheit bemerkbar, die ernsthaft gefühlt sein mag, aber nur einen bescheidenen historischen Erkenntnisertrag liefert. Sicherlich ist die Sorge nachvollziehbar, dass wir, wie es Bo Stråth pessimistisch andeutet, in der Endphase der dritten Friedensutopie Europas leben. Aber Historikern steht ihre angestammte Rolle als rückwärtsgewandte Propheten doch besser als der Versuch, den Geschichtsverlauf als visionäre Prognostiker über die Gegenwart in die Zukunft zu verlängern.

Anmerkung:
1 Martti Koskenniemi, From Apology to Utopia. The Structure of International Legal Argument, Neuaufl., Cambridge 2005 (1. Aufl. 1989).