P. Warnking: Der römische Seehandel in seiner Blütezeit

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Titel
Der römische Seehandel in seiner Blütezeit. Rahmenbedingungen, Seerouten, Wirtschaftlichkeit


Autor(en)
Warnking, Pascal
Reihe
Pharos 36
Erschienen
Rahden (Westfalen) 2015: Verlag Marie Leidorf
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
€ 45,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Günther, Institute for the History of Ancient Civilizations, Northeast Normal University, Changchun, People’s Republic of China

Die Antike als das „nächste Fremde“ in Anlehnung an den Altphilologen Uvo Hölscher zu titulieren, gehört heutzutage zum guten Rechtfertigungston der klassischen Altertumswissenschaften und verlangt weder nach tiefschürfender Begründung noch nach konzeptioneller Modellbildung. Dass für Hölscher mit dieser Phrase aber auch das Postulat verbunden war, „daß uns das Eigene dort [also in der Antike] in einer anderen Möglichkeit […] begegnet“1, wird nun weitaus weniger rezipiert oder gar als Basis für eigene Forschungsarbeiten angesehen. Insofern ist es bemerkenswert, dass die Studie zum römischen Seehandel von Pascal Warnking, die als Dissertation an der Universität Trier im Jahre 2015 angenommen wurde, genau diesen Kernsatz Hölschers in der oben gegebenen, verkürzten2 Form an den Endpunkt seiner Einleitung (S. 11–38), gipfelnd in der Frage nach der Zukunft der Erforschung der antiken Wirtschaft, stellt. Nachdem er sich nämlich mit seinem interdisziplinären Vorgehen zur Beantwortung der Frage nach dem Vorhandensein von Wirtschaftlichkeitsdenken im Seehandel eindeutig gegen alle althergebrachten ideologischen Debatten, in denen sich Primitivismus und Modernismus oder Substantivismus und Formalismus gegenüberstehen, positioniert sowie die Nuancen in der Methodologie zwischen Cambridge- und Oxford-Schule unter dem Dach der Neuen Institutionenökonomie (NIÖ) herausgestellt hat, bleibt als analytische Grundannahme für seine folgende umfassende Quellenschau und Vorgehensweise diese anthropologische Konstante bestehen, hier in Verengung auf zeiten- und gesellschaftsübergreifendes ökonomisches Agieren von Händlern. Darauf fußend analysiert Warnking im ersten Abschnitt zu den Rahmenbedingungen die zur Verfügung stehenden Quellen zum antiken Seehandel in pragmatisch-realienorientierter Weise (S. 39–173), bevor er zu den beiden Kernpunkten und Innovationen seines Ansatzes, der Berechnung der Seerouten (S. 174–284) sowie der Frage nach der Wirtschaftlichkeit des Seehandels anhand von simulierten Gewinn- und Verlustrechnungen, vorstößt (S. 285–380).

Theoretische Grundlage für die Beschreibung der Rahmenbedingungen bietet Warnking dabei die Neue Institutionenökonomie, nach der Akteure ihre wirtschaftlichen Entscheidungen innerhalb konkreter wie abstrakter institutioneller frames treffen. Somit agieren sie zwar als homines oeconomici in der Regel rational, werden allerdings dabei durch die vorhandenen „Institutionen“ wie politisch-rechtliche, technische, aber auch ethisch-moralische Grundbedingungen eines jeweiligen Gesellschaftssystems gelenkt. Warnking bietet hier einen gut strukturierten und für jeden an der antiken Wirtschaft Interessierten unverzichtbaren Überblick, indem er die mittlerweile zahllosen Untersuchungen zu Politik, Volkswirtschaft, Recht, Klima, Geographie, Infrastruktur, aber auch Technologie hinsichtlich des Seehandels zusammenführt und unter Heranziehung der wesentlichen Quellenzeugnisse (neben den üblichen Quellengattungen auch Schiffswrackfunde und Erkenntnisse aus der Unterwasserarchäologie) auswertet. Wichtig sind für ihn ob der späteren tiefergehenden Analyse dabei besonders die rechtlichen Rahmenbedingungen – vor allem der Unterschied zwischen normalen Darlehen (mutuum) und Seedarlehen (pecunia nautica), die eine unterschiedliche Risikoallokation und damit auch verschiedene Finanzmöglichkeiten für ein Handelsunternehmen aufwiesen –, sodann die Verfügbarkeit von unterschiedlichen Märkten, insbesondere deren Einkaufs- und Verkaufsstrukturen sowie schließlich die Entwicklungen im Bereich der Schiffsbautechnologie. Diese Faktoren hätten durch ihre steuerbare Variabilität wesentlichen Einfluss auf die Kostenstruktur einer Handelsunternehmung ausgeübt, während andere Faktoren wie etwa Steuern und Zölle sowie Anschaffungs-, Instandhaltungs- und Personalkosten kaum oder gar nicht zu beeinflussen gewesen seien. Überzeugend arbeitet der Autor dabei erstens heraus, dass die Kapitalversorgung für derlei Handelsaktivitäten, wenn auch nicht über Banken, sondern durch private Investoren, kein wesentliches Problem darstellte, zweitens für bestimmte Massengüter wie Getreide die Marge klein war und somit genau kalkuliert werden musste und daher drittens dem Faktor „Zeit“ in Form der Reisedauer eine wesentliche Bedeutung zukam.

Letzteren Faktor nimmt Warnking dann im zweiten Teil ausführlich in den Blick, indem er mithilfe der Software Expedition die 28 wichtigsten bezeugten Seerouten der römischen Zeit unter Einspeisung moderner, zur Antike nicht grundverschiedener Wetterdaten berechnet und mit antiken Angaben vergleicht. Obschon Segeln auch in den Wintermonaten möglich war, wie er eindrücklich und quellenbasiert darlegt, beschränkt sich Warnking auf den Normalfall, ein Sommerhalbjahr, sowie auf die Großrouten, da die küsten- wie inselnahen Routen (etwa in der Ägäis) mit zu vielen Unsicherheiten bei der Berechnung ob der wechselhaften Winde und Strömungen behaftet sind. Die rund 50.000 durchgeführten Berechnungen wertet er dabei nicht nur bezüglich der schnellsten Fahrtroute aus, sondern erweist deutlich, dass es Händler vor allem auf Planbarkeit und Sicherheit in diesem an und für sich unsicheren Geschäftsfeld ankam, daher eine eher konservativ berechnete Normaldauer einer Fahrt als Grundlage für die Kalkulation denn eine schnellstmögliche Verbindung herzuhalten hatte. Die mannigfachen und im Vergleich zu bislang vorgenommenen Simulationsrechnungen realistischeren Datensätze bringt er dabei immer wieder mit antiken Angaben zusammen und kann deren Wahrheitsgehalt, abstrahiert von gattungs- oder sozialspezifischen Darstellungsweisen, zumeist bestätigen. Beispielsweise erklären die vorherrschenden Winde und Widrigkeiten bei der Rückfahrt von Alexandria nach Ostia, wieso sich gerade in Lykien sowie Delos verschiedene, in der Programmsimulation „optimale“ Handelswege kreuzten, was umgekehrt eine ganz neue Perspektive auf die Entwicklung der Handelsstützpunkte, aber auch entsprechende dort aufgefundene, detaillierte Zollgesetze eröffnet. Ebenso wichtig ist seine Feststellung, dass die aufgelisteten Preise für bestimmte Routen im Höchstpreisedikt Diokletians keiner willkürlichen Festsetzung, sondern mit hoher Wahrscheinlichkeit einer inneren Logik, aufbauend auf Erfahrung und Datenerhebung seitens der zuständigen Organe, folgten und damit auch hier dem „Staat“ ein „wirtschaftliches“ Denken und Planen bescheinigt werden kann.

Mit dieser alles in allem überzeugenden, da stets die Vorbehaltlichkeit der Daten betonenden Detailanalyse vermag Warnking dann im dritten Teil, die in den beiden ersten Abschnitten gewonnenen Erkenntnisse als simulierte Gewinn- und Verlustrechnungen aufzubereiten. Richtigerweise differenziert er hier zwischen von Händlern beeinflussbaren und nicht beeinflussbaren Faktoren, wobei er für jegliche Kostenstelle die potentiellen Auswirkungen auf die Marge sowie mögliche Reaktionen der Handelstreibenden darauf beschreibt, die sich zum überwiegenden Teil auch in den weit verstreuten Quellen fassen lassen. Neben den wichtigsten Faktoren „Handelsgut“, „Beschaffungsmärkte“, „Ein- wie Verkaufspreis“ und „Zeit“ werden hier unter anderem auch die Schiffsgröße, die Transportcontainer sowie die Finanzierungsmöglichkeiten noch einmal ausführlich aufgegriffen und in Anschlag gebracht. Letztlich entwickelt Warnking daraus „Handlungsempfehlungen“ (vor allem S. 380), die ein optimales Planen für Händler zugelassen hätten, allerdings in dieser Reinform und Dichte nicht in den antiken Quellen bezeugt sind.

Dessen ist sich der Autor allerdings an jeder Stelle der Arbeit gewahr, und er betont stets die Fragilität ganz konkreter Berechnungen aufgrund der fragmentarischen und häufig schwierig zu interpretierenden Quellenlage. Gerade dies macht jedoch die Stärke der vorliegenden Untersuchung aus, deren Einzelteile auch über die umfangreichen Register zu Quellen, Personen, Orten und Sachen sowie Datenblätter erschlossen werden können. Denn Warnking zeigt in eindrucksvoller Manier auf, dass mit einer methodisch sauberen Vorgehensweise durchaus qualitative Fortschritte bei der Untersuchung des Seehandels zu erzielen sind, bei denen die konkreten Quantitäten im Detail zwar modifiziert werden können, die aber ein in sich geschlossenes, sinnvolles Analyseinstrument wie System ergeben. Abgesehen von einigen Schwächen in der sprachlichen Ausgestaltung und kleineren Fehlern in der Wiedergabe antiker Quellentexte ist diese Arbeit daher ein Muss für jeden an der Antiken Wirtschaft Interessierten.

Anmerkungen:
1 Uvo Hölscher, Selbstgespräch über den Humanismus, in: Uvo Hölscher, Das nächste Fremde. Von Texten der griechischen Frühzeit und ihrem Reflex in der Moderne, hrsg. v. Joachim Latacz und Manfred Kraus, München 1994, S. 278 (ebenso im Geleitwort).
2 Vollständig lautet das Zitat: „Rom und Griechenland sind uns das nächste Fremde, und das vorzüglich Bildende an Ihnen ist nicht sowohl ihre Klassizität und ‚Normalität‘, sondern daß uns das Eigene dort in einer anderen Möglichkeit, ja überhaupt im Stande der Möglichkeiten begegnet.“

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