Borgolte, Michael (Hrsg.): Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften. Band 1: Grundlagen. Berlin 2014 : de Gruyter, ISBN 978-3-05-006476-5 713 S. € 198,00

Borgolte, Michael (Hrsg.): Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften. Band 2: Das soziale System Stiftung. Berlin 2015 : de Gruyter, ISBN 978-3-11-041648-0 760 S. € 169,95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Hugener, Zürich

Angesichts einer immer kurzfristigeren Forschungsförderungspolitik, die rasche Erfolge verlangt und daher vor allem schnelllebige Modethemen begünstigt, lassen sich groß angelegte Überblickswerke kaum mehr realisieren – obwohl Forschende und Studierende aufgrund der zunehmenden Diversifizierung der Themenfelder dringend auf derartige grundlegende Hilfsmittel angewiesen wären. Umso verdienstvoller ist die von Michael Borgolte in die Wege geleitete Enzyklopädie des Stiftungswesens in mittelalterlichen Gesellschaften, deren ersten beiden Bände 2014 und 2015 erschienen sind und die 2017 mit einem dritten Band sowie einer Tagung in Berlin abgeschlossen werden soll. Allein schon die Tatsache, dass der ambitionierte Zeitplan bislang eingehalten und je ein Band pro Jahr publiziert werden konnte, verdient größten Respekt.

Nicht bloß wegen seines schieren Umfangs ist das Unterfangen als Monumentalwerk anzusprechen; auch das behandelte Thema, der zeitliche Rahmen sowie der abgedeckte geografische Raum könnten kaum umfassender konzipiert sein. Inhaltlich wird mit dem Stiftungswesen ein Thema aufgegriffen, das sich in den verschiedensten Lebensbereichen und Quellengattungen niedergeschlagen hat, sodass man zu Recht schon von einem „totalen sozialen Phänomen“1 gesprochen hat. In zeitlicher Hinsicht findet sich das gesamte Jahrtausend von etwa 500 bis 1500 abgedeckt. Am eindrücklichsten zeigt sich der umfassende Anspruch der Enzyklopädie jedoch daran, dass sie sich räumlich nicht auf das christliche Abendland beschränkt, sondern auch das griechisch-orthodoxe Christentum, das Judentum, den Islam sowie die multireligiöse Welt Indiens berücksichtigt.

Ermöglicht wird dieser vergleichende Blick durch ein wahrhaft interdisziplinäres Team, das sich aus dem Mediävisten Tillmann Lohse, dem Byzantinisten Zachary Chitwood, den Judaisten Patrick Koch und Emese Kozma, dem Islamwissenschaftler Ignacio Sánchez, der Indologin Annette Schmiedchen sowie der Theologin Susanne Ruf zusammensetzt. Dem homogen wirkenden Resultat ist anzumerken, dass sich die beteiligten Forschenden nicht nur in ihrem jeweiligen Fachgebiet hervorragend auskennen, sondern dass sie sich auch untereinander intensiv ausgetauscht haben, um gemeinsame Konzepte und Definitionen für die von ihnen untersuchten Phänomene zu erarbeiten. Für das Verständnis der teilweise ja doch sehr andersartigen Fachgebiete und der von ihnen behandelten Kulturräume ist dies jedenfalls sehr förderlich.

Behandelt werden im ersten Band nacheinander die mittelalterliche sowie die moderne Begrifflichkeit (I, S. 19–82), die jeweilige Forschungslage (I, S. 83–164), verschiedene Typologisierungs- (I, S. 165–248) und Periodisierungsversuche (I, S. 249–330), die Quellenbasis (I, S. 331–430) sowie in einem gesonderten Kapitel die Sachzeugnisse (I, S. 431–55), zu denen sich im Anhang rund 80 Farbabbildungen finden. Der zweite Band fokussiert demgegenüber stärker auf die Akteure und ihre Motive: Einleitend wird das Spannungsfeld von religiösen Hoffnungen und weltlichen Ambitionen umrissen (II, S. 15–85), anschließend idealtypisch unterschieden zwischen rituellem Gedenken und Kultus (II, S. 87–183) sowie Wohltätigkeit und Bildung (II, S. 185–280). Es folgen Ausführungen zu den Stiftungsgütern und ihren Erträgen (II, S. 281–354), zu den Stifterinnen und Stiftern (II, S. 355–438) sowie zu den Begünstigten (II, S. 439–581). Der sich noch in Arbeit befindliche dritte Band wird schließlich den Wechselwirkungen zwischen Stiftungen und Gesellschaft gewidmet sein.

Für Anschlussmöglichkeiten über den deutschsprachigen Raum hinaus sorgt eine englische Zusammenfassung zu jedem Kapitel. Dem enzyklopädischen Charakter trägt ein umfangreiches Literaturverzeichnis Rechnung. Was die Benutzung als Nachschlagewerk indessen erschwert, ist das Fehlen eines Registers. Einen gewissen Ersatz dafür bietet der Umstand, dass sich die Bücher als Volltext im Internet finden. Für die Rezeption ist dies sicher von Vorteil, zumal die Printausgabe relativ teuer ausgefallen ist.

Der intensive Austausch unter den Autoren widerspiegelt sich auch im Aufbau: Jedes Kapitel ist gleich strukturiert, was das Vergleichen erleichtert. Auf einen kurzen Überblick des Herausgebers folgen jeweils fünf Unterkapitel, in denen die aufgeworfenen Fragen zunächst für die lateinischen Christen, sodann für die Muslime, die Juden, die griechisch-orthodoxen Christen und zuletzt für die vielfältigen brahmanischen, hinduistischen, buddhistischen und jinistischen Religionen des indischen Subkontinents beantwortet werden. Leider fehlen weitere Stiftungskulturen, die sich für den Vergleich ebenfalls angeboten hätten – etwa jene Russlands oder Japans. Für China wird dieses Manko etwas gemildert, indem der Sinologe Volker Olles zum zweiten Band einen Beitrag über Stiftungen in den traditionellen chinesischen Religionen, dem Daoismus sowie dem sich aus Indien ausbreitenden Buddhismus, beigesteuert hat (II, S. 681–760).

Bieten die erwähnten Unterkapitel jeweils einen höchst fundierten Einblick in die verschiedenen Stiftungskulturen sowie ihre religiösen, rechtlichen und sozialen Hintergründe, sind die effektiv vergleichenden Passagen eher knapp ausgefallen, sodass es den Lesenden selber überlassen bleibt, Quervergleiche zu ziehen. Im Folgenden sollen daher einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede erwähnt werden, die dem Rezensenten bei der Lektüre aufgefallen sind. Diese Ausführungen müssen notwendigerweise verkürzt und damit holzschnittartig ausfallen – alles Weitere würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen.

Während Stiftungen für das Seelenheil im spätmittelalterlichen Christentum zum Massenphänomen wurden, scheinen entsprechende Maßnahmen andernorts eher subsidiär eingesetzt worden zu sein. Im Judentum beispielsweise gab es höchstens vereinzelt – und vermutlich unter Einfluss des christlichen Umfelds – das Verlangen nach individuellem liturgischen Gedenken (II, S. 392, 404); vielmehr herrschte bei jüdischen Gelehrten die Ansicht vor, dass es verdienstvoller sei, Gaben anonym zu tätigen (II, S. 20, 190). Aus diesem Grund existieren kaum Monumente zum Andenken an jüdische Stifter (II, S. 401, 404). In islamischen Regionen gab es zwar Gräber, aber keine Bilder oder Statuen von Stiftern (II, S. 388). Indische Stifter ließen Tempel oder Statuten von Gottheiten oder verehrten Lehrmeistern errichten, nicht aber von sich selber (II, S. 428 f.); Erdbestattungen waren in Indien ohnehin nicht verbreitet, sodass kein Gräberkult entstehen konnte.

Gewiss hängen solche Unterschiede mit den jeweiligen Gottesbildern und Jenseitsvorstellungen sowie den daraus abgeleiteten Geboten und Verboten zusammen: Wer an Himmel, Hölle und Fegefeuer sowie Verdammnis oder Erlösung glaubt, findet wohl Trost in der Vorstellung, dass andere für sein Seelenheil beten; beim Konzept von Karma hingegen ist jegliche Fürbitte zwecklos. Je nach Glaubensrichtung wurde denn auch das Andenken an Stifter und ihre Stiftungen sehr unterschiedlich gepflegt. Christliche Stifter ergriffen diverse Maßnahmen, damit man ihrer möglichst ewig gedachte. Unter Juden hingegen herrschte – vielleicht unter dem Eindruck der Diaspora – ein recht pragmatischer Umgang mit diesem Thema: Sobald sich niemand mehr an die Umstände einer Stiftung erinnerte, konnten die betreffenden Güter umgewidmet werden (II, S. 404). Im Islam gab es zwar ebenfalls jährliche Gedenkfeiern für Stifter (II, S. 111f.), doch scheinen sie keine so dominante Rolle wie im Christentum gespielt zu haben. Den indischen Religionen wiederum war ein langfristiges persönliches Gedenken eher fremd, waren diese doch gerade nicht auf ein ewiges Leben, sondern auf die Erlösung aus dem Kreislauf von Geburt und Tod ausgerichtet (II, S. 165–167).

Auch die vorherrschenden Zweckbestimmungen unterscheiden sich teilweise fundamental voneinander. Während christliche Stifter vor allem kirchliche Institutionen förderten, stifteten Muslime eher öffentliche Anlagen wie Bäder, Brunnen, Häfen, Herbergen, Märkte und Mühlen oder militärische Wehrbauten sowie Waffen und Kämpfer für den Dschihad (I, S. 187). Umgekehrt entstanden unter dem Islam auch recht eigennützige Familienstiftungen, die häufig dazu benutzt wurden, die Einnahmen aus öffentlichem Grund und Boden zu privatisieren (I, S. 41, 183–185, 192, 290; II, S. 381). Für Indien ist demgegenüber bezeichnend, dass Herrscher oft mehrere religiöse Kulte gleichzeitig förderten und damit eine gewisse Toleranz demonstrierten, sich zugleich aber auch nach allen Seiten absicherten (I, S. 241, 321). Im Judentum wiederum können Stiftungen faktisch mit dem Gemeindefonds gleichgesetzt werden (I, S. 119, 382 f.). In diesem Fall wurde Privatvermögen also quasi in Gemeinbesitz überführt, während christliche, islamische, indische und chinesische Stifter häufig darauf abzielten, Ressourcen vor konkurrierenden Ansprüchen zu schützen oder sie dem staatlichen Zugriff zu entziehen. Ließe sich nicht gerade darin eine Parallele zu vielen heutigen Stiftungen sehen?

Stiftungsempfänger waren nicht immer nur Institutionen wie Klöster und Tempel, sondern auch einzelne Individuen wie Brahmanen in Indien (I, S. 238; II, S. 169), namentlich benannte Arme in jüdischen Gemeinden (I, S. 382) oder dschihadistische Krieger im Islam (I, S. 190). Neben Gütern und Geld wurden Objekte oder Naturalien gestiftet, mitunter auch Rechte und Privilegien oder überhaupt nur die Erlaubnis, ein Kloster, eine Universität, ein Spital oder eine andere Institution zu begründen. Bei Muslimen und Juden gab es sogar befristete und widerrufliche Stiftungen, was dem Versuch, diese über ihre dauerhafte Gültigkeit zu definieren, entgegensteht. Auch bei der einmaligen Übergabe von Objekten wie Büchern, Bildern, Gegenständen oder Nutztieren erscheint die definitorische Abgrenzung zwischen Schenkung und Stiftung problematisch.

Überhaupt wird in keiner der untersuchten Kulturen so eindeutig zwischen Stiften und Schenken unterschieden, wie es die Definition in der Einleitung vorsieht (I, S. 19). Selbstverständlich handelt es sich dabei nur um einen heuristischen Systematisierungsversuch; es bleibt jedoch fraglich, ob sich die mittelalterlichen Vorstellungswelten der verschiedenen Kulturräume mit der Orientierung an modernen, westlichen Kategorien adäquat erfassen lassen. Neben Ähnlichkeiten treten jedenfalls auch markante Differenzen zwischen den untersuchten Stiftungskulturen zum Vorschein, die sich einer einheitlichen Definition widersetzen und die Frage provozieren, inwiefern all die hier beschriebenen Formen von Transaktionen überhaupt vergleichbar sind. Oder anders gefragt: Wird die Stiftung als universales, kulturübergreifendes Phänomen hier nicht vielmehr vorausgesetzt als bewiesen?

Dieser Hinweis auf ein Dilemma, das sich bei einem derart groß angelegten Untersuchungsfeld fast zwangsläufig ergibt, soll den Wert der geleisteten Arbeit keinesfalls schmälern, sondern ganz im Gegenteil aufzeigen, wie sehr die Lektüre dazu anregt, den hier erprobten Ansatz eines interkulturellen Vergleichs konsequent weiterzuverfolgen. Zweifellos darf die Enzyklopädie bereits jetzt als Standardwerk gelten, das nicht nur für die Stiftungsforschung enorm gewinnbringend ist, sondern überhaupt als mustergültiges Modell für eine komparatistische Kulturwissenschaft dienen kann. Wer die vergleichende Stiftungsgeschichte in diesem Sinn liest, erhält Aufschluss über zahlreiche Berührungspunkte und Andersartigkeiten zwischen den behandelten Kulturen, die auch den Blick auf das eigene, enge Fachgebiet erweitern und relativieren. Bleibt zu hoffen, dass der europäische Forschungsrat, der das Projekt finanziert hat, auch weiterhin die Mittel bereitstellt, um derart grundlegende Kenntnisse zu erarbeiten.

Anmerkung:
1 Vgl. hierzu unter Verweis auf Marcel Mauss: Michael Borgolte, "Totale Geschichte" des Mittelalters? Das Beispiel der Stiftungen. Antrittsvorlesung 2. Juni 1992, Berlin 1992; Neudruck in: ders.: Stiftung und Memoria, Berlin 2012, S. 41–59.

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