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Titel
Schweiz am Meer. Pläne für den "Central-Hafen" Europas inklusive Alpenüberquerung mit Schiffen im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Teuscher, Andreas
Erschienen
Zürich 2014: Limmat Verlag
Anzahl Seiten
152 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Romed Aschwanden, Departement Geschichte, Universität Basel

Nachdem diskursanalytische Ansätze sich in der Schweizer Geschichte bestens etabliert haben1, scheinen sie nun auch im Sachbuchmarkt angekommen zu sein: Andreas Teuscher belegt mit seinem Buch „Schweizer am Meer“ eindrücklich, wie diskurstheoretisch orientierte Forschung einen flüssigen und attraktiven Text unterfüttern kann. Es gelingt ihm, die Foucaultschen Ansätze und die Suche nach den Möglichkeiten des Sag- und Denkbaren umzusetzen und in einen eloquenten Text zu gießen. Dass er dies anhand der historischen Betrachtung eines gescheiterten Projekts tut, nämlich der Binnenschifffahrtspläne in der Schweiz, ist umso löblicher. Er bricht damit die Tendenz der Technikgeschichte, sich auf erfolgreich umgesetzte Projekte zu fixieren, und beschreibt Aspekte einer alternativen Geschichte der Verkehrspolitik in der Schweiz des 20. Jahrhunderts.

Teuscher führt über die Person Rudolf Gelpkes (1873–1940) ins Thema ein, einem Ingenieur und Basler Schifffahrtspionier aus dem Umfeld des Polytechnikums in Zürich. Dort gediehen am Topographielehrstuhl Fridolin Beckers (1854–1922) die Ideen und Pläne für die Schiffbarmachung der Schweizer Gewässer. Teuscher schildert, wie die Topoi der Schweiz als Mutter der Flüsse und jener der Alpen als Transitachse in die Argumentation und Visionen der Kanalplaner einflossen. Expliziert werden diese Ideen anhand der Projekte des italienisch-schweizerischen Ingenieurs Petro Caminada, der als Kanalbauer in Südamerika Ruhm erlangt hatte und ein ausgeklügeltes Kanalsystem für die Alpenüberquerung ausarbeitete. Die technische Machbarkeit von Kanälen und der geringe Energieaufwand von Transportschiffen machten die Binnenschifffahrt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur valablen Alternative zur Eisenbahn. Caminada erhielt dementsprechend prominente Unterstützung und erregte internationales Aufsehen.

Im Folgenden schildert Teuscher am Beispiel Zürichs, wie die großen, national gedachten Pläne auch Niederschlag in der Stadtplanung fanden. Die Industriestadt Zürich wollte keinesfalls von der großen Entwicklung umschifft werden: Insbesondere in den 1930er-Jahren blühten die Ideen eines Hafens für Meerschiffe in Zürich auf, was sich auch in einer eigenwilligen Hochsee-Ästhetik in Fotomontagen manifestierte. Eingebettet waren diese Ideen, wie das folgende Kapitel darlegt, in eine Technikgläubigkeit, die sich im Zuge der neueren Baumethoden des frühen 20. Jahrhunderts verbreitete und so bisher kaum denkbare Infrastrukturprojekte in den Bereich des Möglichen rückte. Über die Schifffahrt wollte man die Rohstoffbeschaffung verbilligen, um den Schwerindustriesektor der Schweiz auszubauen. Die Schifffahrt trat jedoch mit dem Wasserkraftwerkbau in Konkurrenz: Schleusen, für die Schiffbarkeit der Gewässer unabdingbar, waren kostspielige Zusatzbauten für Kraftwerkbetreiber und konnten nur unter gesetzlichen Auflagen erzwungen werden.

Welche innenpolitischen Dimensionen die Binnenschifffahrt für die Schweiz hatte, schildert Teuscher anhand der Diskussionen über den Transhelvetischen Kanal während des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Vor diesem Hintergrund nahm die Idee eines Kanals zur West-Ost-Verbindung die Rolle eines Gegenmittels für die kulturelle Spaltung der Schweiz (die Teuscher anachronistisch als „Röstigraben“ bezeichnet) ein und wurde zu einem Element der Geistigen Landesverteidigung. Teuscher problematisiert auch die politisch brisante Zusammenarbeit von deutschen und schweizerischen Ingenieuren für die Planung des gemeinsamen Ausbaus der Rheinschifffahrt und die Zielsetzung eines West-Anschlusses des Genfersees an die Rhone während der Zeit des Zweiten Weltkriegs – beides kam nicht über den Status der Idee hinaus.

Das letzte Drittel des Buchs bildet einen langen Abgesang auf das Projekt der Kanalschifffahrt in der Schweiz. Hier beschreibt Teuscher die Planer, Politiker und Idealisten, die mit ihren stetigen Vorstößen auf wenig Resonanz stießen und deren Pläne an mangelnder Machbarkeit oder am Widerstand von Natur- und Heimatschützern scheiterten, jedoch bis heute in Form der Association suisse pour la navigation intérieure fortbestehen. Im letzten Kapitel wird noch einmal diskutiert, weshalb die Idee, die ausführbereiten Pläne und die Visionen der Kanalschifffahrer nie zur Umsetzung kamen, und weshalb sie sich doch hartnäckig hielten. Für ersteres diagnostiziert Teuscher vor allem fehlenden politischen Willen im In- und Ausland sowie den Siegeszug des Automobils. Für letzteres stellt er ein Konglomerat verschiedener Topoi fest: Heimatliebe und Sendungsbewusstsein, aber auch eine gewisse Freiheitsliebe und Sehnsucht nach „dem freien Meer“ (wie Bundesrat Felix Calonder zitiert wird, S. 137) hätten die Idee der Binnenschifffahrt am Leben erhalten.

Teuscher gelingt es, mit einem diskurstheoretischen Ansatz ein weitgehend unbekanntes Thema zu fassen und einen spannenden sowie unterhaltsamen Einblick in die europäische und helvetische Verkehrspolitik des 20. Jahrhunderts zu geben. An ein breites Publikum gerichtet ist das Buch attraktiv gestaltet, ausgezeichnet bebildert und liest sich flüssig. Im Text finden sich gute, wenn auch knappe Literatur- und Quellenhinweise in praktischen Randnoten. Zahlreiche, treffend gewählte zeitgenössische Grafiken und Karten vermitteln einen umfassenden Eindruck der Materie.

Die Thematik macht deutlich, wie die Konzepte von technischer Innovation einem steten Wandel unterliegen und Infrastrukturausbau in der historischen Rückschau nicht als zielgerichteter Prozess verstanden werden darf – ein Aspekt, dem Teuscher leider wenig Kontur verleiht. Es gelingt ihm, verschiedene Themenfelder zu vereinen und zu kontextualisieren, so etwa am Beispiel des Widerstands gegen das Kraftwerk Rheinau, an dem er die ambivalente Verwendung von Natur- und Heimatschutzargumenten in der Rhetorik der regionalen und wirtschaftlichen Interessenvertreter aufzeigt. Allerdings offenbaren sich hier gewisse methodische Schwächen, etwa wenn Teuscher kaum zwischen politischer Rhetorik und diskursiv strukturierten Denkmustern differenziert: Teuscher scheint die symbolischen Zuschreibungen der Kraftwerkgegner, die vom Stillstand des Rheins auf eine zukünftig mangelhafte Tugendhaftigkeit der Jugend schließen, als direkten Ausdruck einer Denkweise zu behandeln und zieht die Möglichkeit einer rhetorischen Zuspitzung durch die Akteure nicht in Betracht. So treten die Schwierigkeiten der historischen Diskursanalyse zutage, die eine tiefergreifendere Diskussion des Vorgehens wünschenswert erscheinen lassen.

Generell folgt die Darstellung Teuschers einem Duktus, welcher der Historisierung des Projekts der Wasserstraßen nicht gerecht wird. In Anbetracht der Absurdität des Unterfangens aus heutiger Perspektive, wertet Teuscher die Vision der Binnenschifffahrt als Träumerei ab. Etwas abschätzig von „Caminadas Hyper-Alpenkanal“ zu sprechen (S. 33) scheint historisch nicht gerechtfertigt. Zwar versucht Teuscher oft, die zeitgenössische Plausibilität des Projekts darzustellen, unterstreicht aber dadurch dessen scheinbar abstrusen Charakter. Diese Schlagseite der Darstellung resultiert wohl auch aus der fixen Konzentration auf einen schweizerischen Wasserstraßendiskurs, der zu wenig mit Querverweisen zu allgemeinen Verkehrs- und Infrastrukturdiskursen arbeitet, wodurch der Transhelvetische Kanal als schrullige idée fixe der Schweizerinnen und Schweizer erscheint. Dass er aber als ernstzunehmende europäisch getragene Idee eines vereinenden europäischen Verkehrsnetzes verstanden werden kann, tritt kaum zutage. Die Konkurrenzsituation der verschiedenen Verkehrsmittel in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Kapazitätsgrenzen der Eisenbahn und der nicht vorhersehbare Erfolg des Automobils, der die Binnenschifffahrt zu Fall brachte, werden zu wenig verdeutlicht.

Diese Kritikpunkte mindern den Wert des gleichsam informativen wie unterhaltsamen Buches kaum. Die Untersuchung des gescheiterten Verkehrsprojekts zeigt deutlich, dass Eisenbahn und Straße nicht jederzeit konkurrenzlos waren und dass Werte wie Nachhaltigkeit und Naturnähe durchaus einem kulturellen Wandel unterliegen. Außerdem zeigt das Buch einmal mehr, welche Bedeutung Verkehr für die Geschichte der Schweiz hat (und ihm zugeschrieben wird) und liefert ganz nebenbei einen historischen Beitrag zur hochaktuellen Thematik des alpinen Transitverkehrs.

Anmerkung:
1 Patrick Kury, Diskursgeschichte: vom Rand ins Zentrum, in: Traverse 19,1 (2012), S. 71–84.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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